Polaris Slingshot FrontPolaris Slingshot – Motorrad oder Auto? Oder beides? Oder keines davon? Auf jeden Fall ein echt cooles Gerät, das Jens für uns gefahren hat …

aus Kradblatt 01/17
von Jens Riedel

Polaris Slingshot: (K)ein Motorrad?

 

Polaris Slingshot linksDa blicke noch einer durch: 16-Jährige dürfen Leichtkrafträder nur bis 15 PS fahren, Dreirad-Roller aber mit bis zu 20 PS, bei Elektro-Bikes darf die Spitzenleistung sogar noch weit höher liegen, und ältere Autoführerscheinbesitzer dürfen ebenfalls anstandslos auf leistungsoffene Dreiräder umsteigen, wenn nur die Spurweite stimmt. Und nun auch noch das: ein Lenkrad wie im Auto, zwei Sitze wie im Sportwagen und ein Schaltknüppel in der Mittelkonsole – dennoch offiziell ein Motorrad. Zumindest der MT-09-Fahrer, der uns überholte und den Daumen nach oben streckte, schien diese Einschätzung halbwegs zu teilen.

Polaris Slingshot FrontZu verdanken hat die mobile Welt den seltsamen Zwitter Polaris. Das amerikanische Unternehmen ist hierzulande vor allem durch seine ATVs bekannt. Einige Zeitgenossen wissen auch, dass von dort die Marken Victory und Indian kommen. Diesem Geschäftsbereich ist dank seiner Einstufung auch der besagte Slingshot zugeordnet. Er weist ebenso wie der Can-Am Spider eine „Y“-förmige Fahrzeugarchitektur auf. Da der Buchstabe aber schon vom Wettbewerber aus Kanada marketingtechnisch voll in Beschlag genommen worden ist, musste sich Polaris etwas einfallen lassen – und kam auf die gute alte Steinschleuder. Slingshot heißt nichts anderes als „Zwille“. Also, dann spannen wir mal das Gummiband.

Polaris Slingshot HeckEs lassen sich tatsächlich bei diesem Geschoss der Fahrzeugklasse L5e ein paar mehr Gemeinsamkeiten mit dem Motorrad ausmachen, als nur das einzelne Hinterrad und die Einarmschwinge. Es können ebenfalls nur zwei Personen befördert werden (wenn auch neben- statt hintereinander) und es gibt keine Türen, es gibt ein Lenkradschloss mit Schlüssel, keinen Airbag, keinen Kofferraum, keinen Innenspiegel, einen offen liegenden Tankdeckel und kein Dach sowie Rückspiegel, die – insbesondere rechts – an der Grenze des Zumutbaren liegen. Man darf sich da immer wieder wundern, was die reglementierwütige Gesetzgebung da bei Motorrädern in Sachen Rückblick so alles durchgehen lässt. Ach so, und noch mehr Gemeinsamkeiten: Es gibt keine Heizung, nur hinten ein Nummernschild und keinen Kofferraum, dafür aber ein Handschuhfach und abschließbare Staufächer hinter den Sitzen. Letztere fallen recht üppig aus und nehmen gerne mehr als nur die Regenkombi oder den Helm auf.

Polaris SlingshotHelm? Ja – und nein. Der Polaris Slingshot ist zwar als Motorrad eingestuft, der Drei-Punkt-Gurt und die beiden Überrollbügel befreien die Insassen aber hierzulande von der Helmpflicht (nicht so im Ursprungsland). Ja, wir erinnern uns: Da gab es mal einen Roller von BMW, der durfte auch topless. Und bis 110 km/h kann man eigentlich auch ganz gut auf die Hartschale und Brille hinter der kleinen motorradähnlichen Windschutzscheibe verzichten. Wir empfehlen den Kopfschutz trotzdem (Sebastian Vettel, Nico Rosberg und Co. fahren in ihren Autos ja auch nicht ohne). Apropos Schutz. Es gibt zwar eine Persenning zur Abdeckung der Fahrgastzelle, sie ist aber nur etwas für den Notfall, denn Abflusslöcher, die gummiartigen Sitzbezüge und Plastik all überall trotzen im Slingshot der Nässe.

Polaris Slingshot MotorDer Tacho verlangt ein wenig Umstellung. Die Ziffern und Abstände werden auf der Skala zum hinteren Drittel hin kleiner. In der Praxis bedeutet das, dass dort, wo bei Autos oder Motorrädern üblicherweise in der Zwölf-Uhr-Stellung eine 100 oder 120 prangt, beim Slingshot eine 60 steht. Da fällt es beim Beschleunigen nicht immer ganz leicht, auf Anhieb das Tempo intuitiv zu erfassen. Und wo wir schon einmal dabei sind: In der Zwille – sie ist als stilisiertes Y auch das Markenzeichen des Dreirads – fühlen sich Fahrer und Beifahrer ohnehin fast immer gut und gerne 20 km/h schneller unterwegs als es tatsächlich der Fall ist. Meint umgekehrt auch, dass es hier nicht unbedingt auf Topspeed ankommt.

