aus Kradblatt 5/21 von Francesco Ciarfaglia

Menschen begegnen  …

Motorradreise ins Baltikum

„Ich habe keine Frau mehr!“, antworte ich einer Kollegin, die mir zum Geburtstag gratuliert und meiner „lieben Frau“ schöne Grüße bestellt. „Lieb“ und „schön“ in Verbindung mit „deiner Frau“ verkrafte ich aber nicht.

Am Vorabend: „Schatz, ich muss dir was sagen…“. Mist, denke ich. Neue Frisur wieder nicht bemerkt? Aber diesmal war es ernst. Nachdem Winteranzüge für den Sommer gekauft, Motorrad umgebaut, Route geplant, Hotels reserviert, Schwiegereltern für den Hund eingespannt, Fährkabine gebucht und Monate der Vorbereitung ins Land gegangen waren: “… ich kann nicht mit nach Island! Tut mir leid.“ Tut mir leid? Das kann sie nicht ernst meinen. Ich solle alleine fahren. Und dann faselt sie noch etwas über die Vorzüge des Alleinreisens und Chancen der Begegnungen, die sich zu zweit nicht ergeben würden. Als wäre das ein Trost!

Erst nach drei wortkargen, frustrierenden Wochen ist dann endlich alles storniert. Island alleine? Meinen langgehegten Traum? Kommt nicht in die Tüte. Aber mir ist auch klar: Ich kann nicht die ganzen Sommerferien zuhause bleiben. Ich hole meine alten Reisepläne fürs Baltikum raus, kaufe einen neuen Reiseführer und finde langsam wieder ein wenig Lebensmut. Mit einer Mischung aus Traurigkeit, Skepsis und Vorfreude sattle ich meine GS auf und binnen 48 Stunden bin ich weg. Vorzüge des Alleinreisens. Chancen auf Begegnungen. Wollen wir doch mal sehen!

Motorradreise ins Baltikum - die Burg von Trakai
Die Burg von Trakai

SILKE: Die 250 km nach Kiel fahre ich in einem Zug. Den Helm nehme ich nur auf der Elbfähre ab, als eine 800er Tiger neben mir anhält. Daneben eine junge Frau. Silke, aus Stockholm. Sie fährt zu­rück, um ihre Eltern zu besuchen. 

Silke wohnt in Rotterdam und arbeitet als Ingenieurin in 6-Wochen-Schichten auf einer Bohrinsel. Ich stelle mir vor, wie fantastisch es ist, mehrmals im Jahr 6 Wochen am Stück frei zu haben, mit dem Motorrad zu verreisen und stelle fest, dass hier jemand schlauer war als ich. Ich wollte nämlich immer wegen der Ferien Lehrer werden. Jetzt realisiere ich, es geht noch besser. 

Nach langem Abwiegen der Vor- und Nachteile eines Lebens auf der Bohrinsel mit Fernbeziehung und ohne Motorrad und meines Lehrer-Daseins mit Nahbeziehung und Motorrad sind wir uns aber einig: Das Ganze hält sich die Waage. Und so fahre ich erleichtert weiter.

Alkoholfreies Bier - Motorradreise ins Baltikum
Man gewöhnt sich an alles …

MAX: Max sitzt im Schlafsaal neben mir und bietet an, mir die Fähre zu zeigen. An Bord: eine Mi­schung aus LKW-Fahrern und Touristen. Verhältnis 70/30. Wir verbringen viel Zeit zusammen. Er ist ein junger Mann aus Litauen, lebt in Kopenhagen und arbeitet als Paketzusteller. Frau und Kind leben in Litauen, wie auch seine Eltern. Sie sind auf dem Hof geblieben, den er hätte übernehmen sollen. Er hatte aber keine Lust, sich so wie sie zu arrangieren und emigrierte. Er bringt sein Auto für eine größere Reparatur mit. In Dänemark kann er sich so etwas nicht leisten. 

