aus bma 10/12
Text und Fotos: Pierre Bille

Atlantis aus KielWas heute ein Leckerbissen für jeden Sammler und jedes Museum darstellt, war zu ihrer Bauzeit das Spitzenprodukt einer kleinen, und heute völlig unbekannten Kieler Firma. 

Anfang der 1920er Jahre. Im Deutschen Reich wehte ein frischer Wind. Der Kaiser war entmachtet, eine wackelige Demokratie namens Weimarer Republik wies den Weg in eine ungewohnte Freiheit. Paul von Hindenburg war Deutschlands Reichspräsident, die Namen der Reichskanzler wechselten beinahe jährlich. Für die Deutschen war diese Zeit geprägt von Entbehrungen und einer hohen Arbeitslosigkeit. 

Die Menschen hatten aber auch Träume. Dazu zählte u.a. der Wunsch nach einer größeren Mobilität. Man schielte neidisch nach Frankreich, England oder Amerika. In diesen Ländern war die Anzahl an Kraftfahrzeugen im Vergleich zu Deutschland um ein vielfaches höher. Urplötzlich, wie aus dem nichts, schossen kleine bis kleinste Manufakturen aus dem Boden. In fast jeder kleinen Werkstatt arbeiteten fähige Leute, um mit ihren Konstruktionen die Welt zu beglücken und einen kleinen Teil des Kuchens für sich abgreifen zu können. Doch die wenigsten Hersteller der Marke „Schnellschuster“ überlebten die ersten Wochen. In der Kürze der Zeit, immer unter Kontrolle der Buchhalter, kaum Erfahrungen mit der Konstruktion der Technik. Entsprechend schlecht fiel das Qualitätsurteil aus. Oft schon nach Wochen widmeten sich die eifrigen Motorradbauer wieder ihrer ursprünglichen Beschäftigung…

Paul Artur Kreutzer, so hieß der Gründer der Marke ATLANTIS und Besitzer des Motoren- und Fahrzeugwerk Paul Artur Kreutzer, Kiel, ließ sich anstecken vom Elan der technisch so schnell fortschreitenden Zeit. Im Gegensatz zu seinen Mitbewerbern übereilte er aber nichts. Kreutzer beobachte sorgsam das Geschehen. Er wusste, dass er fernab der deutschen Zentren der Motorradindustrie einen überaus schweren Stand im Zweiradmarkt haben würde und besser auf Qualität statt übereilte Schnellschüsse setzen müsste. Erschwerend kam für ihn hinzu, dass sämtliche Zulieferbetriebe von Kiel weit entfernt waren. Dieser Umstand erhöhte die Herstellungskosten, resultierend aus dem Transport der benötigten Bauteile und dem Versenden der bestellten Motorräder zum Kunden. Da verwundert es heute kaum, dass Marken aus Norddeutschland selten waren und mittlerweile völlig unbekannt sind. Oder wissen Sie etwas über eine Koster aus Schwerin, eine Seehase aus Warnemünde oder eine HERMES aus Hamburg?

Atlantis aus KielPaul Artur Kreutzer begann 1925 mit dem Bau seiner Atlantis-Motorräder. Anfänglich startete Kreutzer mit einem 350 ccm großen Dreikanal-Zweitakt-Motor. Die Doppelrohrrahmen besaßen eine Druid-Federgabel mit Reibscheibendämpfung. Fortschrittlich war deren Kraftübertragung durch zwei Ketten über ein Hurth-Getriebe mit drei Gängen. Gebremst wurde das Krad durch zwei Innenbackenbremsen. 

Im darauffolgenden Jahr, also 1926, kaufte der Firmengründer seine Motoren zusätzlich in der Schweiz und England ein. Diese Einbaumotoren mit Hubraumgrößen von 500, 750 und 1.000 ccm kamen von M.A.G., von JAP sowie von Blackburne. Diese Hersteller besaßen weltweit einen guten Ruf, denn deren Motoren waren hervorragend konstruiert und leistungsfähig. 

