aus Kradblatt 10/13
von Klaus Herder

Samcro lässt grüßen - XV Model :-)Japan ist für Harley-Davidson der wichtigste Exportmarkt. In Japan wurden bereits vor dem Zweiten Weltkrieg und noch bis in die 1950er Harleys ganz offiziell in Lizenz gebaut und unter dem Namen „Rikuo“ verkauft. Und wohl in keinem anderen Land – von den USA einmal abgesehen – gibt es eine rührigere Harley-Szene mit jeder Menge Customizern und Fachmagazinen. Japaner lieben Harley-Davidson – und das schon seit sehr langer Zeit.
Was haben nun diese Vorbemerkungen in einem Fahrbericht über eine neue Yamaha verloren? Sie helfen vielleicht zu verstehen, mit welcher – zumindest in unseren europäischen Augen – ungeheuren Dreistigkeit Yamaha die Harley-Davidson Sportster kopiert hat. Natürlich verliert der in den letzten Jahren schwer gebeutelte Hersteller, momentan die Nummer acht der deutschen Zulassungshitparade (noch hinter KTM und Triumph…), in seinen offiziellen Mitteilungen kein Wort darüber. Dort ist nur vom „typisch japanischen Neo-Retro-Bike“ die Rede, aber auf welches formale Vorbild sich das „Retro“ bezieht, dürfte allen klar sein. Der Begriff „Kopie“ trifft es auch nicht wirklich. Im asiatischen Raum hat Kopieren im Selbstverständnis auch nichts mit Ideen- oder Design-Diebstahl zu tun, wird viel eher als „Respekt erweisen“ verstanden und quasi als „Hommage“ gehandelt. Wie auch immer: Bezeichnend ist jedenfalls, dass die hierzulande als XV 950 vermarktete und ab Oktober im Handel stehende Yamaha bereits seit geraumer Zeit in den USA als „Star Bolt“ zu haben ist. Wobei „Bolt“ die Typenbezeichnung ist und es sich bei „Star“ um die Chopper- und Cruiser-Vertriebsmarke von Yamaha USA handelt. Die Pressevorstellung der XV 950 und ihrer mit höherwertigeren Federbeinen, einem Sitz im Wildlederlook und mit anderen Farben/Designs antretende Schwester XV 950 R fand übrigens in Los Angeles/Kalifornien statt – alles klar?!
YamahaXV 950 R Als Chopper oder Cruiser will Yamaha die beiden XV-Schwestern aber überhaupt nicht verstanden wissen. Wer beim Yamaha-Internetauftritt die Rubrik „Cruiser“ anklickt, wird nicht fündig. XV 950 und XV 950 R sind in der Abteilung „Sport Heritage“ zu finden – in illustrer Gesellschaft von XJR 1300 und Vmax. Ein kurzes Verweilen in der Cruiser-Kategorie lohnt trotzdem, denn mit der XVS 950 A Midnight Star taucht dort immerhin die Organspenderin auf: Ein etwas übergewichtiger und schwülstiger Mittelklasse-Cruiser, der seit 2009 vorwiegend gemütliche Herren weit jenseits der 50 glücklich macht. Der in der XVS immerhin 54 PS starke, aber mit satten 280 Kilo Kampfgewicht plus Besatzung kämpfende 942-Kubik-Motor bekam vor der Transplantation aber noch eine kleine Frischzellenkur verpasst, um ihm im Drehzahl-Keller und -Erdgeschoss etwas mehr Punch zu verpassen. Dem luftgekühlten 60-Grad-V-Zweizylinder spendierten die Yamaha-Techniker eine komplette Erneuerung von Ansaugtrakt und Luftfilter, ein neues Mapping und auch eine neue Zwei-in-eins-Auspuffanlage. Ein neuer Gummidämpfer für die Kupplung und ein neuer, mit 21 Millimetern – zumindest für Yamaha-Verhältnisse – rekordverdächtig schmaler Zahnriemen vervollständigte die antriebsseitige Modellpflege. Mit nun 52 PS bei 5500/min fällt die Leistung zwar geringfügig niedriger aus, doch zum Ausgleich gibt’s mit maximal 80 Nm bei 3000/min mehr Drehmoment. Zum Vergleich: Die 883er-Sportster von Harley leistet zwar 53 PS bei 5900/min, ihr etwas humraumschwächerer Motor stemmt aber auch nur maximal 70 Nm bei 3750/min – und sie ist zehn Kilo schwerer.
Yamaha XV 950 R TachoDie Rahmenbedingungen sind bei der XV komplett neu: Der ohne Ausgleichswelle antretende Motor sitzt als mittragendes Teil im neuen Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen. Das aus Fender und Halter bestehende Heck ist angeschraubt, was Umbauern, denen die XV vom Hersteller ganz ausdrücklich ans Herz gelegt wird, die Arbeit ungemein erleichtert. Überhaupt ist die ganze Maschine ein Eldorado für Customizer, denn auf verwirrenden Kabelbaumsalat samt fern, womöglich im Scheinwerfer montiertem Relais-Chaos verzichteten die Yamaha-Konstrukteure. Alles ist klar gegliedert und ohne übermäßig großen Aufwand zu strippen. Clevererweise bietet Yamaha auch schon ab Modellstart über 35 Custom-Umbauteile im hauseigenen Zubehörprogramm an. Ein ganz anderer Charakter als die Herzspenderin XVS ist die XV aber auch schon im Serienzustand: So hat sie einen um eindrucksvolle 11,5 Zentimeter kürzeren Radstand, der Lenkkopf steht über drei Grad steiler und statt auf einem breiten 130/70-18er rollt die XV 950 vorn auf einem schmalen 100/90-19er. Hinten reichen der XV 150/80-16; für die XVS mussten es noch 170/70-16 sein. Dazu ein 12,2- statt 17-Liter-Tank – und schon ist aus dem plüschigen Cruiser ein satte 30 Kilo leichterer Bobber geworden.