Max ist froh über das, was er hat. Er träumt davon, seine Wohnung in Litauen abzuzahlen und zu seiner Fami­lie zurückzukehren. Sie alle drei Monate zu sehen, fällt ihm am schwersten. 

Ich stelle gleich zu Reisebeginn fest, welch Privileg es ist, mit Silke herumzukaspern, über Motorräder und Urlaub.

BERND: Die Fähre legt um 17.00 Uhr in Klaipeda an. Der erste Stopp soll der Campingplatz in Nida auf der Kurischen Nehrung sein. Die 50 km dorthin lege ich in einer Stunde zurück. 

Auf dem Campingplatz ergattere ich den letzten Zeltplatz, weil ich mit Motorrad unterwegs bin. Das Zelt ist schnell aufge­baut. Mit Jeans und Shirt verkoste ich Pizza und Bier auf der Terrasse des Campingrestaurants und blicke in den Reiseführer. 

Ein älterer Herr am Nebentisch macht das Gleiche. Bernd (72) er­zählt mir, wie er einen Platz auf dem Campingplatz bekommen hat. Nämlich gar nicht. Er hat sein Auto vor der Einfahrt geparkt und sein Zelt auf dem Campingplatz aufgestellt. „Hotels waren voll und ich hab keinen Bock, im Auto zu schlafen“, sagt er. Da weiß ich schon, der Typ hat gute Ge­schichten zu erzählen. Und ich werde nicht enttäuscht. 

Janina - GS Fan in Estland - Motorradreise ins Baltikum
Janina – GS Fan in Estland

Bernd erzählt von seinen Reisen, die ihn die letzten 30 Jahre rund um den Globus gebracht haben. Dreimal ist er von Feuerland nach Alaska gefahren. Immer eine andere Route, immer ein anderer Käfer und immer für mehrere Jahre. Bernd hat als junger Ingenieur in der Autoindustrie etwas erfunden und ging mit 40 Jahren in Rente. Was er erfunden hat, will er nicht rausrücken. Ein paar Monate im Jahr besucht er seine Kinder in Deutschland. Sonst ist er unterwegs. „Solo aber nie allein“, betont er.

MARCUS: Nida erkundet man zu Fuß. Die Strandpromenade, das Heinrich-Heine-Haus, das Museumsdorf und die Sanddünen hinter der Stadt füllen den Vormittag prächtig aus. 

Nachmittags erkunde ich mit der GS den Rest der Nehrung. Es gibt nur eine Hauptstraße mit einigen Abzweigungen. Da be­komme ich auf Schotter eine Kostprobe von dem, was mich in den nächsten Tagen erwartet. 

Vor der Königsberger Grenze halte ich an für ein Foto aus sicherer Entfernung. Hier treffe ich Marcus aus Hessen mit seiner Vespa. Marcus hat in den letzten Jahren schon ganz Europa mit seinem Roller bereist. Bis nach Island und Tunesien ist er damit schon gefahren. Er sei gerne allein unter­wegs, wegen des besonderen Reizes, erzählt Marcus, der auch Lehrer war. Zu seiner Pensionie­rung, vor drei Monaten, hat er sich eine neue Vespa gegönnt. Die alte aus den 1980ern war nach hunderttausenden Kilometern komplett abgehetzt und er hat keine Freude am „Basteln“ mehr. „Bis auf einen Ölwechsel mit Kerze und eine neue Decke war mit der Neuen nach 10.000 km nichts Aufregendes“, sagt er zufrieden.

Motorradreise ins Baltikum
Eine Tankstelle in Estland

FABI: Der Tag war lang, schön und voller Eindrücke, auf der schon bekannten Terrasse bei Pizza und Bier stelle ich beim Bezahlen fest, dass Alkohol in Litauen nur bis 22 Uhr verkauft wird. Das ist wichtig und müsste fettgedruckt auf dem Cover des Reiseführers stehen, finde ich. Dem ist aber nicht so und Verhandeln mit der Kellnerin, die, wie viele Teenager hier, Englisch spricht, als ob sie in Oxford studiert hätte, ist nix. Es ist 5 nach. Ich werde freundlichst auf alkoholfreies Bier verwie­sen, davon halte ich aber zu dem Zeitpunkt noch nichts. 