Ein bekannter Werbespruch besagt, dass derjenige, der nicht wirbt, irgendwann stirbt. Zum Alltag der Branche zählten unzählige Teilnahmen an großen und kleinen Rennen, tagtäglich geschaltete Anzeigen in den Tageszeitungen sowie in der „MOTOR & SPORT“. Ein sportliches Image war genauso wichtig wie der Nimbus des Unverwüstlichen. Immerhin gewährte Kreutzer auf seine Produkte eine fünfjährige Garantie auf Rahmenbrüche. Auf einigen regionalen Rennen fanden sich auch Fahrer auf einer ATLANTIS ein. So wurde zum Beispiel berichtet, dass beim Fichtenhain-Bahnrennen in Heide, am 1. September 1929, mit der Startnummer 34, ein Ernst Stoltenberg aus Kiel-Blumental (Lizenz Nr. 571) im fünften Rennen in der Klasse C (bis 500 ccm) an der Startlinie stand. Welche Position Ernst Stoltenberg am Ende des Rennens belegte, ist mir leider nicht bekannt. Der erhoffte Sieg blieb scheinbar aus. Wenige Wochen nach dem Rennen in Heide stürzte der Schwarze Freitag die Weltwirtschaft in eine neuerliche Krise.

Im Januar 1930 verkündete die „MOTORWELT“ drei neue Modelle. Eine Tourenmaschine für 1195,- Reichsmark, eine Sportmaschine für 1295,- RM sowie ein Modell „Rennsport“ für 1345,- RM! Bei der „Rennsport“ wurde ein ohv Blackburne-Doppelport-Motor mit 600 ccm eingebaut.

Allen Widrigkeiten zum Trotz konnte Paul Artur Kreutzer die Motorradproduktion noch bis 1932 aufrechterhalten. Dann, nach etwas mehr als 50 gebauten Exemplaren, endete in Kiel die Herstellung dieser schönen und in- ­ter­essanten Motorräder. Ob man es glauben kann? Kenner sprechen hinter vorgehaltener Hand von 52 Exemplaren.

1930 entstand diese hier vorgestellte ATLANTIS 500. In ihrer Erscheinung wirkt sie optisch ausgewogen und farblich herausragend. In einem dunklen Rot emailliert (so wurde das Spritzen damals bezeichnet) und mit golden Zierlinien versehen, ist sie auch heute noch ein echter Hingucker. Dazu die vielen verchromten Teile. Nur wenige Hersteller vertrauten damals einer anderen Farbe außer schwarz. Die Bekanntesten unter ihnen sind Victoria (hellgrau) und Standard (rot mit gelben Rädern). 

Atlantis aus Kiel MotorDen Motor für diese Maschine bezog Kreutzer von der Maschinenbau-Gesellschaft Heilbronn. Die MGH baute ab 1927 nach Konstruktionen von Xaver und Richard Küchen Einbaumotoren für die Motorradindustrie. Dabei handelte es sich um Zwei- und Viertaktmodelle in verschiedensten Hubraumgrößen und Ausführungen. Alleine von den Zweitaktmotoren entstanden von 1927 bis 1936 über 40.000 Stück. Hauptabnehmer waren Marken wie Zündapp, Victoria und Triumph. Insgesamt verwendeten über 36 Marken die Küchen-Einbaumotoren. Paul Artur Kreutzer bezog, wie geschrieben, den von Richard Küchen konstruierten 500 ccm K-Motor mit drei Ventilen. Zwei kleinere Einlassventile standen einem größeren Auslassventil ge­genüber. Diese drei Ventile wurden mit nur einem einzigen Nocken betätigt. Dieser Nocken hatte die Form einer Kurvenscheibe und gab die Schließ- und Öffnungsbefehle über Kipphebel an die Ventile weiter. Imposant: eine richtige Königswelle trieb den Nocken an.

Da ein Motor etwas leisten soll, benötigt er Kraftstoff. Ein zündfertiges Gemisch bildete hierzu ein Graetzin-Vergaser. Im Brennraum wurde das Benzin-Luft-Gemisch dann durch eine BOSCH-Kerze gezündet. Den notwendigen Funken lieferte ein BOSCH-Zündlichtmagnet, welcher aufrecht stehend direkt über ein Zahnrad von der Kurbelwelle angetrieben wurde. Aus seinem Hubraum von 494 ccm schöpfte der Motor 19 PS. Für diesen Motor gab es noch weitere Leistungsstufen: 16 PS aus 350 ccm, 18 PS aus einem seitengesteuerten 492 ccm Motor, sowie 28 PS aus einem 600 ccm großen Motor. Die Kraft des K-Motors wurde über ein Dreigang-Getriebe von Hurth an das Hinterrad weitergereicht. Bis zu 120 km/h sollten als Höchstgeschwindigkeit möglich sein. Für das Jahr 1930 ein Höllentempo. Das normale Tempo auf den deutschen Landstraßen betrug selten mehr als 50 oder 60 Stundenkilometer. Und in der Stadt fuhr man in der Regel etwa 30 Stundenkilometer. Sie sehen, Tempo war nicht alles. Kraft und Ausdauer hießen die Zauberworte.

