aus Kradblatt 11/14 von Klaus Herder

Die große Unbekannte: Yamaha XV 1900 A Midnight Star

Front Yamaha XV 1900A Midnight Star

Vielleicht kennen Sie das ja noch aus der Schule: Da gab es in fast jeder Klasse diesen großen, stattlichen Typen: ziemlich muskulös, gar nicht mal schlecht aussehend, richtig nett, eigentlich der Traum aller Mädchen und auch Schwiegermütter, aber total schüchtern. So schüchtern, dass er praktisch nie eins der gefragtesten Mädels abbekam. Mit denen zogen dann meist die kleinen, frechen und lauten Typen ab – das ewige Schicksal der stillen Riesen.

Die Giganten unter den Mauerblümchen gibt’s auch in der Motorradwelt. Ein ganz typisches Beispiel dafür ist der Cruiser Yamaha XV 1900 A Midnight Star, der immerhin schon seit 2006 in Deutschland das Yamaha-Angebot bereichert. In den USA ist der vollgetankt mindestens 346 Kilogramm schwere Trittbrettfahrer unter der Modellbezeichnung „Roadliner“ bzw. – üppiger ausgestattet – als „Stratoliner“ bereits seit 2005 ein echter Star. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn dort sind Yamahas Cruiser-Dickschiffe keine Yamahas, sondern segeln unter dem Markennahmen „Star“. Mit dem Star-Ruhm ist es zumindest hierzulande für den 1900er-Twin aber nicht so weit her; denn seit der Modelleinführung fand die größte XV insgesamt nur etwas über 1000 Neukäufer. Zum Vergleich: Vom 1200er-Sportster-Modell „Forty-Eight“ verkauft Harley-Davidson ähnlich viele Exemplare – pro Jahr! Und selbst das technisch und optisch bei weitem nicht so reizvolle Schwestermodell XV 1300 A Midnight Star brachte es in kürzerer Zeit auf mehr als doppelt so viele Verkäufe.

 Yamaha XV 1900A Midnight StarDie Cruiser-Welt ist einfach ungerecht, denn außer dem bis heute fehlenden ABS kann man der XV 1900 eigentlich nichts vorwerfen. Wer jemals das Vergnügen haben durfte, die Wuchtbrumme etwas länger und gern auch auf kurvigem Geläuf zu bewegen, fragt sich verwundert, warum Menschen woanders deutlich mehr Geld für sehr viel weniger Cruiser ausgeben. Am Design kann es eigentlich nicht liegen, denn das, was die Yamaha-Formgestalter unter dem Oberbegriff „Streamliner-Look“ auf zwei Räder gestellt haben, kann sich wirklich sehen lassen und ist dabei absolut eigenständig. Vom gigantischen Scheinwerfer über die Blechzierstreifen am Tank, die stromlinienförmigen Lenkerklemmfäuste und Armaturen sowie die spitz zulaufenden Blinkergläser bis hin zu den Schwingenenden fließt bei der XV nahezu jede Form. Fließend ist womöglich auch die Grenze zum Kitsch. Und beim barocken Tachometer mit dem Armbanduhr-kleinen Drehzahlmesser vielleicht sogar schon überschritten.

 Yamaha XV 1900A Midnight StarEin Blender ist die XV 1900 deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil: Was bei ihr nach Blech aussieht, ist auch Blech. Es gibt keinen noch so gut versteckten Kühler, denn der 90 PS bei 4750/min leistende und maximal 155 Nm bei rekordverdächtig niedrigen 2500/min stemmende 48-Grad-V-Twin ist luftgekühlt. Die Stoßstangenführungen sind ebenfalls genau das, wonach sie aussehen, denn ihre beiden Nockenwellen beheimatet die XV 1900 im Untergeschoss. Was die Yamaha-Techniker nicht daran hinderte, Vierventil-Zylinderköpfe, Hydrostößel und zwei Ausgleichswellen zu verbauen. Doppelzündung, elektronisch geregelte Einspritzanlage und geregelter Kat sind im Hinblick auf Euro 3-Tauglichkeit selbstverständlich auch an Bord. Und seit dem Modelljahr 2013 sorgt eine Anti-Hopping-Kupplung dafür, dass beim womöglich etwas unsensiblen Herunterschalten keine Unruhe übers Hinterrad ins Fahrwerk kommt.

Tacho Yamaha XV 1900A Midnight StarDie XV 1900-Technik ist genau dort oldfashioned, wo es sich für einen waschechten Cruiser gehört, die alten Werte hochzuhalten. Und sie vertraut dort auf moderne Konzepte, wo es technisch sinnvoll ist und das Gesamtkunstwerk Cruiser nicht weiter stört. Zum Beispiel beim Rahmen, denn der ist eine Doppelschleifenkonstruktion aus Alu-Guss. Aluminium ist auch der gewichtssparende Werkstoff, aus dem die über ein Zen­tralfederbein samt Umlenkung im Zaum gehaltene Schwinge besteht.

