aus Kradblatt 1/24 von Konstantin Winkler

Als Reisen noch Abenteuer waren …

Ein Motorrad, wie ein Berg: FN M 67, Baujahr 1929
Ein Motorrad, wie ein Berg: FN M 67, Baujahr 1929

Von Luxemburg durch die Ardennen bis nach Aachen. Was auf den ersten Blick wie ein gemütlicher Ausflug aussieht, war für mich ein harter Ritt. Altersbedingt. Nicht nur mein eigenes betreffend, sondern auch das der Lady, die mich begleitet hat: Eine belgische FN M 67, Baujahr 1929.

Vor rund 100 Jahren gab es in Belgien viele Motorradmarken. Die wohl berühmteste hieß „Fabrique Nationale d’Armes des Guerre“ – besser bekannt als FN. Damals wie heute wurden und werden in Hersdal (nahe Lüttich) Waffen produziert. Deshalb auch das Tankemblem mit gekreuztem Gewehr und Tretkurbel, weil die ersten Motorräder noch per Fahrradpedalen zum Leben erweckt wurden.

Belgien, da wurde sie "geboren", die FN
Belgien, da wurde sie „geboren“, die FN

Schon 1901 begann die Motorradproduktion, drei Jahre später erschien die erste Maschine der Zweiradgeschichte mit serienmäßigen Vierzylinder. Längs eingebaut und sogar mit Kardanantrieb statt des zur vorletzten Jahrhundertwende üblichen Keilriemens .

Populär auch über Belgiens Grenzen hinaus waren die ab 1922 gebauten Einzylinder-Blockmotoren. Ganz besonders die M 70. Diese seitengesteuerte 350er wurde unter dem Namen „Sahara“ weltberühmt, weil drei Biker eine 8.000 Kilometer lange Sahara-Durchquerung schafften. Und das mit nur 9 PS! 

Bescheiden wie ich bin, begnüge ich mich fast 100 Jahre später mit einer Ardennen-Durchquerung. Mit der parallel zur M 70 gebauten, wesentlich sportlicheren M 67, ebenfalls mit einem Blockmotor, aber 500 ccm und 16 PS. Die beiden kopfgesteuertem Ventile sind nicht gekapselt und können bei ihrer viertaktenden Arbeit beobachtet werden, wenn der Motor läuft. 

Wenn! Der Langhuber (85 mm Bohrung und 87 mm Hub) muss nämlich mit einem heute nicht mehr üblichen Ritual zum Leben erweckt werden. Nach dem Öffnen des Benzinhahns muss der französische Gurtner-Vergaser durch Tupfen auf den Schwimmerkammerdeckel geflutet werden. Jetzt müssen die drei Hebel am Lenker in die richtige Position gebracht werden: auf der rechten Seite Gas und Luft, auf der linken Seite der Zündzeitpunkt (auf spät!). 

Nach einem beherzten Tritt auf den Kickstarter springt der Motor unter beachtlicher Geräuschentwicklung an. Dichte Rauchschwaden aus dem Auspuff verkünden, dass alles wie geschmiert läuft. Die FN hat Verlustschmierung. Vorteil: Man braucht nie Ölwechsel machen, immer nur nachfüllen. Nachteil: Überschüssiges Öl wird verbrannt und durch ein Röhrchen ins Freie auf die Antriebskette befördert. Die Ölpumpe mit einem Schauglas ist rechts am Kurbelgehäuse angebracht. Mittels einer geriffelten Schraube kann die Fördermenge eingestellt werden. In dem Schauglas sieht man, wie Tropfen für Tropfen des dickflüssigen 50er Einbereichsöles dem Motor zugeführt wird. 

M 67, 500 ccm und 16 PS, die sportliche Variante der FN M 70
M 67, 500 ccm und 16 PS, die sportliche Variante der FN M 70

Soweit die Theorie. Nun dürfte der Ardennendurchquerung nichts mehr im Wege stehen. Theoretisch!

Die erste Panne allerdings schon, bevor es überhaupt losgeht … das kann ja heiter werden! Die Rückholfeder vom Kickstarter ist ausgehakt. Was bei einem modernen Motorrad das Öffnen des Getriebes bedeutet, ist bei der FN eine Sache von Sekunden. Dank außenliegender Feder reicht eine Zange zum Wiedereinhaken!

