aus Kradblatt 11/18, von Konstantin Winkler
Mythos Freiheit: Harley-Davidson Ultra Classic Electra Glide
Das erste Mal. Wie könnte man das je vergessen. Bei mir war das 1980. Mein Onkel hat sich eine Harley-Davidson Electra Glide Classic gekauft und ich durfte sie fahren.
Nichts transportiert den Mythos Freiheit so sehr wie die großvolumigen Zweizylinder aus dem amerikanischen Milwaukee. 1909 entstand dort der erste V2. Und bis heute hat sich nichts am 45-Grad-Winkel der Zylinder und den beiden Kolben auf einem gemeinsamen Kurbelwellenzapfen geändert.
1989 protzte der langhubige Motor (108 mm Hub!) mit 80 Kubikinch, was satten 1.338 Kubikzentimetern Hubraum entspricht.
Wer ein stinknormales Motorrad fahren will, sollte besser die Finger von einer Harley-Davidson lassen. Sie hat ihren ganz eigenen Charme und ist anders als die anderen. Entweder man liebt sie oder man hasst sie. Das war schon immer so und gilt auch für die FLHTC – so die offizielle Typenbezeichnung der Ultra Classic Electra Glide von 1989.
Andere vergleichbare Motorräder wie die Honda Gold Wing sind fast genauso teuer, haben aber deutlich mehr zu bieten, was Leistung und Technik betrifft. Dennoch schafft es Harley-Davidson wie kein anderer Hersteller, das Minus an Fahrdynamik und High Tech in ein Plus an Erlebnis umzuwandeln. Ein emotionales Erlebnis, das man den kleinen Schwächen zum Trotz mit einem Wort beschreiben kann: Geil.
Die meisten Harleys sind wahre Orgien aus Chrom und poliertem Aluminium, dass einem bei strahlendem Sonnenschein betrachtet die Augen wehtun. Eine Sünde, sie ungeputzt und nicht poliert zu fahren!
Dieses Motorrad besteigt man nicht. Man setzt sich in den bequemen Sattel rein. Die Sitzhaltung ist urgemütlich. Man braucht sich nicht zum Affen machen; ein ergonomisch geformter Lenker ist allemal besser als ein Ape Hanger, der wohl nur gegen Achselnässen hilft. Die Sozia nimmt eine Etage höher Platz, auf dem ebenso bequemen Sitz mit Rückenlehne und verchromten Haltegriffen.
Laut krachend wirft sich der Anlasser in die Schwungrad-Verzahnung und bringt den massigen V2 in Schwung, nachdem Benzinhahn geöffnet und Choke gezogen wurden. Ein paar Kolbenschläge später schüttelt sich der Antrieb wie ein nasser Hund, findet aber ziemlich schnell seinen Rhythmus – und läuft. Der dumpfe Beat der beiden Kolben lässt Spiegel und Topcase im Leerlauf vibrieren, als ob Gummilager nie erfunden worden wären. Dabei läuft der Vau-Zwo in solchen Ruhekissen. Während der Fahrt halten sich die „good vibrations“ aber in Grenzen, sofern man darauf verzichtet, die im Fahrzeugschein angegebene Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h zu erreichen.
Das Fünfganggetriebe kann sowohl mit der Hacke als auch mit der Fußspitze geschaltet werden. Von einem deutlichen Klacken begleitet rasten die Gänge relativ leicht ein. Im kalten Zustand geht das Wechseln der Gänge etwas zäh vonstatten. Sobald das 90er Öl jedoch Betriebstemperatur erreicht hat, glänzt es fast mit japanischem Standard. Arme mit Bodybuilding- Erfahrung haben leichtes Spiel mit der Kupplung. Für alle anderen beginnt ein muskelaufbauendes Workout.
Die auf den ersten Blick bescheidene Leistung von 72 PS bei soviel Hubraum ist für dieses Motorrad völlig ausreichend. Aus den Abgründen des Drehzahlkellers drückt der Motor geradezu lässig vorwärts. Er ist nicht nur mit üppiger Schwungmasse gesegnet, sondern auch mit einer fein austarierten Mischung aus Vibrationen und Laufruhe, die eine Harley so einzigartig macht.
