aus Kradblatt-Ausgabe 6/24, von Marcus Lacroix
Cooler cruisen …
Die geneigten Kradblatt-Leserinnen und -Leser werden sich erinnern: im Frühjahr 2022 durfte ich die Royal Enfield Classic 350 für euch probefahren, war schockverliebt und hab mir daraufhin gleich eine gekauft. Ein Jahr später folgte der Fahrbericht über die 650er Super Meteor. Beide Artikel findet ihr auch im Online-Archiv, alte Ausgaben könnt ihr dort auch als pdf-Datei herunterladen.
Jetzt ist wieder ein Jahr vergangen und Royal Enfield hat die im Herbst 2023 vorgestellte Shotgun 650 an die Vertragshändler ausgeliefert. Ist die Shotgun die goldene Mitte aus cooler Optik und zeitgemäßen Fahrleistungen? Ich war sehr neugierig, ob die Neue als Ersatz für meine Classic taugt. Die 650er Super Meteor hat mir zwar auch viel Spaß gemacht, der „Habenwollen-Funke“ sprang da aber nicht über.
Die Shotgun 650 hat mich direkt bei der Präsentation angemacht. Ein cooler Einzelsitz (dazu gleich mehr), ein luft-/ölgekühlter Motor, den man heutzutage kaum noch irgendwo findet, klassische Linie, mehr Bobber als Chopper aber auch das nicht wirklich, dazu fehlt stylemäßig ein fetter Vorderradreifen. Außer einem zeitgemäßen und gesetzlich vorgeschriebenen ABS gibt es keine nennenswerten Gimmicks, sieht man mal von dem „Tripper“ ab. Das Ganze für attraktive 7.590 € bis 7.790 €, je nach Farbwahl, inkl. drei Jahren Garantie. Muss meine 350er gehen?
Siggi von Royal Enfield Bad Zwischenahn (Tel. 04403-1575, www.royalenfield-badzwischenahn.de) kannte meine Neugier und gab mir direkt Bescheid, als er seinen Vorführer zugelassen hatte. Zwei Tage stand mir die Shotgun zur Verfügung und die nutzte ich intensiv.
Die Optik – wie schon gesagt – finde ich einfach Klasse. An der Verarbeitung und der Haptik gibt es nichts zu meckern. Lackierung und Beschichtung machen einen wertigen Eindruck, alles fühlt sich solide an. Das kommt auch nicht von ungefähr, denn ALLES, was nach Metall oder lackiertem Metall aussieht, ist auch aus Metall. Kunststoffblenden muss man quasi suchen. Das wirkt sich, was sicher niemanden wundert, aufs Gewicht aus. Fahrbereit und zu 90 % betankt wiegt die Shotgun stramme 240 kg (428 kg zul. Gesamtgewicht). Dank tiefem Schwerpunkt stört das Gewicht auch beim Rangieren nicht sonderlich und sorgt beim Fahren für eine gewisse Souveränität.
Ein paar Kilogramm spart man ein, wenn man den Soziusplatz demontiert. Hier haben die Enfield-Ingenieure ein richtig gutes Händchen bewiesen. Viele Shotgun-Käufer werden ihr Bike individualisieren, was Royal Enfield auch ausdrücklich erwartet: „Inspired by custom for custom“ lautet der Shotgun-Slogan. Das Entfernen des Soziussitzes bringt im ersten Schritt eine Gepäckbrücke zum Vorschein. Sehr praktisch, denn zu zweit werden die wenigsten auf der Shotgun verreisen. Noch cooler ist aber die Option, auch die Gepäckbrücke zu entfernen, um das schöne Schutzblech freizulegen. Die Brücke wird von vier Schrauben gehalten. Löst man den Fahrersitz und eine Kunststoffabdeckung, ist sie ratzfatz entfernt. Das Ganze dauert maximal 15 Minuten. Tipp von Siggi: legt einen Lappen aufs Schutzblech, um Kratzer bei der De-/Montage zu vermeiden. Als nächste Customizing-Maßnahme kann man übrigens den Austausch der Spiegel einplanen. Die „Insektenfühler“ bieten eine mittelmäßige Rücksicht und sehen echt uncool aus. Royal Enfield plant das wohl ein und hat direkt ein paar Customparts im Sortiment.
