aus Kradblatt 5/22, von Marcus Lacroix
Das Blümchenpflückerkrad
Hamburg, 4. April, drei Grad, Regen, stürmischer Wind, die Frisur ist vom Helm platt. Norddeutscher Frühling halt. Vor mir steht eine mattschwarze 2022er Royal Enfield Classic 350, die uns Stefan Blank von Legendary Cycles Hamburg (www.legendary-cycles.de) für eine Woche zur Verfügung stellt.
Auf den Fahrbericht habe ich mich schon gefreut, als die Classic 350 im November 2021 auf der EICMA in Mailand vorgestellt wurde. Die Oldie-Optik spricht mich einfach an, zur Schrauberei an einem echten Oldtimer fehlen mir aber Zeit und Muße. Die Royal Enfield Classic 500 ist hierzulande aufgrund der Geräusch- und Abgasvorschriften nicht mehr neu zu bekommen. Nach 12-jähriger Bauzeit mit mehr als 3 Millionen Exemplaren, kamen die letzten 1000 Stück als „Tribute Black“ 2020 nach Europa.

Die Classic 350 basiert auf der Meteor 350, die 2021 im europäischen Markt eingeführt wurde. Der luft-/ölgekühlte 349 ccm Einzylindermotor leistet bei 6.100 U/min 20,2 PS. Das maximale Drehmoment von 27 Nm liegt bei 4.000 U/min an und die V-Max wird mit 114 km/h angegeben. Zahlen, bei denen man als verwöhnter Mitteleuropäer eigentlich nur müde lächelt. Nun sind wir aber auch nicht der Kernmarkt von Royal Enfield und freuen uns von daher, dass der hübsche Einzylinder überhaupt hierzulande importiert wird. Und was kümmern uns Zahlen? Aufs Gefühl kommt es an. Also: aufsitzen und los.
Über den kombinierten Notaus-Anlasserschalter startet der Motor prompt mit einem erstaunlich angenehmen Einzylinderblubbern. Nicht hart hämmernd sondern schön sanft. Laut Stefan hätten es manche Oldie-Fans zwar gerne lauter, mir reicht es aber allemal. Dazu kein Choke-Gefummel, die Einspritzung liefert das Gemisch auf den Punkt. Die Kupplung ist leichtgängig, der erste von fünf Gängen rastet kaum hörbar ein. Wo die Meteor eine Schaltwippe hat, muss die Classic mit einem konventionellen Schalthebel auskommen. Das Anfahren erfolgt bemerkenswert geschmeidig, kein Hacken, kein Rumpeln, kein Schlagen – die Ausgleichswelle sorgt für einen sanften Motorlauf und das relativ hohe Drehmoment bei niedriger Drehzahl dafür, dass ich bei knapp 60 km/h nach Tacho schon im fünften Gang gelandet bin. Die fahrbereiten 195 kg fühlen sich definitiv nach weniger an und mit dem tiefen Schwerpunkt, der aufrechten Sitzposition und den schmalen Reifen wuselt es sich relaxt durch den Verkehr. Cruisen in Hamburg-City – das macht trotz des Regens Spaß.

Geplant war die Rückfahrt zur Redaktion schön gemütlich über Land, das Wetter macht mir aber einen Strich durch die Rechnung. Knapp drei Landstraßen-Navi-Stunden durch Dauerregen und Sturm, das muss ich mir echt nicht geben. Also doch die BAB, die gehört ja auch zu einem Fahrbericht.

