aus bma 07/07
von Thomas Schaefer
Als sich in Schwedisch-Lappland die Mischung aus Nebel und Nieselregen endgültig über das Visier meines Helmes legte, ich fast gar nichts mehr sah – weder die unendlichen Wälder zu beiden Seiten der Straße, noch die wenigen trostlosen Siedlungen voller tropfnasser Holzhäuser – spätestens da erfüllte mich von Kopf bis Fuß der Gedanke: Was tust du dir Ende Mai eigentlich an?
Montagnachmittag ist es, und noch 180 km sind es bis Kiruna. Erst am Mittwoch letzter Woche hatte ich mich nachmittags in meinem Hamburger Büro mit den Worten verabschiedet: Ich verschwinde jetzt zu den Lofoten!, und zerstreut hatte ein Kollege geantwortet: Okay, aber Montag sind Sie wieder da? Gerade so, als läge ein Wochenendausflug nach Rügen vor mir. Stattdessen lief am gleichen Abend gegen 20 Uhr aus Rostock die Fähre nach Finnland aus. Mit mir an Bord.
Für Freitag und Samstag wurde ich im südfinnischen Turku zu einem juristischen Seminar erwartet. Allein das war der Anlass für diese Reise. Aber das Motorrad verleitet mich immer wieder zu dem Gedanken: Na, wenn ich schon mal da bin, dann kann ich doch auch gleich…. Und so dachte ich auch hier: So schnell komme ich nicht wieder so dicht an die Lofoten. Wenn ich also schon einmal in Südfinnland bin, dann kann ich doch auch gleich….
Donnerstagabend traf ich im finnischen Hanko ein. Es ist angenehm, auf finnischen Straßen zu fahren: Griffiger Straßenbelag führt durch endlose Natur ohne Lärm, ohne Verkehr, durch friedliche Dörfer. Die Geschwindigkeit ist mit 100 km/h außerorts zwar stark beschränkt. Aber seit wann sind für mich Geschwindigkeitsbeschränkungen denn mehr als eine Anregung? Gut gemeint sind sie, aber überflüssig!
Freitag und Samstag musste ich dem Motorrad ganze zwei Tage und in einem Tagungshotel verbringen; ich gierte förmlich nach dem Sonntagmorgen und hatte als erstes Etappenziel Oulu in Nordfinnland vorgesehen.
Der Sonntagmorgen weckte mich mit dem Geräusch nicht endenden Landregens. Tief bedrückt rollte ich vorsichtig über nasse Straßen nach Norden und hoffte dem schlechten Wetter zu entkommen. Nördlich von Pori blieb der Regen endlich zurück und wieder genoss ich auf meiner Honda Doppel X den Rausch der Geschwindigkeit: Die Ortschaften waren sonntäglich verschlafen, die gerade Straße führte durch flache Landschaft – die wenigen trostlosen Tankstellen am Straßenrand schufen gar richtige Roadmovie-Stimmung. Ich jagte blitzschnell dahin, wedelte über doppelte gelbe Streifen auf der Straße, die für mich jeglichen Sinn verloren hatten. Und warum bei der Einfahrt in menschenleere Städte und Dörfer abbremsen? Mittags kam Vaasa.
Just in diese Stimmung abgrundtiefer Ausgeglichenheit mit mir, mit der Natur, ja mit der ganzen Welt überhaupt, da drang nördlich von Vaasa mit einem Mal aus der Ferne das hässliche Geheul eines Krankenwagens. Der muss natürlich vorbeifahren dürfen, also hielt ich mich scharf rechts am Straßenrand. Aber er fuhr nicht vorbei. Also verlangsamte ich, damit der Krankenwagen mich endlich überholen konnte. Aber er überholte mich nicht. Also hielt ich an und blickte in den Rückspiegel. Was hinter mir mit Sirene und Geheul zum Stehen kam, war die Polizei!
