aus Kradblatt 5/20 von Marcus Lacroix
Kein Chopper, kein Bagger, kein Sportster
und doch eine echte Harley-Davidson!
Der aufmerksame Kradblatt-Leser bzw. Follower unserer Kanäle auf Facebook und Instagram weiß, ich (Marcus) bin ein großer Fan von E-Motorrädern. Und das nicht, weil ich ein Linksgrünversiffterteddybärenwerfendergretajünger bin, wie manch einer zumindest online mutmaßt, sondern weil ich einfach sehr viel Spaß an der E-Technik und am E-Fahren habe. Dem entsprechend fieberte ich diesem Fahrbericht ganz besonders entgegen: die Harley-Davidson LiveWire.
Ich höre fast, wie Hardcore-Harley-Fans jetzt leise ins Kissen heulen oder sich mit Kumpel Jack in Klausur begeben. AUSGERECHNET HARLEY-DAVIDSON! Der Inbegriff der Motor-Kultur (böse Zungen ersetzten es durch „der ewig Gestrigen“) baut ein Elektromotorrad, der Untergang des Abendlandes ist endgültig da! So tönt es vielfach aus Fan-Kreisen und auch manch ein Harley-Verkäufer tut sich außerordentlich schwer mit dem E-Thema.
Liebe Leute, seht es doch mal anders. Zum einen müsst ihr keine LiveWire kaufen, zum anderen müsst ihr euch auch nicht zwischen Verbrenner- oder E-Motor entscheiden. Beides macht Spaß! Soll Harley mit seiner überalterten Kundschaft in Schönheit sterben? Spätestens mit 70 kauft ihr euren letzten neuen V2 und der jüngeren Generation gehen die Route 66 oder Easy Rider (kennen die meisten gar nicht mehr) schon heute ziemlich am Popo vorbei. Feiert lieber eure „Company“ dafür, dass sie sich als Großserienhersteller traut, ein radikal anderes Bike auf die Räder zu stellen.
Das, was ich persönlich von Techno-Firmen wie BMW oder Honda erwartet hätte, bringt ausgerechnet Harley-Davidson! RESPEKT! So, genug der Vorrede, euch interessieren (hoffentlich) meine Eindrücke der Harley-Davidson LiveWire.
Als einigermaßen erfahrener E-Motorrad-Fahrer wusste ich natürlich was mich erwartete, als ich die LiveWire bei Börjes American Bikes in Augustfehn in Empfang nahm. Knappe 70 Kilometer standen im 4,3” TFT-Display, nicht mal eine Akkuladung verfahren und eigentlich auch noch nicht für den externen Gebrauch gedacht. Es passte zeitlich aber nicht anders …
„Fahr erst mal nur im Rain-Mode …“ riet Axel, „… die schiebt heftig an“. Ok, eine Runde im Rain-Mode, einem von vier vorkonfigurierten Modi (Eco, Rain, Straße, Sport) ums Gebäude – reicht. EV (=elektrische Vehikel) Neulinge sollten der Weisung aber besser folgen und sich langsam herantasten. Wer sonst nicht gerade mit Supersportlern oder Drehmoment-Monstern unterwegs ist, wird sonst u. U. etwas überfordert sein. Ich schaltete in den Sport-Modus und rollte vom Hof.
Die ersten Kilometer tastete ich mich natürlich vorsichtig an die mit 33.500 Euro heftig teure Maschine heran. Große Klappe und dann einen Vorführer schrotten, das wäre echt peinlich. Aber die LiveWire passte mir auf Anhieb. Die relativ tiefe, leicht sportlich nach vorne geneigte Sitzposition und der verhältnismäßig enge Kniewinkel machten direkt klar: diese Harley ist nicht nur vom Motor her ganz anders, als alle anderen Harleys. Sie ist wirklich fahraktiv. Man kann gemütlich mit ihr durch die Landschaft bummeln – und das fast lautlos, herrlich – ihr aber auch ordentlich die Sporen geben. Das Fahrwerk ist handlich aber nicht nervös, liegt angenehm stabil in Kurvenradien aller Art und gibt sich selbst bei Höchstgeschwindigkeit keine Blöße. Die Vmax wird bei 184 km/h auf dem Tacho abgeriegelt. Das ist heutzutage nicht die Welt, reicht auf einem Naked-Bike aber allemal. Das Revier der LiveWire ist eh die Landstraße, lange Autobahnbolzerei mag ein Akku nicht.