Die Bedienung der Hebel braucht etwas Übung
Die Bedienung der Hebel braucht etwas Übung

Die betagte Dame freut sich offenbar über ein Wiedersehen mit ihrer alten Heimat und meldet sich nach dem ersten Kick lautstark zu Wort. Das ganze wird auch noch optisch unterstützt: Da der Motor starr mit dem Rahmen verschraubt ist, schüttelt sich der gesamte Vorbau. Lenker, Gabel und Vorderrad bewegen sich im Takt des riesigen Kolbens. Die alte Dame scheint vor Freude zu tanzen!

Darf ich bitten? Motorrad abbocken, den Hinterradständer am Schutzblech einhaken (es gibt übrigens auch noch einen Vorderradständer, sehr praktisch beim Ausbau des Rades!) und Platz nehmen. Die leicht vorgebeugte Sitzposition und der breite Lenker vermitteln einen guten Kontakt zum Motorrad. Und eine sportliche Sitzposition!

Ersten Gang einlegen und los! Wer jetzt den Kupplungshebel zieht (der damals übliche Innenzughebel sitzt tatsächlich am linken Lenkerende) und mittels der linken Fußspitze mit Nachdruck den Fußhebel malträtiert, wird nie weiterkommen. Dort sitzt nämlich die Fußbremse. Geschaltet wird rechts. Mit der Hand, wie es sich für ein Vorkriegs-Motorrad gehört! 

Gut dosierbar sind die sage und schreibe 14 Kupplungsscheiben, deren Metall-Lamellen im Ölbad laufen. Jetzt nur nicht zu zimperlich mit dem Gashebel umgehen (der Lufthebel ist nun ganz geöffnet), sonst ist der Motor wieder aus und die Startprozedur kann von vorne beginnen. 

Der Zeitzeuge ist jünger als die FN und glücklicherweise außer Funktion
Der Zeitzeuge ist jünger als die FN und glücklicherweise außer Funktion

Durch die schon erwähnte sportliche Haltung sind wir bereit für die erste Herausforderung. Von der luxemburgischen Grenze aus geht es kurvenreich Richtung Malmedy. Die Bullriding-Gaudi kann beginnen! 

Stilecht zeitweise einhändig, wenn man nicht nur im ersten Gang fahren möchte. Wie schon erwähnt, wird mit der rechten Hand geschaltet. Butterweich lassen sich die drei Gänge einlegen, sofern die Drehzahl nicht zu hoch ist. Ist sie zu niedrig und wird nicht mit Nachdruck geschaltet, ist der Motor wieder aus …

Die breiten Wulstreifen der Größe 720 x 120 folgten spurtreu den Lenkbefehlen des Vorkriegsbikers. Mir auch. Allerdings bringen Längsrillen sehr starke Unruhe in die Lenkung. Da muss dann von Hand der liebevoll aus dem vollen gefräste Lenkungsdämpfer etwas fester angezogen werden. Muss dann auch noch geschaltet werden, ist das Bullriding-Feeling perfekt. Durch die gefühlt unbändige Kraft des Motors und dem Leergewicht von nur 135 Kilogramm muss nicht oft geschaltet werden. Das ist auch gut so, denn der dritte Gang liegt so weit unten, dass man beim Schalten fast die rechte Fußspitze berührt.

Bremsen? Ja, so war in der Art hatte sie schon
Bremsen? Ja, so war in der Art hatte sie schon

Wir stehen am Scheideweg. Landstraße oder Autobahn? Mit einem Vorkriegs-Motorrad war ich noch nie auf dem Highway. Das sollte sich nun ändern. Ich bin schließlich mit einer Sportmaschine unterwegs, das sportlichste Motorrad, das im Belgien der späten 20er Jahre gebaut wurde! 

Mit dreiviertel Gas und fast 90 km/h kann ich sogar mit den LKW mithalten. Im Zylinder brennt es und der Vergaser giert nach frischer Ardennenluft, die er ohne störenden Filter einatmet. 

