aus bma 04/98

von Klaus Herder

Die Erkenntnis ist ebenso klar wie erschütternd: Ich bin zu fett. Und zu lahm bin ich auch. Diese bitteren Wahrheiten lassen genau zwei Reaktionen zu. Erstens: Na und, ich fühle mich trotzdem wohl. Zweitens: Es muß etwas passieren. Wie lautet die beste Diät? Wo ist das nächste Fitneßstudio?
Yamaha YZF-R1 (Mod. 1998)Die unter schleichender Verfettung leidende Yamaha-Supersportabteilung entschied sich für den zweiten Ansatz als Problemlösung und schickte ihr Einliter-Big-Bike zur Fastenkur. Was dabei herauskam, hat mit dem mit 145 PS auch nicht gerade untermotorisierten Pummelchen YZF 1000 R Thunderace außer dem Arbeitsprinzip (Viertakt) und der Zylinderanordnung (Reihenvierzylinder) praktisch nichts mehr gemein. Der neue Champion im Hause Yamaha heißt YZF-R1. Die Nennung zweier Werte reicht aus, um den Erfolg des Fitneßprogramms zu verdeutlichen: 177 Kilogramm trocken, 150 PS offen. Noch Fragen, Kawa? Ja, Honda. Wie war es möglich, die halbe Masse einer Gold Wing mit der dreifachen Leistung einer 800er Intruder zu kombinieren?
Erst einmal verfuhren die Yamaha-Techniker nach dem Motto „kleiner ist leichter ist besser”. Der im Vergleich zur YZF 1000 R nicht mehr ganz so kurzhubige Vierzylinder der R1 wiegt nur noch 65,3 Kilogramm. Das sind satte 9,5 Kilo weniger als das, was der Thunderace-Motor auf die Waage bringt. Um Gewicht zu sparen, faßten die Techniker zum Beispiel verschiedene Bauteile zusammen. So bestehen die obere Gehäusehälfte und die Zylinderbank aus einem Stück. Das spart Verschraubungen, senkt die Fertigungskosten (Dichtflächen entfallen) und macht den Motor sehr steif. So steif, daß man ihn als tragendes Element ins Fahrwerk integrieren konnte, was wiederum Rahmenbauteile und damit Gewicht spart.

 