BA-Kuechen-MotorDer Rahmen der ATLANTIS stellte eine normale Handwerkskost dar. Ein stabiler Rohrrahmen, hergestellt aus einer Vielzahl von Rohren und Muffen, verstiftet und verlötet, ohne Hinterradfederung ausgestattet, genauso wie es weltweit üblich war. 

Einen Leckerbissen in optischer wie auch in technischer Sicht stellte dafür die Vorderradfederung dar. Diese Parallelogramm-Gabel arbeitete mit zwei Federn, die in zwei Führungen, gut vor Staub und Dreck geschützt, die Abfederung der Fahrbahnunebenheiten übernahmen. Damit das Vorderrad nicht in gefährliche Schwingungen geriet, war die Gabel mit zwei Mora-Patent-Reibscheiben-Dämpfer ausgestattet.

Sehr sportlich präsentierte sich der Lenker. Außergewöhnlich gebogen, stellte er dennoch einen guten Kompromiss aus Komfort und dem damaligen Verständnis an einen Sport­lenker dar.

Diese hier vorgestellte Maschine gilt als die vielleicht einzige erhaltene ATLANTIS. Ich erblickte sie im Frühjahr in einer Sonderausstellung in der VW Autostadt in Wolfsburg. Ihre optische Erscheinung zog mich in ihren Bann und ließ mich Foto über Foto von ihr machen.

Atlantis aus KielGerne wollte ich noch mehr über die Maschine und ihren heutigen Besitzer erfahren. Leider war den Mitarbeitern im Zeithaus nur eine Mailadresse bekannt, die sich später als „unknown“ herausstellte. Knapp vier Monate später, dank intensiver Nachforschungen, konnte ich dann doch noch in den Genuss der Telefonnummer und des Namens des heutigen Besitzers kommen. Dieter, ich gebe nur seinen Vornamen preis, konnte mir leider auch nicht viel über die Marke und die Maschine berichten. Umso erstaunlicher war für mich, dass das Vorhandensein des alten DDR-KFZ-Briefes die Lebensstationen der Maschine wieder aufleben lassen könnte! Wieder recherchierte ich tagelang und hatte wieder Erfolg.

In Elbflorenz wurde sie anscheinend das erste Mal zugelassen, zumindest erwähnt das Dokument einen Herrn H. Knoche aus Dresden als ersten eingetragenen Besitzer. Über einen Herrn H. Ruppach kam die Kostbarkeit dann 1978 an den knapp zwanzigjährigen Rudolf Richter aus Schirgiswalde bei Zittau. Während meines Interviews auf die ATLANTIS angesprochen erinnerte sich Herr Richter an einen einigermaßen guten Fahrzeugzustand. Lediglich der Küchen-Dreiventiler war defekt. Als Glücksfall für den jungen Mann entpuppte sich dessen Onkel. Als Kraftfahrzeugschlosser war es für ihn ein Leichtes den Motor zu zerlegen, die Kurbelwelle zu überholen und dann diesen wieder zusammenzusetzen. Chrom und Lack waren für Herrn Richter kein Thema, diese Arbeiten waren schnell erledigt, was aber auch nur dank guter Kontakte gelingen konnte. Dennoch dauerte der Aufbau zwei Jahre. Als Lohn für die Mühe bekam die ATLANTIS bei der technischen Abnahme durch die Juroren des ADMV der DDR 108 Punkte von 110 möglichen. 

Rudolf Richter fuhr in den folgenden Jahren auf einigen Rallye-Veranstaltungen mit. Er sprach von etwa vier bis fünf Fahrten im Jahr. Natürlich wollte ich von ihm wissen, wie sich die ATLANTIS denn so fuhr? „Wie ein springender Bock! Die Eigendämpfung war nicht so gut. Maximal bin ich so etwa 100 km/h mit ihr gefahren. Das reichte völlig aus.“ Mit etwas Wehmut musste Herr Richter die Maschine kurz nach der Wende in Richtung Bodensee verkaufen. 

Dieter, der heutige Besitzer, übergab das Motorrad an zwei Motorrad-Restauratoren. Thomas Richter und Thomas Martin hatten die Aufgabe, die ATLANTIS technisch zu überholen, sie optisch aber um jeden Preis zu erhalten. Aus unserer heutigen Erkenntnis kann man von einer gewissen Weitsicht sprechen, die der Dieter da bewies. Herr Richter hat seine Maschine scheinbar genau an den richtigen Sammler verkauft. Rudolf Richter an sich freut sich eigentlich darüber sehr, es ärgert ihn gleichzeitig aber auch, dass er sie damals verkaufen musste.