Die leicht vorgebeugte Sitzposition und der breite Lenker vermitteln in Verbindung mit gutem Knieschluss durch den recht breiten Tank einen guten Kontakt zum Motorrad. Man nimmt schon fast eine aerodynamisch günstige Haltung ein.

Malmedy. Großstadtverkehr. An den roten Ampeln mit dem Gashebel spielen, die Maschine am Laufen halten. Schall und Rauch – die Passanten am Straßenrand könnten denken, jemand bändigt einen Presslufthammer. Wenn die Ahnungslosen wüssten, dass ihr eigenes kraftfahrzeugtechnisches Kulturgut gerade gepflegt wird! Freie Fahrt und Serpentinen auf dem Weg Richtung Eupen. Schlechte Straßen verlangen eine gute Federung, die die FN nur vorne hat. Die Trapezgabel ist weich und durch die beiden außenliegenden Schwinghebel seitenstabil. Sie ruht auf zwei Spiralfedern, die auf Druck arbeiten. Im hinteren Bereich ist nur der Ledersattel gefedert, das Hinterrad befindet sich starr im Rahmen. 

Schon bald ist die höchste Erhebung des Beneluxlandes in greifbarer Nähe. Von einer Passhöhe zu sprechen, wäre maßlos übertrieben. Hohes Venn heißt das Hochmoor, das es auf stolze 694 Höhenmeter bringt. Die Straßen haben wenig Kurven und problemlos durchquert die FN das Niedrige Venn – so möchte der Verfasser dieser Zeilen, der schon mit Vorkriegs-Motorrädern die Großglockner-Hochalpenstraße bezwungen hat, den im wahrsten Sinne des Wortes Höhepunkt dieser Reise bezeichnen.

Von hier ist es nicht mehr weit bis Spa. In der waldreichen Umgebung locken unter anderem die Tropfsteinhöhlen von Remouchamps mit unterirdischer Bootsfahrt. Und natürlich das Formel 1 Autodrome Spa-Francorchamps. Die legendäre Rennstrecke in den Ardennen wäre natürlich prädestiniert für eine artgerechte Haltung dieses Superbikes anno 1929. Leider kam ich nicht in den Genuss, nochmal alles aus der betagten Lady zu holen …

Bück dich: geschaltet wird die FN per Handhebel!
Bück dich: geschaltet wird die FN per Handhebel!

Ein paar Kilometer noch bis Eupen. Bergab mit 10% Gefälle! Kein Problem für die großzügig bemessenen Halbnabenbremsen und den sehr wirksamen Hauptbremszylinder mit einem halben Liter Hubraum!

Von der luxemburgischen Grenze bis Aachen hat die FN fast 100 pannenfreie Kilometer zurückgelegt. Dabei flossen etwa 4,5 Liter Benzin nebst einem halben Liter Alkohol durch den prähistorischen Zweischieber-Vergaser (wir erinnern uns: ein Hebel für Gas und einer für Luft!). Falls die geneigte Leserschaft meinen Ausführungen bezüglich der Zusammensetzung der vergasten und verbrannten Flüssigkeiten nicht folgen kann: in Luxemburg, wo der Sprit konkurrenzlos günstig ist (1,55 €), gibt es nur E10. Und für SuperPlus war ich zu geizig (1,75 €). Der alten Lady war es egal. Sie hätte wohl fast alles verbrannt!

Ach ja, Öl hat sie auch verbrannt! Aber nur einen viertel Liter. Hört sich wenig an. Aber auf 1.000 Kilometer hochgerechnet sind das zweieinhalb Liter. Für einen modernen Motor sind solche Werte die Vorankündigung eines Supergaus, für einen Vorkriegs-Motor mit Verlustschmierung völlig normal!

Nun konnte ich also eine weitere phantastische Vorkriegs-Motorrad-Tour auf meiner persönlichen To-do-Liste abarbeiten. Die Messlatte hängt wieder ein Stück höher und eine neue Herausforderung wird sicher bald in Bierlaune gefunden werden. Ein schweizerisches Motorrad hatte ich auch mal, eine Condor. Vielleicht wäre die Eiger-Nordwand die passende Kulisse für eine Fortsetzung dieser Geschichte. Das KRADblatt wird sicherlich auch darüber dann berichten …