Jetzt erlebe ich erst mal, wofür die Royal Enfield Classic 350 AUF GAR KEINEN FALL gemacht ist: mal eben schnell von A nach B über die Autobahn. Starker Wind in den Harburger „Bergen“, aufrecht sitzend erreiche ich bergauf 90 km/h. Ab dem Buchholzer Dreieck dann Sturm von vorne – „als wennste stehst“, lache ich in mich hinein und hänge mich in die Gischt eines rumänischen Sattelzugs, der bemerkenswert konstant mit 95 km/h lückenspringend über die A1 pflügt. Schert er ein, muss ich mich ducken um wieder in den Windschatten zu gelangen. Die Classic schlägt sich tapfer, ich beiße die Zähne zusammen, Spaß ist etwas anderes. In Bremen hängt der Brummi dann im obligatorischen LKW-Stau und wir verabschieden uns winkend voneinander. Die Landstraße von Bremen nach Oldenburg ließ dann trotz Regens erahnen, wo Enfield und Fahrer sich wohlfühlen.
Leider besserte sich das Wetter auch in den folgenden Tagen kaum, aber immerhin ließ der Wind etwas nach und die Temperatur erreichte fast zweistellige Werte. Fotos zu knipsen gestaltete sich zunächst als schwierig, wobei die Classic in „Dark Stealth Black“ (inzwischen ordentlich eingeferkelt) eh nicht mein Favorit ist. Sieben Farben hat Enfield für die 350er in Europa am Start, 12 in Indien, darunter bildhübsche Varianten mit viel Chrom – Klassik pur. Und ich habe die für meinen Geschmack am wenigsten Fotogene davon erwischt. Meine Wahl wäre wohl auf „Chrome Bronze“ gefallen. Oder doch lieber „Halcyon Black“ in Schwarz, Rot, Gold?
Allen Modellen gemein sind die Speichenräder, die mit schmalen 100/90-19 und 120/80-18 Reifen des Herstellers CEAT bereift sind. CEAT? Nie gehört? Dabei bauen die Inder schon seit 1958 Reifen. Ab 1984 gehörte CEAT zu Pirelli und 2010 kaufte die Ceat Ltd. den Markennamen zurück. Seit 2013 dürfen die Inder ihre Reifen weltweit als CEAT produzieren und vermarkten. Fazit nach dem kurzen – ergoogelten – Exkurs: die Reifen funktionieren erstaunlich gut! Trotz der widrigen Umstände hatte ich keine unsicheren Momente. Auch auf kalter und nasser Straße greift das ABS beim Bremsen erst spät ein, Grip ist also da. Eine Traktionskontrolle vermisst man angesichts der geringen Leistung zu keinem Zeitpunkt. Ich könnte mir allerdings vorstellen, die Classic 350 etwas gröber zu bereifen, denn auch auf Feldwegen macht der Einzylinder mit seinen 170 mm Bodenfreiheit viel Spaß. Da könnten die Inder doch noch einen Scrambler nachschieben, das bietet sich ja geradezu an.

Bei den Bremsen setzt Royal Enfield auf ByBre, dem indischen Ableger von Brembo. Vorne ein Zweikolben-Schwimmsattel mit 300 mm Einzelscheibe, hinten ein Einkolben mit einer 270er. Die Bremsleistung wird sicher niemanden überfordern. Um vorne in den ABS-Regelbereich zu kommen, muss man den nicht einstellbaren Hebel schon heftig würgen. Mit dem Bremspedal (ja, ein Pedal) könnte man hingegen auch einen 7,5 Tonner zuverlässig zum Stehen bringen. Filigran ist anders. Den Regelbereich des ABS spürt man in Fingern und Fuß – aber es funktioniert zuverlässig. Ein Oldtimer mit ABS.

„Rustikal“, wie das Bremspedal, sind auch diverse andere Details und zum Teil die Verarbeitung. In Indien ist ein Motorrad häufiger ein Fortbewegungsmittel als ein Hobby. Manche Dinge erschließen sich einem Europäer trotzdem nicht. Die massiven Griffe z.B., von denen der Linke ja noch zum Aufbocken auf den Hauptständer taugt – wenn auch nicht nötig ist. Aber der Rechte? Rechts hat der Hauptständer keinen Ausleger. Der bequeme Soziusplatz, der angesichts der Fahrleistungen in Europa wohl meist verwaist bleiben dürfte, sitzt auf einer stabilen Stahlplatte. Leider lässt er sich nicht über einen Schnellverschluss abnehmen, drei Schrauben müssen gelöst werden. In Indien kommt die 350er übrigens mit einem serienmäßigen Sari-Schutzgitter für die Sozia – Form follows Function …

Die abschließbaren Seitendeckel sind – wie auch die Schutzbleche – aus Metall, Batterie und Luftfilter dahinter leicht zugänglich. Selbst ein Bordwerkzeug ist vorhanden, darin ein Hakenschlüssel um die Vorspannung der Federbeine zu justieren.
Die Serviceintervalle der 350er Modelle liegen bei 5.000 km bzw. 6 Monaten und um die drei Jahre Garantie auszuschöpfen, muss die Maschine natürlich regelmäßig in die Wartung. Technisch wäre es ein Leichtes, die simplen Maschinen auch unterwegs selbst zu warten.