Bekanntlich gehört es zu den dringlichsten Wünschen der Harley- Gemeinde, eine Electra Glide auf der Autobahn auszufahren. Es geht, dauert aber seine Zeit, die 7 1/2 Zentner zu beschleunigen. Ab Tempo 120 entwickelt die Harley eine schwer zu bändigende Eigendynamik. Dann genügt eine Bodenwelle oder ein Windstoß und der Luxusdampfer wird zur Nussschale im Ozean. Dabei ist der Kapitän dann dem schwingenden Zusammenspiel von Fahrwerk und Reifen ausgeliefert. Trotz ihres hohen Gewichts lässt sich die Maschine erstaunlich kommod lenken. Man kann schon fast von der „Leichtigkeit des Seins“ auf zwei Rädern sprechen. Schon mit kleinem Hüftschwung geht es mühelos durch fast jede Kurve. Überhaupt nicht widerspenstig, sondern erstaunlich handlich ist sie bei niedrigen Geschwindigkeiten. Und selbst im Schritttempo sind die mehr als eine halbe Tonne zulässigen Gesamtgewichts mühelos und auch ohne übermäßig viel Kraftaufwand zu manövrieren. Dank des tiefen Schwerpunktes genügt die kleinste Gewichtsverlagerung und die Harley fällt in Schräglage.
Die amerikanische Vorstellung von „Touring“ verkörpert die Ultra Classic Electra Glide. Verkleidung, Beinschilder, Koffer, Topcase mit Schminkspiegel und reichlich Chrom zeichnen den Supertourer aus. Dazu noch Tempomat, Zigarettenanzünder, Intercom- und CB- Funkanlage sowie Hi-Fi mit separater Bedienkonsole für die Sozia.
Die üppige Verkleidung trotzt, zusammen mit den Beinschildern, allen Widrigkeiten der Natur, sprich Fahrtwind, Regen und Insekten. Auch die Sozia fühlt sich auf der üppigen Sitzbank wohl aufgehoben. Die Koffer und das Topcase bieten ausreichend Stauraum für die kleine oder große Reise.
Von der Krim nach Sibirien? Kein Problem für dieses außergewöhnliche Motorrad. Wem Russland zu weit ist, der fährt nach Dänemark. Dort gibt es auch ein Sibirien. Der zuverlässige, für einen geringen Wartungsbedarf ausgelegte Motor erreicht alle Ziele. Das Ventilspiel wird von hydraulischen Stößeln automatisch eingestellt. Wenig Pflege benötigt der Zahnriemen zum Hinterrad. Alle 8.000 Kilometer schreibt das Werk eine Kontrolle vor.
Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Harleys nur bei exzessiver Pflege lange halten würden. Dem ist schon lange nicht mehr so. Die Evolution-Engine ist ein Paradebeispiel für Zuverlässigkeit „Made in USA“.
Auch zum Thema Bremsen und Harley gab es schon immer mehr lästerliches als löbliches zu berichten. Bis es sich auch nach Milwaukee herumgesprochen hatte, dass im dicht besiedelten Europa sehr viele Verkehrsteilnehmer unterwegs sind und daher eine gut funktionierende Bremsanlage nicht von Nachteil ist. Wohl dosierbar verrichten die drei Scheibenbremsen ihre Verzögerungsarbeit. Der Fußbremshebel in LKW-Format ist ebenso wie die Schaltwippe für dicke Stiefel und kräftige Tritte dimensioniert.
Eine Diskussion über den Preis ist müßig. 31.280 Deutsche Mark waren im Jahr 1989 beim Harley-Dealer fällig. Dafür bekam man ein tolles Auto oder zwei japanische Motorräder. Aber nichts, was den Enthusiasten so erregt wie ein Motorrad aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Harley-Davidson Ultra Classic Electra Glide: Das ist eine knapp 400 Kilo schwere Wohnung auf zwei Rädern in sonniger, wettergeschützter Lage mit ausgezeichnetem Platzangebot für zwei Personen und jede Menge Stauraum. Gegen diesen modernen Altbau waren und sind die damaligen Konkurrenten Honda Gold Wing eine Villa und die BMW K 1200 LT ein Penthouse.
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PS: Eine Lesererfarhung mit einer Harley-Davidson FLHS Electra Glide Sport mit 165 tkm auf der Uhr findet ihr <hier> im Archiv.
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Kommentare
Ein Kommentar zu “Harley-Davidson Ultra Classic Electra Glide, Bj. 1989”
Sehr geehrte Redaktion des Norddeutschen Kradblattes,
Was für ein beeindruckender Bericht! Vielen Dank für die veröffentlichung Online.
Können Sie den Kontakt zu Konstantin Winkler vermitteln? Ich habe eine 1989 Harley-Davidson FLTCU Ultra Classic Tour Glide aus USA importiert (scheint identisch zu Konstantin’s) und würde mich freuen, wenn ich Unterlagen zur Zulassung (Oldtimergutachten, Kopie Fahrzeugschein, Fahrzeugbrief, …) von seiner 1989 Harley-Davidson FLTCU bekommen könnte. Damit ist die TÜV Prozedur wesentlich leichter.
Ich würde mich sehr freuen, mich mit Konstantin direkt auszutauschen.
Herzliche Grüße aus dem Süden der Republik.
Michael LUTZ