Die Federelemente der LiveWire sind vorne und hinten voll einstellbar (Vorspannung, Druck- und Zugstufe). Erstaunlich gut fällt der Windschutz aus, obwohl die kleine Lampenmaske nicht danach aussieht. Die Sitzbank ist straff aber gut gepolstert, längere Ausfahrten also kein Problem.
Längere Ausfahrten? Nach dem Preis ist das meist die zweite Frage: „Wie ist denn die Reichweite.“ Eine Frage, die beim Verbrenner kaum jemals gestellt wird aber ok, kenne ich schon. Die LiveWire hat mich dabei wirklich positiv überrascht. Der Lithium-Ionen-Akku hat lt. Harley-Davidson eine Gesamtkapazität von 15,5 kWh. Im normalen Landstraßeneinsatz (sagen wir mal STVO +10 %) und selbst bei den weniger Akku-freundlichen Temperaturen Anfang März von meist unter 10 Grad Celsius, lag ich bei mindestens 140 Kilometern Reichweite. Erfahrungsgemäß steigt die Leistungsfähigkeit, wenn der Akku erst mal „eingefahren“ ist, d. h. mehrere Ladezyklen hinter sich hat sowie bei steigenden Temperaturen. Und auch die Topografie macht sich bemerkbar. In hügeligen Regionen holt man, dank der Rekuperation (Energierückgewinnung im Schiebebetrieb, der Motor arbeitet dann quasi als Dynamo), mehr heraus als bei uns im Flachland, wo volle Rekuperation immerhin oft den Griff zur Bremse ersetzt (tadellose Brembos übrigens). Für mich und sicher auch für viele andere Freizeitpiloten geht die Reichweite in Ordnung.
Bei längeren Touren braucht man dann zwingend eine CCS-Ladestation – einen Schnelllader, der den Akku mit Gleichspannung speist. Diese Säulen sprießen derzeit erfreulicher Weise allerorten aus dem Boden. Nicht nur Mc Donalds und Burger King springen auf den E-Zug zur Kundenbindung und Imageverbesserung auf, auch Lidl, ATU, Autohersteller und weitere Firmen installieren Ladesäulen.
Lt. Harley lädt die LiveWire an CCS in 40 Minuten auf 80 %. Die letzten 20 Prozent dauern im Verhältnis immer etwas länger, da die Zellen ausbalanciert werden. Rechnerisch landen wir also bei eher konservativen 18,6 kW Ladeleistung. Im Alltag kann man damit leben – speziell wenn man keine langen Strecken abreißt sondern Landstraßen-Tagestouren um die 500 km fährt und dabei auch mal einkehrt. Energica hat über ein Softwareupdate die Leistung aber auf 25 kW angehoben, was die Standzeiten spürbar reduziert. Ich denke, Harley wird da nachziehen.
Auch beim AC-Lader besteht Verbesserungspotential. Maximal 1,4 kW schafft der eingebaute Gleichrichter mit Flüssig- aber ohne Gebläsekühlung. Das ist kein Problem, wenn man die Maschine über Nacht zuhause oder im Hotel lädt. Unterwegs ist das Laden an Typ2-Säulen hingegen indiskutabel langsam. Energica bringt es an AC auf ebenfalls arg schlappe 3 kW, Zero mit dem optionalen Charge-Tank auf respektable und alltagstaugliche 12 kW.
An Harley-Davidson als Premium-Hersteller sind meine persönlichen Ansprüche recht hoch – gerade in dieser Preisklasse. Da hätte die Company in einige Details ruhig etwas mehr Liebe stecken können. Zero, ebenfalls aus den USA, übrigens auch; das mit der Liebe haben die Italiener deutlich besser drauf! Ernsthaft indiskutabel ist der hintere Schmutzfänger der LiveWire. Mal abgesehen von der Optik: welcher Designerdepp hat da ein Loch reingeschnitten, durch das einem bei Regen der Dreck von hinten voll ins Kreuz fliegt? Das Ding hätte so schön als echter Schmutzfänger funktionieren können. Aber Harleys bleiben wohl eh nie lange original, da wird es sicherlich schickere Lösungen geben …
Richtig punkten kann die LiveWire hingegen mit ihrem Motor! Optisch ist der längs eingebaute, ölgekühlte Antrieb super integriert. Über ein leises Kegelradgetriebe wird die Kraft auf einen wartungsarmen Zahnriemen übertragen, der das Hinterrad antreibt. Technisch bietet er genau das, was mir am elektrischen Motorradfahren so Freude macht: leisen, aber nicht völlig lautlosen, kraftvollen und vor allem nahtlosen Vortrieb. Wer die LiveWire auf Messen auf einem Rollenstand gehört und sich geschüttelt hat: vergesst es, das hat mit der Fahrpraxis sehr wenig zu tun. Lediglich das leise Pulsieren des Motors im Stand würde ich mir vom Harley-Dealer über die Software abschalten lassen.