Doch spätestens beim Anlassen darf sich der XV-Treiber wieder als Maschinist alter Schule fühlen. Der Anlasser macht nämlich mit seiner betont gemächlichen Herangehensweise sehr deutlich, dass es richtige Arbeit ist, die 100 mm dicken Kolben auf ihren üppige 118 mm langen Arbeitsweg zu schicken. Ist diese an beste Landmaschinen-Tradition erinnernde Aktion erst einmal geschafft, sorgt beruhigendes Blubbern in Verbindung mit einem durch Mark und Bein gehenden Beben dafür, dass sich der Fahrer absolut sicher ist, mit diesem und keinen anderen Motor den perfekten Cruiser-Antrieb gefunden zu haben. Das gute Gefühl bleibt auch dann erhalten, wenn die Fuhre ohne übertrieben hektische Arbeit am Gasgriff munter Fahrt aufnimmt. Selbst aus tiefsten Drehzahlen wird jeder noch so kleine Dreh am Regler in satten Vortrieb und ebensolchen Sound umgesetzt. Bereits bei Standgas liegen 140 Nm an, bei 2000/min sind es schon über 150 Nm. Geschaltet wird spätestens bei 3000 Touren. Rauf, nicht runter! Um den Charakter des Twins ausführlich zu beschreiben, genügen zwei Worte: Lanz Bulldog.

Tacho nachts Yamaha XV 1900A Midnight StarDer Maschinist, sorry, Fahrer lümmelt sich derweil im fetten Sattel, packt den 95 cm breiten Lenker bei den Hörnern, freut sich über einen gelungenen Knieschluss am 17-Liter-Tank und hat die Füße bequem auf den gummigepolsterten Trittbrettern geparkt. Je flotter es vorangeht, desto spürbarer erledigen die beiden Ausgleichswellen ihren Job, und von den heftigen Eruptionen in den beiden gigantischen Brennräumen (je 927 cm3!) kommt in Fahrt nur noch ein sanftes Pulsieren zum Fahrer durch. Und auch beim Sound hält sich die XV 1900 bei flotterer Gangart etwas zu sehr zurück. Das mag fürs große Show-Programm etwas zu wenig sein, ist für ein möglichst nervenschonendes Kilometerfressen aber gar nicht so verkehrt. Den Langstrecken-Job erledigt die XV überraschend gut, denn das bestens abgestimmte Fahrwerk erspart dem Fahrer unnötiges Zaubern und schont die Kondition. Mit geradezu stoischer Ruhe zieht die Midnight Star ihre Radien und federt dabei sanft und komfortabel ab. Keine ganz einfache Aufgabe, denn immerhin gilt es, über 400 Kilogramm Mensch und Maschine trotz kurzer hinterer Federwege bequem und trotzdem stabil auf Spur zu halten. Die klassische Cruiser-Kombination lautet daher meist: vorn komfortable Gabel, hinten straffes Federbein. So auch bei der XV 1900, doch im Unterschied zu manchen Mitbewerberinnen beherrscht sie den Spagat hervorragend: nicht hölzern, nicht gefühllos-schwammig, sondern sehr präzise und sicher.

Das stabile Fahrwerk mit seinem verwindungssteifen Aluguss-Rahmen verleitet ambitionierte Fahrer dann auch ab und an dazu, es etwas mehr als Cruiser-üblich krachen zu lassen. Es bleibt dann nicht aus, dass die Trittbretter in flott angegangenen Kurven etwas Material liegenlassen, was die Fahrstabilität aber nicht wirklich beeinträchtigt. Wenn es der XV-Treiber dann doch mal etwas übertreibt, sorgen die kräftige 298-mm-Doppelscheibenbremse im Vorderrad und die mit 320 mm Durchmesser noch üppiger dimensionierte Einzelscheibe im Hinterrad dafür, dass die Masse gut dosierbar eingefangen wird. Die ganze Sache funktioniert als Kombibremse: Beim Tritt aufs Pedal wird auch der vordere rechte Bremssattel aktiviert. Vor ein paar Jahren wäre die Yamaha damit noch ganz weit vorn gewesen, doch mittlerweile gehört ABS sogar schon in der Mittelklasse fast schon zur Standardausstattung. Die ganz große XV muss leider immer noch darauf verzichten, was um so unverständlicher ist, da Cruiser-Fahrer gemeinhin nicht unbedingt zu den Brems-Göttern gehören und die meist hecklastige Auslegung ihrer schwergewichtigen Untersätze das optimale Ankern nicht gerade erleichtert.

Heck Yamaha XV 1900A Midnight StarDoch wie gesagt: Das fehlende ABS ist tatsächlich der einzige echte Kritikpunkt, ansonsten ist die XV 1900 A Midnight Star ein rundherum gelungenes Motorrad und ein famoser Cruiser. Und den gab es offiziell bis Ende Oktober als 50-Jahre-Yamaha-Jubiläumsangebot für 14995 Euro statt 15995 Euro. Es ist vermutlich nicht zu gewagt, zu behaupten, dass auch nach dem 31.10.2014 beim tatsächlichen Kaufpreis eher eine 14 als eine 15 vorn steht – die Nachfrage hält sich ja in Grenzen. Für Schnäppchenjäger dürfte also auch weiterhin Saison herrschen. Und wenn man sich den großen unbekannten Cruiser dann tatsächlich geangelt hat, dürfte das ähnlich wie damals in der Schule laufen: Der große, stattliche Typ entpuppt sich womöglich als die Liebe des Lebens, wenn man es erst einmal geschafft hat, den schüchternen Typen an Land zu ziehen.