LED-Beleuchtungseinrichtungen gibt es nicht, klassisches Leuchtobst sorgt für die Illumination. Immerhin ist eine Warnblinkanlage serienmäßig. Der bildschöne, analoge Tacho wird um ein kleines Multifunktions-LCD-Display ergänzt. Zwei Tageskilometerzähler, ODO, Uhrzeit, Tankinhalt, Service – was braucht man mehr? Der Sinn der Anzeige ECO hat sich mir nicht erschlossen. Laut Bedienungsanleitung fahre ich dann „unter optimalen Bedingungen“ – lassen wir es dabei …
Fahrspaß kommt mit der Classic 350 eine Menge auf, wenn man sich auf den Oldtimer-Charakter einlässt. Wie eingangs schon erwähnt, mit den Leistungsdaten gewinnt sie keinen Blumentopf und manch eine moderne 125er lässt sich dynamischer bewegen. Bummelt man bevorzugt zwischen 60 und 90 km/h durch die Landschaft, nutzt kleine und kleinste Sträßchen oder auch mal einen Feldweg, hat man an dem sanften Motor und der entspannten Sitzposition seine Freude. Mitschwimmen auf der Bundesstraße geht auch, etwaige Überholmanöver sollte man sich vorher aber gut überlegen.

Das Fahrwerk steckt das alles locker weg und wer glaubt, die Enfield taugt nur für die Blümchenpflückertour am Sonntag, der irrt. Ich hätte keine Bedenken, mit dem Einzylinder auf große Tour zu gehen. Nordkap oder Mittelmeer? Egal! Man entwickelt in der Leistungsklasse eine ganz andere Ruhe beim Fahren und entschleunigt sein Leben. Reisetauglich ist auch der Tankinhalt von 13 Litern. Reise-Zubehör wie Komfortsitz und Gepäcksystem gibt’s beim Royal Enfield Vertragshändler, dazu noch diverses BlingBling. Eine Turn by Turn Navigation ersetzt a.W. das Enfield-Emblem rechts vom Tacho. Bei einem Einstandspreis von gerade mal 4.890 € inkl. Fracht und Überführung, kann man sich durchaus ein paar Extras gönnen.
Wer eine etwas modernere Optik bevorzugt, bekommt die Meteor 350 übrigens schon ab 4190 € – inkl. dem Navi, pflegeleichten Gussrädern und einen 15 Liter Tank.
Erträglich ist der Spritverbrauch: Bei der Quälerei am ersten Fahrtag verfeuerte ich noch 3,47 Liter/100 km. Im normalen Alltagseinsatz waren es dann 2,73 Liter. Damit kann man auch bei heutigen Spritpreisen ganz gut leben. Versicherung und Steuern sind niedrig, vor allem, wenn man noch einen Altvertrag liegen hat – die Royal Enfield ist somit das ideale Zweitmotorrad für Blümchenpflückertouren. Wundert euch aber nicht, wenn euer Hightech-Gerät immer öfter in der Garage bleibt. Ihr wäret nicht die ersten, für die viel weniger dann doch einiges mehr ist.
Mehr Infos und Probefahrten gibt es bei den Royal Enfield Vertragshändlern.
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Kommentare
6 Kommentare zu “Royal Enfield Classic 350, Modell 2022”
Hallo,
es ist nicht alles eitel Sonnenschein.
Bei einigen, eher mehreren, Classic 350 funktionieren die Tachos nicht. Sicherheitsrisiko, wenns der Prüfer bei der HU merkt gibts keine Plakette …
Royal Enfield und KSR lassen die Kunden und Händler im Regen stehen. Entwerder werden die hingehalten oder es gibt keine Info. Neue Tachos sind nicht lieferbar.
Der gute Service von RE ist seit dem Wegfall der „alten Händler“ auf der Strecke geblieben. Die neuen würden gerne helfen, bekommen aber vom Importeur wohl keine Unterstützung.
Die allgemeine Verschleiß- bzw. Ersatzteilversorgung läßt auch zu wünschen übrig. Wenn ein Teil schnell benötigt wird, gehts nur über England oder direkt aus Indien. Über die dabei anfallenden Kosten muß ja nichts gesagt werden.
Grüße.
Karl
Moin Karl.
Die hängende Tachonadel lässt sich durch mehrmaliges Ein- und Ausschalten der Zündung i.d.R. resetten. Meine hatte es auf 4500 km nur 1x und es trat nicht wieder auf. Das ist natürlich keine Dauerlösung und man sollte es während der Garantiezeit reklamieren.
