aus Kradblatt 1/15
Text: penta-media.de
Fotos: Jens Bode und Jogi

 

Die Winter-Schlampe: Yamaha XJ 600 N, Bj. 1993

Liebe Leserinnen & Leser, um gleich einem Shitstorm vorzubeugen: NEIN, die bildschöne Ronja Fox ist NICHT die Winter-Schlampe, und den Titel hat sich Jogi selbst ausgedacht! Träumt weiter Männer. Und jetzt weiter im Text…

Ronja-Fox-Yamaha-XJ600NEs kommt nicht gerade selten vor, dass Motorradfahrer ein Bike für Sonnenschein und ein weiteres für Schietwetter haben. So auch unsere Freundin, deren Namen ich nicht ständig erwähnen soll. Bei schönem Wetter fährt sie stolz auf einer blank gewienerten Trude, bei Regen, Eis, Schnee und Streusalz musste bisher eine 93er Yamaha XJ 600 N herhalten. Nach sieben Jahren im Besitz unserer Freundin und nur der allernötigsten Pflege, stellten sich langsam so viele kleine technische Mängel ein, dass sie den Entschluss fasste, sich von der alten XJ wegen allmählich schwindender Zuverlässigkeit zu trennen. Ihre Wahl des neuen Bikes fiel auf eine gebrauchte Bandit 1250 S mit wenig Laufleistung, guter Ausstattung und akzeptablem Preis, beim Händler ihres Vertrauens.

An der Inzahlungnahme der alten Yamaha hatte der Händler jedoch kein Interesse mehr. Die Begründung war so einfach wie einleuchtend: „Ich könnte dir symbolisch und aus gutem Willen 100 Euro dafür geben. Da wir auf alte Gebrauchte aber ebenfalls Gewährleistung geben müssen, müsste die Maschine für das Nötigste durch die Werkstatt gehen. Unsere Mechaniker wollen allerdings auch Geld dafür von mir sehen. Deshalb hätte die Yamaha danach schon locker einen Wert von 500 Euro. Da wir auch von etwas leben müssen, müssten wir sie dann für mindestens 800 Euro verkaufen. Von dem geringen Gewinn gingen auch noch Steuern runter. Bei dem Gesamtzustand der Maschine ist mit Reklamationen zu rechnen…und dann zahle ich sogar noch drauf und versaue ggf. unseren Ruf damit. Weißt du was, ich schenke dir die 100 Euro, aber bitte nimm deine alte Dame wieder mit und entsorge sie selber über eBay oder anderweitig.“

Das war absolut nachvollziehbar. Da unsere Freundin die alte Yamaha einfach nur los werden wollte, obwohl sie noch bis 8/2015 TÜV hat, konnten wir nicht nein sagen. So wurden wir völlig spontan und ungeplant stolze Besitzer einer 21 Jahre alten Yamaha mit 60.000 km auf der Uhr und zahlreichen Macken.

Yamaha-XJ600N-Tolles-GeschenkDie Yamaha vom Typ XJ 600 N wurde unter der Kennung 4LX von 1993 bis 2003 gebaut. Die Maschine war besonders bei Anfängern und Fahrschulen sehr beliebt. Sie war relativ preisgünstig in der Anschaffung und hat mit 61 PS bei 8.500 U/min gerade genug Leistung, um auf ihr Fahrschüler die Prüfung für den unbegrenzten Klasse 1 Führerschein fahren zu lassen. Nur 53 Nm Drehmoment bei 7.500 ­U/min bergen keinen Überraschungsfaktor in sich, zumal unter 5.000 Touren noch weniger passiert. Für die flottere Gangart muss der Motor stets im höheren Drehzahlbereich gehalten werden. Das ist kein Problem, denn der Reihen-Vierzylinder dreht auch nach heutigen Maßstäben sehr weich, kultiviert und homogen bis zu 10.000 Touren hoch, bis in den roten Bereich. Sein Durst liegt trotzdem im Schnitt bei unter fünf Litern.

Der elektrische Anlasser gibt keinerlei angestrengte Töne von sich, selbst wenn er den Motor zum Starten bei gezogenem Choke etwas länger durchorgeln lassen muss. Es ist bekannt, dass der Unterdruck-Vergaser nicht sofort liefert. Wer sich daran stört, kann seit 1994 einen anderen Düsensatz und ein S-förmiges Stück Schlauch bei Yamaha bekommen, die das unerhebliche Problem beseitigen.

Der Auspuff-Sound geht in Ordnung. Anno 1993 durften die Motoren noch so fröhlich und frei heraustrompeten.
Das Traumgewicht der Maschine von nur 195 kg ermöglicht ein leichtes Handling. Die Bereifung von nur 130 mm hinten und 110 mm vorne tragen ebenfalls dazu bei. Für den fetten Auftritt sind diese Asphalt-Trennscheiben allerdings völlig ungeeignet.

MotorkorrosionDas Fahrwerk erscheint, wenn auch recht komfortabel, deutlich zu weich und ein wenig unterdämpft. Das mag zum Teil an der Laufleistung der alten Dame liegen, zum anderen waren die Fahrwerke in den 90ern noch nicht so knackig und zielgenau wie heute. Verbesserung schafft zäheres Gabel-Öl. Leichte Neigungen zum Lenkerflattern bleiben trotzdem vorhanden. Das niedrige Gewicht ist jedoch heute noch für viele Modellreihen eine Zielmarke, die recht überschaubare Motorleistung eher nicht.