Auf dem Papier sind die Leistungsdaten dabei eher unspektakulär: 105 PS und 116 Nm? Kann das was taugen? Ja, es kann! Leistung und Drehmoment stehen quasi aus dem Stand zur Verfügung. Lädt man die LiveWire voll durch (die kurventaugliche Traktionskontrolle arbeitet tadellos), hat man diesen kurzen Moment, in dem man sich nicht sicher ist ob das eigene Herz gerade rast oder ob es stehen geblieben ist. Das Gehirn folgt dem Vorwärtsdrang aufgrund der Massenträgheit nicht sofort, ditscht innen an die Schädelrückwand und denkt nur „Wooooaaahuuuhhh!!!“. Das Ganze ohne zu schalten, ohne Vibrationen, ohne Lärm – für mich persönlich pure Emotion, pure Freude. Probiert es selbst einmal aus!
Bei den Fahrmodi habe ich mir zwei eigene gemixt: A) Gasannahme, Beschleunigung, Rekuperation auf Maximum, Traktionskontrolle auf Minimum. Das rockt! B) Rekuperation auf Null, da rollt man beim Gaswegnehmen quasi wie beim Auskuppeln. Arme ausstrecken ist dann „wie wennste fliegst“ …
Sehr gut gefällt mir das TFT-Display der LiveWire mit seinen vielfältigen Konfigurationsmöglichkeiten. Informationen können nach persönlichem Geschmack ein- und ausgeblendet werden. Nicht alles ist konsequent auf Touch-Funktion ausgelegt, man findet sich aber nach kurzer Eingewöhnung gut zurecht. Erweitert wird der Funktionsumfang mit der Anbindung ans Smartphone (iOS und Android) und über den H-D Connect Service. Der ist im ersten Jahr kostenfrei, danach wird eine Gebühr fällig. Die Maschine funktioniert aber natürlich auch ohne den Dienst einwandfrei.
Pluspunkte fährt auch die Michelin-Bereifung „Scorcher Sport“ ein. Standardmaße 120/80-17 vorne, 180/55-17 hinten, eigenes Harley-Branding und auch bei kühlen Temperaturen sowie nasser Straße erstaunlich viel Grip. Zielgenau, spurstabil, handlich – passt gut zur LiveWire.
Ein Kurven-ABS erhöht die Sicherheit, ich habe es aber lediglich auf der Geraden getestet (jaja, trotz VKV mit „nur“ 1000 € Selbstbeteiligung …) Mir hat es gereicht, dass mir die Traktionskontrolle in einer der nassen Kurven beim harten Rausbeschleunigen den Hintern gerettet hat.
Sehr angenehm ist der serienmäßige Tempomat, der sich mit dem linken Daumen einfach bedienen lässt.
Harley-Davidson hat mit der LiveWire ein wirklich tolles Motorrad auf die Räder gestellt – die erste Harley, die ich mir auch privat kaufen würde. Sie ist mit nichts anderem im Haus H-D vergleichbar und das ist auch gut so. Die LiveWire tritt gegen Zero SR/F und Energica EsseEsse9 an und mir wurde auch direkt die Frage gestellt, welche denn nun die Beste ist. Tja, schwierige Frage und wie so oft nur mit einem „kommt drauf an“ zu beantworten. Jedes Modell hat seine Vor- und Nachteile. Wenn ich mir eine mixen dürfte, wäre es die Harley mit modifiziertem Heck, mit dem 21,5 kWh Akku und der DC-Ladetechnik der Energica Plus-Modelle und dem AC-Chargetank der Zero. Und preislich müsste für mich eine 2 vorne stehen, auch wenn Harley auf das Motorrad 2+2 Jahre und auf den Akku fette 5 Jahre Garantie gibt.
Wie auch immer, wer sich ein E-Motorrad in dieser Klasse kauft, der WILL ein solches Motorrad haben. Das kauft man sich nicht aus rationalen Gründen. Und die Harley-Davidson LiveWire wird am Bikertreff ein sehr exklusives Motorrad bleiben – auch im Serienzustand.
Probefahrten kann man bei den Harley-Davidson Vertragshändlern buchen. Ich bin gespannt, wann sich andere Hersteller endlich an das E-Thema trauen und freue mich auf mehr Vielfalt …
—
Kommentare