Polaris Slingshot rechtsTrotz des ordentlichen Hubraums von 2,4 Litern und 129 kW / 175 PS sowie eines Gewichts von unter 800 Kilogramm ist der Slingshot keine Temporakete. Bei etwa 220 km/h ist Schluss mit lustig. Aber ohnehin ist es schon ab 180 Sachen ein wenig anstrengend. Sein Reiz liegt – wie bei einem Motorrad (sic!) üblich – im Beschleunigunsgvermögen. Vor allem im zweiten und dritten der fünf Gänge ist die Schleuder gespannt wie ein Flitzebogen. Pfeilschnell schießt das Geschoss von einem ebenso betörenden Motorengeräusch begleitet nach vorne. Im dritten Gang darf es gerne bis 6500 Touren und Tempo 150 gehen. Im vierten – und nur in ihm lässt sich auch die Topspeed erreichen – stehen bei 5000 Umdrehungen 180 Stundenkilometer auf der Uhr, bei Fünf-fünf dann 200. Umgekehrt beweist auch der Slingshot, dass Hubraum durch nichts zu ersetzen ist. Wer mit 170 Sachen über die Autobahn fegt, der hat in der fünften und letzten Getriebeübersetzung den Zeiger des Drehzahlmessers gerade einmal auf 3500 stehen. Begleitet wird der Vorwärtsdrang von einem leichten Jaulen des Zahnriemens am Hinterrad. Das Geräusch erinnert ein wenig an eine S-Bahn, die Fahrt aufnimmt.

Polaris Slingshot RiemenantriebDen meisten Spaß macht es eh, auf engen Landstraßen rumzukurven und mit der Walze am Heck die Traktionskontrolle herauszufordern, wenn der Slingshot mit seiner zackigen Lenkung ums Eck schwingt. Es ist sicher auch kein Zufall, dass der Wippschalter zum Deaktivieren der Stabilitätskontrolle gesondert von den wenigen übrigen Schaltern prominent unmittelbar vor dem Schalthebel platziert ist. Apropos Schalthebel: Unter der mächtigen Plastikhaube des Polaris steckt zwar ein Vierzylinder-Motor von General Motors, aber entgegen sonstiger amerikanischer Gepflogenheiten und Vorlieben darf hier schönerweise per Hand geschaltet werden. Die Schaltung ist wunderbar kurz und knackig, viel besser geht es kaum.

Polaris Slingshot SitzeWährend der Rahmen in etwa auf Oberschenkelhöhe verläuft und man in Kniehöhe über dem Asphalt sitzt, bietet die Plastikkarosserie auf der Innenseite eine perfekte Ellenbogenstütze zum überaus bequemen Halten des Lenkrads. Alles andere als komfortabel ist die brettharte Federung, die das Motor Tricycle (so die Bezeichnung in Amerika) aber auch bei Höchsttempo noch schön spurstabil hält. Den nicht möglichen Blick nach hinten ersetzt beim Rückwärtsfahren eine Kamera, über deren Bildqualität wir an dieser Stelle den Mantel des Schweigens legen.

Bei teils flotterer Autobahnfahrt kamen wir bei knapp 300 Kilometern Gesamtdistanz auf einen Verbrauch von etwa 10,3 Liter, während der Bordcomputer 11,5 Liter anzeigte. Der hinten im Heck sitzende Tank bunkert übrigens 37 Liter.
Knapp 30.000 Euro muss einen der Spaß wert sein. Dafür erhält man (je nach Betrachtungsweise) das motorradähnlichste Auto oder das autoähnlichste Motorrad auf dem Markt – und die nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit aller übrigen Verkehrsteilnehmer.

Nachtrag (Gruß an Henry T.):
Der Polaris Slingshot gilt bei der Zulassung nicht als Motorrad („Zweirädriges Kraftfahrzeug (Kraftrad) mit Beiwagen“ = EG-Fahrzeugklasse L4e) sondern als „Dreirädriges Kraftfahrzeug mit drei symmetrisch angeordneten Rädern“ . Das in den USA als „Motor Tricycle“ mit Helmpflicht eingestufte Dreirad fällt hierzulande in die Fahrzeugklasse L5e und damit in dieselbe Kategorie wie zum Beispiel der Piaggio MP3 oder der Can-Am Spyder.