Mit richtigem Bier werde ich von Fabi ver­sorgt, die inzwischen – alleine unterwegs mit Bulli – meine Zeltnachbarin geworden ist. Fabi, Mitte 30, sympathisch, ist auch Lehrerin. Sie hat noch nicht den Richtigen gefunden, anders als viele ih­rer Freundinnen, die mit Haus, Mann und Kind keine Zeit mehr haben, um mit ihr die Welt zu er­kunden. Daher hat sie in ein Wohnmobil investiert, um nach Lust und Laune solo unterwegs zu sein. Alleine, meint sie allerdings, war sie aber noch nie auf einer Reise.

Nach ein paar Stunden Schlaf bin ich wieder mit voll bepackter GS unterwegs. Mein Tagesziel ist Vilnius. Nicht auf direktem Wege. Ich fahre auf der 141 an Silute und Jubarkas vorbei entlang der Memel. Die Gegend ist schön und landwirtschaftlich geprägt, aber wenig aufregend. Dann vorbei an Kaunas nach Trakai, wo ich die fantastische Wasserburg besuche. 

MARK: Abends erreiche ich den Campingplatz in Vilnius, der im Industriegebiet mit Wohncontainern für Rezeption, WC und Küche ein bisschen dröge aussieht. Er wartet aber mit 10 Bäumen in der Mitte des sonst asphaltierten Geländes auf. Dort baue ich mein Zelt auf. 

Das Feierabend-Bier aus dem Kühlschrank an der Re­zeption trinke ich mit meinem Zeltnachbarn Mark aus London, der allerdings gar kein Zelt hat. Er besitzt eine Hängematte mit Plane darüber, einen Sack Klamotten, ein Fahrrad und einen Kocher für den Tee. Mark ist auf Weltreise und wohnt hier. Seit drei Monaten! Ab und an hält er an, um Geld zu verdienen, so wie jetzt als Fahrradmechaniker. Ein Zeitlimit hat er nicht. Bevor er anfängt, sich mit Haus, Frau und Kindern zu beschäftigen, halte er es für förderlich, zunächst die Welt zu erkunden. Mark ist erst 23 Jahre alt. 

Motorradreise ins Baltikum
Pause am Straßenrand

DANIEL & FRANZI: In Vilnius kann man als Fan von Kultur und Architektur viel Zeit verbringen. Man braucht nur einen Blick in die Altstadt zu werfen oder sich die Künstlerkolonie Uzupis anzuschauen. Es ist Juli und die Stadt ist gut besucht, nicht überlaufen. 

Für sowjetisches Flair und Plattenbauten steige ich in den Bus und fahre aus der City. Der Bus selbst ist schon ein Erlebnis. Eckig, aus den 70ern, aber auf neu gemacht und natürlich mit gratis WLAN, wie allerorts im Baltikum eine präsente Selbstver­ständlichkeit. 

Abends lerne ich im Küchencontainer Daniel und Franzi aus Barcelona kennen. Wir kochen und essen zusammen. Mit zwei Liegen und Küchenmodul im Bulli bereisen sie genüsslich die Hälfte des Jahres ganz Europa. Im Winter gehören sie wieder Kindern und Enkeln. Vor Mona­ten losgefahren, um kurz Freunde in Norwegen zu besuchen, fahren sie jetzt über Nordkap und Baltikum zurück. 