Nun kaufen sich die wenigsten von uns ein Motorrad nur zum Schrauben und Customizen, fahren ist angesagt.
Die Sitzposition passt zur Optik: klassisch aufrecht, ohne sportlich abgewinkelte oder choppermäßig ausgestreckte Beine. Das fühlt sich schon mal gut an. Der Fahrersitz ist straff gepolstert, bei einer Sitzhöhe von 795 mm reichen meine Beine bei 174 cm Körperhöhe ganz locker an den Boden. Das schafft auch bei kleineren Fahrern viel Vertrauen. Mit mäßigem Kraftaufwand lässt sich die Maschine vom Seitenständer in die Senkrechte drücken bzw. vom Hauptständer „schubsen“. Etwas Übung ist bei der Ständerbetätigung vonnöten: Will man den Seitenständer einklappen, ist die Fußraste im Weg. Wenn man die Hacke in den Ständer „einklinkt“, geht es aber ganz einfach. Beim Aufbocken auf den Hauptständer vermisst man bei demontierter Gepäckbrücke einen Haltegriff. Hier schnappt man sich einfach den stabilen Soziusrastenausleger, dann lässt sich die Shotgun ganz leicht auf den Mittelständer wuppen.
Über den kombinierten Notaus-Startknopf erwacht der 648 ccm Paralleltwin, dank Einspitzanlage, bei jeder Temperatur unkompliziert zum Leben. Das Choke-Gefummel bei Vergasern habe ich noch nie vermisst. Motor und Einspritzung sind akustisch präsent, das Brummeln aus dem Auspuff ist angenehm und leise. Ganze 86 dB (A) Standgeräusch weist der Fahrzeugschein aus.
Das Getriebe schaltet sich knackig mit kurzen Schaltwegen, die Kupplung lässt sich recht einfach bedienen, Kupplungs- und Handbremshebel sind ab Werk einstellbar.
Lässig setzt sich die Fuhre mit niedrigen Drehzahlen in Bewegung. Wer gefühlvoll am Gashahn dreht, kann locker im sechsten (und damit letzten) Gang bei 55 km/h nach Tacho durch Ortschaften rollen und muss beim Beschleunigen nicht runterschalten. Der Schub reicht zum Cruisen allemal. Braucht man mehr Bums – der bei 34,6 kW (47 PS) bei 7.250 U/min natürlich keinem Bigbike gleichkommt – schaltet man einfach ein bis zwei Gänge runter und stellt das Gas auf Anschlag. Der Twin ist kein Sportmotor, dreht aber erstaunlich locker nach oben raus und beschleunigt die schwere Maschine mehr als ausreichend für die Landstraße – nach Fahrzeugschein auf max. 159 km/h. Die dürften auch problemlos zu erreichen sein, ausprobiert habe ich es mit Rücksicht auf die neue Maschine und auf meine Bauchmuskeln allerdings nicht.
So cool die Sitzposition beim Cruisen auch ist, bei höheren Geschwindigkeiten fordert der Winddruck seinen Tribut. Da die Füße vor der Sitzfläche positioniert sind, kann man sich nicht nach hinten abstützen. Und weil der Lenker bekanntlich eine Lenk- und keine Festhaltestange ist, sollte man mit seinen Abs schon ordentlich flexen können – 120 km/h auf Langstrecke sind für mich da bereits grenzwertig. Im Gegensatz zu den kleinen 350ern ist die Shotgun aber voll BAB-tauglich – wenns denn mal sein muss.
Das Fahrwerk ist straff abgestimmt, was einer zügigen Fahrweise auf gut ausgebauten Straßen entgegen kommt. Außer der Federbasis (aka „Federvorspannung“) am Heck, die über mehrere Stufen geändert werden kann, sind keine Einstellmöglichkeiten vorhanden. Die Federbeine wurden in verschiedenen Berichten als (zu) hart beschrieben. Obwohl ich keine 70 kg netto auf die Waage bringe, empfand ich die Abstimmung aber auch auf echt schlechten Strecken als nicht so schlimm, wie erwartet. Lediglich bei kantigen Frostaufbrüchen gibts harte Schläge ins Kreuz, da beugt man sich besser etwas vor, um die abzufedern. Wem das Fahrwerk nicht passt, der greift – wie bei allen Motorrädern – ins Zubehör-Regal.