Yamaha XV 950 R ZahnriemenDie Yamaha-Produktverantwortlichen verzichteten gottlob auf jeglichen Schnickschnack und aufs in Cruiser-Kreisen übliche Blendwerk. Die Fußrasten sitzen bequem mittig und nicht unnötig weit vorn, der flache Lenker ist nicht zu breit und nicht zu sehr gekröpft, und was nach Blech aussieht ist auch fast immer Blech, manchmal sogar in Form von Edelstahl. 690 Millimeter Sitzhöhe machen Kurz­beiner glücklich, die gelungene Ergonomie passt aber auch Einsfünfundachtzig-Typen. Der Fahrer lümmelt entspannt, aber erfreulicherweise nicht pseudo-cool auf seinem Einzelsitz – einfach so, wie es sich bei einem ganz normalen Motorrad gehört. Für Europa gehört der Soziusplatz inklusive Beifahrerfußrasten zum Lieferumfang, und hierzulande ist im Unterschied zu dem im Bild gezeigten US-Modell auch immer ein ABS an Bord.
Der bequem untergebrachte XV-Treiber bekommt von Anfang an kräftig auf die Ohren: Herrlich bassig tönt es aus dem gar nicht mal so hässlichen Serienauspuff. Die Kupplung lässt sich spielend leicht bedienen. Das Rühren im Fünfganggetriebe sollte dagegen besser mit etwas Nachdruck erfolgen, die Gänge rasten zuverlässig, aber nicht übermäßig geschmeidig. Was kaum weiter interessieren dürfte, denn die Unten-Mitte-Abstimmung ist gelungen, und die XV 950 zieht mit schönem, gleichmäßigen Punch ihre Bahn, ohne dass irgendwo hektische Schaltarbeit gefragt wäre. Wer möchte, kann mit dem schicken Gerät niedertourig bummeln, aber die erstaunlich handliche Yamaha ist auch einer etwas flotteren Gangart nicht abgeneigt. Der mit immer spürbaren, aber nie nervigen Vibrationen antretende Motor gibt auf Wunsch auch den Flott-Hochdreher.
Schicker matter LackDazu passt, dass Zielgenauigkeit und Neutralität in Kurven tadellos ausfallen. Ins Winkelwerk lässt sich auf der XV mit deutlich mehr Schräglage als mit der XVS-Cruiserschwester stechen, ohne dass etwas ernsthaft aufsetzt. Die nur in der Federvorspannung verstellbaren Federbeine der 8595 Euro teuren XV 950 sind zwar keine Offenbarung, reichen für den halbwegs normalen (Solo-)Betrieb aber eigentlich völlig aus und passen abstimmungsmäßig gut zur sensiblen 41er-Telegabel. Die mit Ausgleichbehältern bestückten „Piggy-back-Stoßdämpfer“ (piggy-back = Huckepack) der XV 950 R lassen sich noch zusätzlich in der Druckstufe regeln und sprechen auch tatsächlich etwas besser an, zwingend erforderlich sind sie aber nicht. Sie sehen aber etwas sportlicher aus, was durchaus zum „Sport Heri­tage“-Charakter der XV passt. Wer statt Weiß oder Schwarz der XV 950 lieber Mattgrau oder Nato-Oliv (korrekt: „Camo Green“) haben möchte und vielleicht auch auf Wildleder-Optik beim Sitz und einen lackierten Streifen auf der Tankoberseite Wert legt, muss ohnehin zur 300 Euro teureren XV 950 R greifen und bekommt die Huckepack-Federbeine dann sowieso dazu.
Yamaha XV 950 ohne R gibts in schwarz und weißOder aber – womit wir vermutlich beim grundsätzlichen Problem der XV 950 wären – er überlegt sich, doch lieber zum vermeintlichen Original zu greifen. Die XV 950 ist ein toll gemachtes Motorrad, aber sie ist preislich nicht allzu weit von der Harley-Sportster entfernt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Sportys ab Modelljahr 2014 – also ab sofort – auch mit ABS zu haben sind. In Zahlen: Eine mit ABS bestückte Harley XL 883N Iron kostet 9075 Euro – nur 480 Euro mehr als die Yamaha XV 950. Natürlich kann die Yamaha einiges besser als das Ami-Eisen, aber in Sachen Image und Werterhalt sieht die Sache dann vermutlich nicht mehr so gut aus.
Andererseits ist die XV 950 eigenständig und stark genug, um dem formalen Vorbild nicht nur auf dem Feld der Landstraßen-Ehre ordentlich Paroli bieten zu können. Und nicht jeder potenzielle Interessent steht auf den Harley-Hype. Es müsste also genug Menschen geben, die einfach nur ein schickes, munteres und völlig problemloses Motorrad für alle Tage haben möchten, das sich mit recht einfachen Mitteln und damit durchaus bezahlbar individualisieren lässt. Wir dürfen gespannt sein, was die Custom­bike-Szene aus der XV machen wird, die ersten Projekte sind bereits in Arbeit. Und wir können uns darüber freuen, dass Yamaha endlich aus der Lethargie erwacht ist und ein echtes Neuheiten-Feuerwerk zündet. Stichwort MT-09 – demnächst in diesem Magazin…