Ersatzteile und Zubehör direkt in Indien zu bestellen ist kein Problem. Oft ist es nicht mal teurer.
Mein original RE-Tourensitz kam von dort, da hier nicht lieferbar.
Der war in 5 Tagen da und inkl. Zoll und Versand auch nicht teurer.
Das mit den Teilen gilt aber auch für andere Marken.
Für ein Motorrad hatte ich mal einen Kupplungszug in Thailand bestellt, der (wie auch die Maschine) dort produziert wird. Der kostete inkl. Zoll und Versand weniger als 1/3 des hiesigen Zuges, den ich parallel bestellt hatte. Nur mit Gewährleistung muss man da nicht ankommen 😉
VG, Marcus
Bin das Eisen im Oktober Probe gefahren. Wenn man von einer nackten, vierzylindrigen Japanerin kommt, ist das, als würde man von Turnschuh auf Bergstiefel umsteigen. Die 20 Ponies fühlen sich zwar nach deutlich mehr an, aber als das Aggregat unter meinem Hintern im niedrigen Drehzahlbereich vor sich hinrötterte und ich nur ein bisschen am Gas zog, war ich von der Angst durchdrungen, dass der Motor gleich wie ein Luftballon auseinanderplatzt. Tat er natürlich nicht, aber das hämmerte und blubberte, als hätte ein Freizeitbastler am Anfang des 20. Jahrhunderts versucht, aus Haushaltseisenwaren einen von diesen neumodischen Verbrennungsmotoren nachzubauen. Als ich mich danach wieder auf meine nackte Japanerin setzte (ist das nicht ein schönes Wortbild?) , kamen mir 130 km/h wie 230 vor. Nicht falsch verstehen: Das ist keine negative Kritik. Fahrgefühl ist halt – wenn man von nackten Japanerinnen kommt – wie von einem anderen Planeten. Einem absolut spaßigen Planeten allerdings.
Einstellung des Gangwahlhebels ist in der Tat speziell. Zum Hochschalten muss man den Fuß strecken wie eine Ballerina, den Hebel kann man aber relativ einfach hochsetzen. Alternativ könnte man Schaltwippe nachrüsten, das geht aber für den handelsüblichen Mitteleuropäer natürlich gar nicht, denn der trägt zum Fahren ja ordentliche Botten und keine Flipflops
Bin (beinahe) fest zum Kauf als Zweitmopped entschlossen…
Hallo Marcus,
vielen Dank für die schöne Review 🙂 Ich liebäugele schon einige Jahre mit einer Royal Enfield Classic 350 / 500. Vor meinem 60ten werde ich mir den Traum erfüllen nochmal mehr als 50ccm zu fahren. Einen Strich durch die Rechnung machen leider immer häufiger die Abgasnoormen. Unter Euro 5 kann ich nicht mal mit dem Bike nach Frankfurt fahren – ich wohne im Taunus. Deswegen mal nachgefragt, weil ich das bei den neuen Classic Modellen nicht weiß – wenn’s nirgends steht: ein schlechtes Zeichen? Der langen Rede kurzer Sinn: erfüllen die aktuellen Modelle die Euro 5 Abgasnorm oder nur die 4? Vielen Dank für eine kurze Antwort bei Gelegenheit.
Hallo Peter.
Die 350er Enfield erfüllen natürlich die Euro 5.
Motorräder mit Euro 4 können nicht mehr neu zugelassen werden, darum ist auch die alte 500er Enfield hierzulande nicht mehr erhältlich. Mit Euro 4 konnten nur Reste abverkauft werden.
Seit 1/2020 gilt Euro 5 – darum wird das auch gar nicht mehr erwähnt.
Hier gibts auch ein paar Infos:
https://blog.bvdm.de/2019/12/16/euro-5-neuer-umweltstandard-fuer-motorraeder-2020/
Die Enfield hatte mir übrigens so gut gefallen, ich habe mir danach spontan eine gekauft.
Die hat jetzt 1300 km runter und macht jedes Mal viel Freude 🙂
Viele Grüße,
Marcus
Gut geschriebener Bericht, der den speziellen Charme der Retro-Enfield schön herausstellt. Fahre selbst die RE 500 trials mit 27 PS – die nur unwesentlich behender unterwegs sein wird. Aber unheimlich Spaß macht ! Gerade für die kurze Feierabendrunde bleibt da meine 90 PS-Vierzylinder-Japanerin fast immer in der Box.