Als sie noch an der Uni tätig waren, sind sie überall hingeflogen und haben ein paar Tage im Hotel übernachtet, natürlich mit den Kindern. Es fühlte sich aber wie eine Art Dienst­reise an, erzählen sie. Jetzt endlich halten sie an und bleiben wo und solange sie wollen, um Na­tur, Menschen und Kultur zu erleben. Daniel (76) und Franzi (74) haben bis vor 10 Jahren gear­beitet. In ihrem Alter möchte ich gerne wie sie sein. 

Der Campingplatz in Vilnius ist eine Sehens­würdigkeit für sich, ein Drehkreuz für Reisende aus aller Welt: Expeditionsfahrzeuge über die Seidenstraße und Moskau auf dem Rückweg, türkische Motorradfahrer, die innerhalb von zwei Wochen 10.000 km zum Nordkap fahren etc. pp. Man braucht nur zum Zeltnachbarn zu laufen und schon taucht man bei einem Bier in ein anderes Abenteuer ein.

Motorradreise ins Baltikum
Es gibt auch tolle Offroad-Strecken durch Wälder

MENSCH mit HUND: Es geht weiter Richtung Norden, nach Riga, am geografischen Mittelpunkt Europas in Purnuskes vorbei. Auf Wald-, Sand- und Schotterwegen fahre ich durch schier unendliche Wälder. Ich genie­ße den Hauch von Abenteuer und staune, dass ich hier mit dem Motorrad überhaupt fahren darf. Ein Mensch mit Hund ist alles, was mir in einem halben Tag begegnet. Mein Handy hat aber natür­lich auch hier überall fünf Balken. 

KARSTEN: Nach dem Zeltaufbau bin ich um 20.10 Uhr für mein Feierabend-Bier an der Tanke. Ich stelle fest, dass in Lettland Alkohol nur bis 20.00 Uhr verkauft wird. Selbstverständlich ist auch hier Verhan­deln zwecklos und ich werde wie üblich auf das überproportionale Angebot von alkoholfreiem Bier verwiesen. Diesmal gebe ich nach und nehme zwei Flaschen mit. Bis zum Ende der Reise werde ich das Getränk liebgewonnen haben. Als Durstlöscher und Erfrischung ohne trübende Nebenef­fekte bei der Hitze ist es schon in Ordnung. 

Auf dem Campingplatz lerne ich Karsten aus Hannover kennen. Er ist Handwerker, Mitte 50 und fährt eine GS Adventure. Karsten wollte nur mal kurz zum Nordkap, um das neue Motorrad zu testen. Dort angekommen, ruft er Chef und Frau an und bean­tragt Sonderurlaub. So hängt er Finnland, Baltikum und Polen dran. „Ich wusste nicht, wie geil es ist, allein unterwegs zu sein! Mein Motorrad, mein Zelt und ich“, sagt er. 

Mit Karsten verbringe ich fast den ganzen Tag zusammen in der Stadt. Riga ist absolut die gefühlte Hauptstadt des ganzen Baltikums. Hier, in der wunderschönen, gepflegten Altstadt tobt das Leben: an jeder Ecke Live-Musik, Geschichte, Kunst, Märkte, Bars und Restaurants mit Terrassen, die bei 30°C gut besucht sind. Es ist überall angenehm was los.

Russisch-Ortodoxe Kirche in der Tallinner Altstadt - Motorradreise ins Baltikum
Russisch-Ortodoxe Kirche in der Tallinner Altstadt

OLAF: Auf der Via Baltica mache ich mich auf den Weg nach Tallinn. Ich nutze jede Gelegenheit, um durch Wälder, beschauliche Dörfer, verlassene Gegenden oder an die Küste zu fahren. Genuss Pur. 

In einem dieser Dörfer hält mich Olaf an, um die GS zu begutachten, ein tatkräftiger Senior, der mir dann bei Tee und Gebäck sein Fischereimuseum im großen Stallgebäude zeigt. Er erzählt von seinem Großvater, der wahrscheinlich aus Deutschland stamme und von dessen Namen er trägt. Olaf selbst ist 88 Jahre alt. Altes sammeln und pflegen ist seine Leidenschaft. Er freut sich, wenn junge Menschen sich dafür interessieren. Olaf kann nur estnisch, ich nicht. Trotzdem verbrin­gen und lachen wir über eine Stunde zusammen.