Einer der beiden Polizisten wollte wissen, warum ich erst jetzt angehalten hätte? Ob ich der Polizei etwa davonfahren wollte? Seit über 30 km würde ich verfolgt! In der nächsten Ortschaft hätte man mich abgefangen. Ich sei in einer Ortschaft mit 137 km/h gemessen worden. Ein Strafverfahren würden sie einleiten, meinen Führerschein müssten sie beschlagnahmen und an die Hamburger Polizei schicken.
Für mich war das eine schlimme Stunde, und der einzige Trost bestand darin, dass ich mein Motorrad behalten durfte. Für die Rückfahrt nach Hamburg erhielt ich ein DIN-A 4 Blatt, was für eine weitere Woche als vorläufiger Führerschein galt – zum Vorzeigen bei weiteren Verkehrsverstößen deshalb höchst ungeeignet, weil der Grund der Führerscheinbeschlagnahme genauestens angegeben war. Jeder Blick in mein aufgeklapptes Portemonnaie ist schrecklich: Das Fach ist dunkel und leer, wo sonst der Führerschein steckt!
Seitdem fahre ich so Motorrad wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln fliegt. Heute morgen noch hatte ich aus Oulu einen finnischen Rechtsanwalt angerufen und erfahren, dass mir bis zu fünf Jahren Führerscheinentzug drohen. Erst als ich bei Haparanda Finnland verlassen hatte und dann am schwedischen Ufer des Tornio-Flusses den Polarkreis erreichte, erst da drängte sich wieder rechtlicher Sachverstand in meinem Kopf: Wieso interessiert mich ein Fahrverbot in Finnland?
Gedanklich etwas entspannter, dafür vom Wetter ziemlich mitgenommen, komme ich abends in Kiruna an. Die Stadt wirkt Ende Mai noch spätwinterlich. Vor meinem Zimmer im Bahnhofshotel werden unermüdlich schwer beladene Güterzüge rangiert. Über die hohen Abraumhalden der Erzgruben hinweg blicke ich auf das Fjell mit Schwedens höchsten Bergen. Dahinter wiederum muss Narvik liegen, mit dem Zug in nur zweieinhalb Stunden erreichbar.
Wie konnte ich nur so vermessen sein und strahlende Sonne auf den Lofoten erwarten? Bei gutem Wetter breche ich am Dienstagmorgen zwar in Kiruna auf, aber die Straße führt geradewegs auf dichte Wolken zu. Die stauen sich auf norwegischer Seite vor dem Gebirgskamm. Noch auf schwedischer Seite peitscht schließlich Regen, Altschnee türmt sich immer höher zu beiden Seiten der Straße und der vereiste Torneträsk-See schimmert silbern. So kann ich keinen Lastwagen und keinen Bus überholen, rolle ganz langsam Riksgränsen entgegen und bin dankbar für die nachträglich eingebaute Griffheizung.
Hinter der Grenze wird die Straße schmal, asphaltgeflickt und sehr kurvenreich. Sorgenvoll rolle ich, im Nacken stets einen Lastwagen oder einen Bus, eine steile Kurve nach der anderen zum Narvikfjord hinunter. Plötzlich reißt die Wolkendecke auf und tief unter mir sehe ich den Fjord – aber nicht nur das: Erstmals seit Deutschland erblickt mein Auge grüne Bäume, zartgrün zwar, aber es deckt die Bergflanken unten im Tal.
Narvik erlebe ich als eine geschäftige Stadt. Aber ein kräftiger Regenschauer jagt den anderen, und ich verlasse die Stadt schnell und folge der Straße Kurve um Kurve, Brücke um Brücke hinaus in Richtung Vesterålen, an deren Spitze die Inselgruppe der Lofoten liegt. In Gödingen auf den Vesterålen finde ich abends ein warm geheiztes Privatzimmer mit Blick auf den Vestfjord und kann die Regenwolken betrachten, die in unendlicher Folge Wasserschleier über Land und Meer ziehen. Ich habe den nördlichsten Punkt der Tour erreicht! Von nun an geht es nur noch südwärts. Der Juni beginnt nächste Woche, draußen sind es acht Grad, von Sonne ist keine Rede – von Dunkelheit aber auch nicht.