Was man trotz straffen Fahrwerks nicht vergessen sollte: die Shotgun ist mehr Cruiser als Naked Bike! Zwar lässt sie sich auf norddeutschen Landstraßen durchaus zügig ums Eck scheuchen, sticht man allerdings flott in eine Autobahnausfahrt oder in einen Kreisverkehr, setzen die „Angstnippel“ an den Fußrasten der Schräglage aber recht schnell Grenzen. Korrigiert man jetzt über die Hinterradbremse die Linie, folgt gleich die nächste Überraschung: die Zange beißt richtig heftig in die große 300 mm Scheibe! Man braucht einen sanften Bremsfuß – ansonsten stellt man schnell fest, dass ein normales ABS zwar auch in Schräglage regelt, es einen dabei aber ordentlich nach außen versetzt. Auf nasser Straße oder unvorbereitet ist das mit Vorsicht zu genießen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: die Shotgun bremst hinten richtig gut. Die 320er Einzelscheibe vorne lässt sich besser dosieren und reicht für die Fahrleistungen der 650er allemal aus.
Einen einwandfreien Eindruck hinterließ die serienmäßige Bereifung des indischen Herstellers CEAT (ehem. Pirelli). Handlich, Grip bis zu den Rasten und in den Größen 100/90-18 und 150/70-17 kein großer Kostenfaktor, wenn sie denn mal runter sind. Die CEAT-Reifen schlagen sich auch auf meiner Classic unerwartet gut.
Apropos Kosten: als Spritverbrauch ermittelte ich 3,72/3,95 und 4,29 Ltr/100 km. Das Werk gibt 4,55 Ltr/100km an, da muss man die Shotgun aber wohl ganz schön für schrubben. Bei 13,8 Litern Tankinhalt braucht der Hintern eher eine Pause, als die Maschine.
Kommen wir noch mal zu den eingangs erwähnten fehlenden Gimmicks: Es gibt keine Traktionskontrolle und auch keine Connectivity, kein Kurven-ABS und keine LED-Blinker. Aber es gibt den Tripper. Das kleine LED-Display ist eine Turn-by-Turn Navigation, die mit der Royal Enfield App zusammenarbeitet. Die Kopplung von Smartphone und Tripper ist schnell erledigt, das Kartenmaterial stammt von Google Maps. Anfangs hielt ich es für eine Spielerei, in Kombination mit einem Headset ist das TBT-Navi aber doch recht praktisch. Man spart sich eine Navi-Halterung und das Phone steckt gut geschützt in der Jackentasche. Strom liefert ggf. die USB-Steckdose, die etwas unpraktisch unter dem linken Seitendeckel sitzt. Dort findet man übrigens auch ein Bordwerkzeug, mit dem man notfalls auch mal die Räder ausbauen kann. Tacho und Tripper sind gut ablesbar, nur gelegentlich blenden die Kunststoffscheiben der Displays etwas. Einen Drehzahlmesser habe ich nie vermisst. Praktisch ist die LCD-Ganganzeige. Zwei Tageskilometer und die Gesamtkilometer lassen sich über den (I)nfo-Knopf an der linken Lenkerarmatur umschalten bzw. löschen. Was mir die Anzeige „Eco“ sagen will, habe ich bei meiner 350er nach fast 7.000 km noch nicht verstanden – Gleiches gilt für die Shotgun. Beim Erreichen einer fälligen Inspektion blinkt ein Schraubenschlüssel, dazu kommen noch Uhrzeit und Tankanzeige. Mehr Infotainment gibts nicht – danke, Enfield!
Bleibt für mich abschließend die Frage: Tausche ich meine 350er Classic gegen eine 650er Shotgun? Nein, ich bin noch nicht so weit. So gut mir die Optik der Royal Enfield Shotgun 650 auch gefällt, die 350er hat einfach diesen Knuddel-Faktor. Das wurde mir auf der Heimfahrt wieder bewusst. Trotz der Fahrleistung einer Wanderdüne besticht die Royal Enfield Classic 350 mich mit ihrem Charme. Die Shotgun 650 ist allerdings das rundum bessere Motorrad. Macht am besten selbst mal eine Probefahrt.
Norddeutsche Royal Enfield Vertragshändler findet ihr in den Anzeigen im KRADblatt und <hier> im Händlerverzeichnis unserer Unterstützer.
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