Begegnungen - Motorradreise ins Baltikum
Olaf – ein Gespräch mit Händen und Füßen …

Tallinn, ein Juwel! Die Altstadt mittelalterlich, lebendig, wunderschön, gepflegt, allein eine Reise wert. Hier gibt es aber auch viele Touristen. Am zweiten Tag schnappe ich mir die GS und besuche ein paar andere Viertel. Unbedingt sehenswert ist die Telliskivi creative city. Aufgereihte, alte Zug­wagons beherbergen Restaurants, welche Spezialitäten aus aller Herrenländer anbieten. Endlos Kunst und Graffiti. Dazu ein russischer Straßenmarkt, verschiedenste Läden, die alles Mögliche ankaufen, verkaufen, reparieren oder tauschen. Ich verbringe fast den ganzen Tag hier.

GONDA: Meine nächste Etappe, der Küste entlang, führt zur Grenzstadt Narva. Aus Ermangelung an Alter­nativen nehme ich mir hier ein Hotelzimmer. Schon durch den wunderschönen russischen Akzent der Rezeptionistin Beata und die russischen Sender im Röhrenfernseher verstehe ich: Hier tickt die Uhr ein bisschen anders. 

Ich erkunde die Stadt zu Fuß. Neben der Brücke, welche EU und Russland verbindet, und einer geschichtsträchtigen Burg, die geschlossen ist, finden sich aus­schließlich Plattenbauten, die sich um das aus dem 19. Jahrhundert übrig gebliebene Rathaus auf­reihen. Nach dem zweiten Weltkrieg ließ Stalin schnell wieder Wohnraum entstehen und schickte viele Mitbürger hierher. Entsprechend ist das Stadtbild und die Kultur noch heute geprägt. Bilder von Putin hängen überall. Hier fühle ich mich schön weit weg von Zuhause. Die Menschen sind nicht unfreundlich, aber eher neutral als zugewandt. Estnisch höre ich nur im Hotel zwei Ge­schäftsleute sprechen. Sonst ist hier ausnahmslos Russisch vertreten. 

Vor dem Rathaus treffe ich Gonda, dem Anschein nach außer mir die einzige Touristin hier. Gonda (64) ist seit 11 Monaten mit dem Fahrrad auf Weltreise. Natürlich alleine! Nach Nord- und Südamerika und Russland, inklusive 10 Wochen auf einem Containerschiff, neigt sich ihre Reise dem Ende zu. Sie erzählt von ihren einprägsamen Erlebnissen und wie gut ihr die Reise getan hat. Nur Monate vor Reisebeginn hat Gonda ihren Mann verloren. Mit ihm zusammen war die Reise beim Renteneintritt geplant. „Ich habe aber die Reise zusammen mit ihm gemacht“. „Er war immer bei mir“, erzählt Gonda.

Nach kurzem Halt in Sillamäe, wo, bis auf eine Allee für Staatsbesuche, das Stadtbild dem von Narva gleicht, fahre ich auf Schotter- und Waldwegen am Peipussee entlang. Die Gegend ist länd­lich und russisch geprägt. Abends erreiche ich Tartu, die zweitgrößte Stadt Estlands. Für einen Stadtbesuch habe ich keine Kraft mehr. 

Einen Tag später, in Lettland, mache ich Halt in Jurmala, dem Strand von Riga. Der Ort ist viktorianisch anmutend. Ich kann dem aber nichts abgewinnen.