Am Mittwoch erreiche ich die Lofoten. Man muss sich ihnen von hinten über die Vesterålen nähern und in Melbu die Fähre nehmen. Die Fähre nimmt Kurs auf die gezackte Bergkulisse, die man hinter den Schleiern der Regenwolken vermutet.
Und dann geschieht ein Wunder. In Svolvær reißt der Himmel auf und gibt für diesen Tag endgültig den ungetrübten Rundumblick frei: Auf die spitzen Lofotenberge, die Fjorde, die steilen Bergflanken und auf die malerischen Ortschaften, die sich zwischen Wasser und Berge drängen. Je weiter man die Europastraße 10 hinausfährt, desto beeindruckender wird die Kulisse. Jede Insel ist noch uriger ist als die vorherige. Und ganz weit draußen, kurz bevor die Europastraße 10 abrupt endet, dort liegt der Ort Reine, umgeben von einem Kranz spitzer Berge, der wohl bekanntesten Ansicht der Lofoten. In Å, dem äußersten Ort der Lofoten, komme ich abends sogar in einem Rorbu unter. Es ist eines der vielen ins Wasser gebauten Holzhäuser, die den Fischern zur Dorschfangzeit als Unterkunft dienen. Unter den Dielen gluckert das Wasser des Nordmeeres, über den Dielen ist die Elektroheizung angestellt. Von Narvik bis Å bin ich genau 500 km gefahren.
Am Donnerstag legt um 7.45 Uhr früh die Fähre nach Bodö ab. Sie ist, daran gibt es keinen akustischen Zweifel, fest in deutscher Hand: Angler auf dem Heimweg lassen einander an ihren Abenteuern der vergangenen Tage teilhaben.
Trondheim ist mein heutiges Etappenziel, aber ich schaffe es nicht. Schwere Regenwolken sind aus dem Süden bis zum Polarkreis vorgedrungen, und sie begleiten mich von Fjell zu Fjell mit Nässe und Nebel während des ganzen Tages.
Am Freitagmorgen ist der Himmel wieder blau, und ich fahre die nicht endende Straße weiter südwärts, komme zunächst durch einen Torbogen, der die Grenze zwischen Nord- und Südnorwegen markiert. Hier erst befinde ich mich in der geografischen Mitte des Landes. Am Nachmittag aber rolle ich schon durch Trondheim und sehe Wunderbares. Zaghaft blüht erster Flieder, die Kastanien knospen auf, die Sonne verstrahlt erstmals Wärme. Es gibt also doch noch Sommer?
Von hier nehme ich den Weg über Röros nach Süden; ich genieße nun das Befahren der norwegischen Täler mit ihren schön geschwungenen, gut ausgebauten Straßen. Ich genieße auch die Andeutung von lauer Sommerluft, das Wetter wirkt verlässlicher, die Regenwolken habe ich weit im Norden zurückgelassen. Am Samstag nimmt mich die umtriebige Welt mit ihrem Lärm und ihrem Verkehr wieder fest in ihren Griff. Zwar schwinge ich am Vormittag noch einsam von Kurve zu Kurve durch das Österdal, aber ab Elverum wird die Straße mehrspurig, mit Auf- und Abfahrten und abgezirkelten Rastplätzen und – nicht zu vergessen – drastischen Geschwindigkeitsbeschränkungen. Wo Wildwechsel angezeigt und die Geschwindigkeit beschränkt wird, da rechne ich, zu recht, mit Polizei. Wie kastriert komme ich mir vor, wenn ich langsam an ihnen vorbeifahre.
Am Sonntag um 13 Uhr läuft die Fähre nach Kiel aus; an Deck ist es nur mit nacktem Oberkörper auszuhalten. Und morgen Abend, am Montag wird die Gültigkeit meines großzügig bemessenen Ersatzführerscheins enden…
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