Yamaha YZF-R1 (Mod. 1998)Die R1-Kolben laufen direkt in den neuartig beschichteten Aluzylindern. Dadurch entfallen die bisher üblichen eingeschrumpften und ziemlich schweren Guß-Laufbuchsen. Als Krönung ziert den Zylinderkopf ein ultraleichter Magnesiumdeckel. Der Nockenwellenantrieb und der Lichtmaschinenrotor sitzen direkt am rechten Kurbelwellenende. Das spart zusätzlich Lager und Antriebe und damit Gewicht. Damit der Fünfventiler nicht nur schön leicht sondern auch schön kompakt geriet, verfrachteten die Ingenieure die Hauptwelle des Sechsganggetriebes kurzerhand über und nicht hinter die Kurbelwelle – und das bringt im Vergleich zum Thunderace-Motor eine Ersparnis von 81 mm.
Doch nicht nur der Motor mußte Masse und Maße lassen. Dem Rahmen ging’s ebenfalls ans Alu-Rohr. Daß Stabilität nur wenig mit Gewicht, dafür aber umso mehr mit Querschnitten und Statik zu tun hat, nutzten die Japaner beim Deltabox-Brückenrahmen konsequent aus. Beim filigranen Rahmenheck ging der Leichtbau-Wahn allerdings etwas mit den Technikern durch. Die sauber verarbeiteten Alu-Vierkantrohre sind nämlich fest mit dem Hauptrahmen verbunden, bei einer Beschädigung läßt sich das Heck nicht einzeln austauschen. Eine Verschraubung wäre zwar etwas schwerer, dafür aber auch deutlich praktischer gewesen. Zum Trost spendierte Yamaha bei der Vier-in-eins-Auspuffanlage Edelstahlkrümmer und einen mit Carbon ummantelten Alu-Schalldämpfer.
Yamaha YZF-R1 (Mod. 1998)Genug der Theorie, es folgt die Praxis: Die erste Überraschung gibt’s bereits bei der Sitzprobe. Das Ding kann einfach keine Tausender sein, so kompakt, knuffig und absolut vertrauenerweckend wirkt die R1. Sportfahrer, die eine 600er kennen, brauchen sich zumindest platzmäßig nicht umgewöhnen. Auffällig ist die sehr weit nach vorn verschobene Sitzposition. Alle Last dem Vorderrad, lautet die Devise. Yamaha verspricht damit die ideale Gewichtsverteilung von jeweils 50 Prozent vorn und hinten. Der kurze 18 Liter-Tank, der nicht zu tief liegende, zweiteilige Alu-Lenker und die knapp geschnittene Vollverkleidung verstärken noch die Lauer-Kauer-Haltung, die dank des recht bequemen Sitzpolsters und der nicht zu weit hinten montierten Fußrasten durchaus langstreckentauglich ausfällt.
Der Kaltstart gelingt völlig unspektakulär, die Gemischanreicherung kann nach kurzer Strecke zurückgenommen werden. Was danach kommt, ist extrem gefährlich. Gefährlich deshalb, weil der R1-Pilot ständig Gefahr läuft, sein Punktekonto in Flensburg gnadenlos auszureizen. Das Gemeine an der R1 ist, daß sie weder besonders aufreizend klingt, noch im Leistungseinsatz eine Spur von Brutalität zeigt. Das mit Öl und Benzin befüllte und inklusive Bordwerkzeug knapp über 200 Kilogramm wiegende Bike zieht einfach wie am Gummiband gezogen davon. Kein Leistungseinbruch, keine Verschnaufpausen, einfach nur leise Kraft im Überfluß. Knapp oberhalb der Leerlaufdrehzahl verträgt die R1 Vollgas, über 2000 U/min läuft der Vierzylinder wunderbar rund, ab 3000 U/min zieht es einem die Arme lang und oberhalb von 8000 U/min fliegt der Kopf weg – einfach so und ohne viel Trara. 150 PS und eine perfekte Vergaserabstimmung machen’s möglich.
Yamaha YZF-R1 (Mod. 1998)Dafür, daß es bereits in mittleren Drehzahlregionen flott vorangeht, sorgt neben der schieren Leistung auch eine unscheinbare Walze im Auspuff. Abhängig von Drehzahl, Geschwindigkeit, Gangstufe und Drosselklappenstellung verändert das Exup-System den Abgasgegendruck, das Drehmoment dankt es. Nach 3,2 Sekunden liegen 100 km/h an, die 200er Schallmauer ist bereits nach 8,6 Sekunden erreicht, Feierabend wird dann bei rund 270 km/h gemacht. Interessiert es übrigens irgendjemanden, daß die R1 in Deutschland offiziell nur mit 98 PS verkauft wird? Eben. So souverän der Motor zu Werke geht, so unauffällig benimmt sich auch das Fahrwerk. Gerade mal 1395 mm Radstand, steile 66 Grad Lenkkopfwinkel und nur 92 mm Nachlauf lassen zwar auf extreme Handlichkeit schließen, doch von extrem kann eigentlich gar keine Rede sein. Die R1 wuselt zwar flott und zielgenau ums Eck, doch hypersensibel ist sie nicht, und von allein fällt sie erst recht nicht in die Kurve. Die Yamaha verhält sich herrlich neutral, verzeiht auch mal kleine Fahrfehler und die folgenden Lenkkorekturen und entspricht im Handling einer ordentlich abgestimmten 750er.
An der Vorderhand spendierte Yamaha der R1 mit 135 mm Federweg für Sportlerverhältnisse sehr viel Reserve, um auch beim Ausfedern das Rad noch sauber auf der Straße zu halten. Hinten sind es klassenübliche 130 mm. Die Upside-down-Gabel und das Bilstein-Zentralfederbein sind selbstverständlich voll verstellbar. Vorn ist klassenüblich ein Reifen im Format 120/70 ZR 17 montiert, am Hinterrad legte Yamaha eine Schippe nach und verbaut die Größe 190/50 ZR 17. Imagemäßig ist das unerhört wichtig, fahrtechnisch stört es glücklicherweise nicht weiter – das Ding fährt sich nicht schlechter als ein theoretisch überlegener 180er.
Auf die Gefahr hin, daß die Fahreindrücke etwas eintönig wirken – auch für die Bremsen gilt: völlig unspektakulär. Die von einteilig gegossenen Bremssätteln in die Vierkolben-Zange genommenen Scheiben sind schwimmend gelagert, Dosierbarkeit und Ansprechverhalten sind oberer Klassenstandard. Die hintere Zweikolben-Bremszange erledigt ihren Job tadellos.
Daß die Yamaha-Ingenieure auch an nützliche Kleinigkeiten gedacht haben, zeigen die vielen gut gemachten Detaillösungen. So ist der Schalthebel an der Unterseite gummiert. Das schont die Stiefel beim Hochschalten und gibt ein direktes Gefühl beim Runterschalten. Die Verbindung von Schalthebel zur Schaltwelle erfolgt geradlinig durch den Rahmen. Trotzdem könnten die Gangwechsel noch etwas geräuschloser abgehen – endlich mal ein kleiner Schönheitsfehler und ein Ansatzpunkt für Nachbesserungsarbeiten. Beim Abblend- und Fernlicht gibt es dagegen nichts nachzubessern – beides ist vorbildlich. Die nur minimalen Windschutz bietende Verkleidung wird servicefreundlich mit Schnellverschlüssen befestigt.
Das Cockpit ist eine Kombination sowohl aus Analog- als auch aus Digitalinstrumenten. Die Drehzahl ist auf einen Blick auf dem konventionellen Rundinstrument zu sehen, die Geschwindigkeit wird als Digitalanzeige angegeben. Zwei Tageskilometerzähler, eine Benzinreserve-Anzeige mit Restkilometer-Angabe, eine Zeituhr und eine Kühlmitteltemperatur-Anzeige gehören ebenfalls zum Informations-Angebot.
Die wahre Funktion des überraschenderweise vorhandenen Soziusplatzes ist übrigens auch geklärt: Das Ding taugt hervorragend zur Montage von einem der beiden angebotenen Sitzbankaufsätze, die das Kreuz des Fahrers mit unterschiedlich starken Polstern abstützen.
Die 21.490 Mark teure Yamaha YZF-R1 ist zur Zeit das Referenzmodell der Supersport-Klasse. Neben der schieren Leistung und der gelungenen Fahrwerksabstimmung ist es vor allem die Lässigkeit, mit der die Yamaha ihre Kraft auf die Straße bringt und dabei jederzeit gut berechen- und kontrollierbar bleibt. Es war eine gute Entscheidung der Supersport-Verantwortlichen bei Yamaha, das Spitzenmodell einem ausgeklügelten Fasten- und Fitneßprogramm zu unterziehen.