Begegnungen auf einer Motorradreise ins Baltikum
Zufällige Begegnung mit dem lettischen Staatspräsidenten Egils Levits

Egils: Nach dem zweiten Frühstück fahre ich der Küste entlang auf der 121 und weiter auf der 124 in den Slitere National Park. Hier, verteilt auf wenige Dörfer bestehend aus einer Handvoll Häusern, leben die letzten Angehörigen eines fast ausgestorbenes Volkes: die Liven. Es ist das erste Augustwo­chenende und ich fahre mit der GS querfeldein von Dorf zu Dorf nach Mazirbe, der Hauptort der Liven. 

Motorradreise ins Baltikum
Traditionelle Tracht der Liven

Lettland ist das Land der Letten und Liven, so steht es in der Verfassung. Ihre ugrofinnische Sprache ist vor Jahren ausgestorben. Die übrigen Verbliebenen vom ehemaligen Fischervolk tref­fen sich jedes Jahr am ersten Augustwochenende. Aus allen Himmelsrichtungen kommend, lassen sie ihre Traditionen mit Musik, Tänzen und einem spektakulären Lagerfeuer aufleben. Ich darf mein Zelt in einem Garten gleich neben dem Festplatz aufbauen. 

Es sind viele Sprachen zu hören, ungefähr 200 Leute sind da, fast alle verbliebenen Liven der Welt. Später erfahre ich, dass viele von ihnen extra aus dem Ausland einreisen. Ich bin der Einzige, der hier Deutsch spricht, stelle ich fest. 

Plötzlich aber läuft Egils Levits an mir vorbei, der Präsident Lettlands, den ich aus der Zeitung kenne. Ich bitte ihn auf deutsch, ihn fotografieren zu dürfen. Abrupt kommt er zu mir und freut sich offensichtlich, die deutsche Sprache zu hören. Ich stehe plötzlich inmitten von Personenschützern, Fotografen und Assistenten, im Mittelpunkt des Geschehens also. 

Levits hat in Deutschland stu­diert und gearbeitet, später auch in Luxemburg. Daher kann er Deutsch wie seine Muttersprache. Wir unterhalten uns über die dünnen Touristenströme aus Italien und ich schlage vor, die für Italien milden Temperaturangaben in den lettischen Touristenprospekten vielleicht ein bisschen zu tunen. Levits nimmt sich Zeit, ist sympathisch und gut gelaunt. 

Motorradreise ins Baltikum
Abschlusszerimonie beim Fest in Mazirbe

Sieggi: Nach dem spektakulären Abschlussritual mit Lagerfeuer bei Sonnenuntergang am Strand sitze ich am Festplatz bei Bier mit Sieggi (55) zu­sammen. Sieggi ist Maschinenbauingenieur auf einem Schiff. Er ist drei Monate bezahlt auf See und drei Monate unbezahlt zuhause. Er und seine Frau, eine Livin, leben in der Gegend. Sie er­zählen mir über die Geschichte der Liven. Der Präsident, erfahre ich, kommt ursprünglich aus Mazirbe. Er verbrachte früher meist seinen Sommerurlaub hier und wohnte bei Verwandten. Heute war er seit langem wieder hier. 

Tags darauf fahre ich nach Kuldiga. Das Dörfchen ist für den breitesten Wasserfall Europas und als Filmkulisse wegen der unzähligen wunderschönen, teils noch bewohnten Holzhäuser aus ver­gangenen Zeiten bekannt. 

Einen Sonnenaufgang später fahre ich nach Klaipeda, von da aus mit der Fähre zurück nach Kiel. 

Zuhause in Oldenburg angekommen, fühle ich mich wie aus einem dreiwöchigen Rausch heraus­geworfen. Ich sattle meine GS ab, sortiere meine Fotos und verarbeite das Erlebte. Das waren nur einige der Menschen, denen ich begegnet bin. Viele sind mir in Erinnerung, einige sogar im Herzen geblieben. Sie haben mich alle ein bisschen reicher gemacht. 

Unerfreuliches gab es am Ende allerdings auch: Ich musste mir eingestehen, dass meine Frau recht behalten hat. Wieder einmal. Aber das ist auch gut so!