Die alte Yamaha ist ein gutmütiges Motorrad, solange man sie artgerecht bewegt und nicht hetzt. Die vordere 320 mm Einscheibenbremse erwies sich jedoch damals schon als ein wenig zu schwach und wurde deshalb bei späteren Modellen im japanischen Verbesserungseifer durch eine kräftigere Doppelscheibenbremse ersetzt. Die unspektakuläre hintere 245 mm Scheibenbremse wurde hingegen beibehalten. Für heutige Verhältnisse ist die Bremsanlage unterdurchschnittlich und rangiert bestenfalls auf Harley-Niveau. Sie fordert dem Piloten eine etwas vorausschauendere Fahrweise ab. ABS war damals eher die Ausnahme, obwohl es bereits 1985 von Lucas Girling vorgestellt wurde.

Für halbtote XJ 600 N werden kaum mehr als 300 Euro verlangt. Fahrbereite Exemplare mit TÜV beginnen bei 1.000 Euro und enden bei gut erhaltenen Maschinen mit unter 15.000 km Laufleistung um die 4.500 Euro. Der Ersatzteile-Markt gibt noch genug Material her. Original Yamaha Teile können immer noch problemlos geordert werden, aber die Preise sind geradezu unverschämt teuer. Sie führen für viele alte Yamaha schnell ins wirtschaftliche Aus. So hätten auch wir mit dem Austausch aller mittelprächtig verschlissenen Teile gegen neue Originalteile, schnell die Summe einer neuen Maschine erreicht. Es erforderte deshalb so manchen Kompromiss bei der Entscheidung, was zu machen ist und was nicht.

Die Yamaha XJ 600 N ist technisch relativ gut überschaubar und der Motor für Wartungsarbeiten frei zugänglich. Der unter dem Tank platzierte Luftfilter bildet die einzige Ausnahme. Das Spritfass muss zum Austausch des Filters abgenommen werden, es sei denn, dass man einen zweiten kräftigen Mann hat, der es die ganze Zeit festhalten kann. Die Kühlung des Motors bedarf keiner Beachtung. Er ist luftgekühlt und benötigt nicht einmal einen Öl-Kühler.

Yamaha-XJ600N-CockpitBevor wir die Yamaha wieder fit gemacht haben, haben wir kritisch unseren Werkzeugbestand begutachtet. Es ist völlig sinnlos ineinander gegammelte Teile und Schrauben auseinander bekommen zu wollen, wenn man kein gutes Werkzeug hat. Das Minimum sollte ein größerer Knarren-Kasten mit Schlüsseln, Bits und Kerzenstecknüssen sein. Ab 100 Euro ist man dabei. Weitere Euronen folgen für Reinigungs- und Poliermittel, Kontaktfett, Kettenspray, Kriech-Öl, wie z.B. Caramba oder WD40, Schmirgelpapier und Lackdosen.
Um uns einen Überblick zu verschaffen, haben wir zuerst damit begonnen die Maschine akribisch zu reinigen. Nur an einer sauberen Maschine kann man alle Schäden entdecken und den Verschleiß beurteilen. Es ermöglicht ein saubereres Arbeiten.

Im zweiten Schritt haben wir die Maschine so weit wie möglich gestrippt und alle offensichtlich austauschwürdigen Teile entfernt. Viele Schrauben brauchten tagelange Kriechölbehandlung, bis sie sich endlich lösen ließen. Zum Glück mussten wir nicht viel aufbohren. Danach erstellten wir die Liste der zu besorgenden Ersatzteile.

Zu unserer Freude waren Kettensatz, Lenkkopflager und Reifen noch in gutem Zustand. Sie wurden bereits vor kurzer Zeit erneuert. Die schmalen Reifen kosteten tatsächlich nur 90 Euro im Satz.
Danach folgten die üblichen Wartungsarbeiten, das Aufarbeiten von erhaltungswürdigen aber übel aussehenden Teilen, Lackarbeiten mit Pinsel und Spraydose und zum Schluss die langsame und gewissenhafte Endmontage aller Komponenten.

Arbeit-macht-durstigSich Zeit zu nehmen ist der Schlüssel zum Erfolg. Mit Ungeduld passieren uns Hobby-Schraubern zu viele Fehler. Manchmal ist es besser ein anscheinend unlösbares Problem ungelöst zu lassen und zunächst mit etwas anderem weiterzumachen, was weniger problematisch erscheint. In der Zwischenzeit löst Kriechöl wortwörtlich das Problem oder wir kommen am nächsten Tag auf die passende Idee, wie die Sache anzugehen ist. Reparaturhefte und Werkstattbücher sind oft eine große Hilfe. Sie enthalten auch die Listen der richtigen Anzugsmomente für diverse Schrauben. Altes Aluminium ist empfindlich weich und ein Gewinde schnell überdreht.

Neunzig Arbeitsstunden und 800 Euro später erstrahlt unsere alte XJ in neuem Glanz. Die Anzahl der Arbeitsstunden erscheint gewaltig, aber mit dem Spaß an der Bastelei bemerkten wir sie kaum. Die Stunden kamen schnell zusammen. Alleine den festgegammelten Ölfilter stückweise operativ zu entfernen kostete uns vier Stunden. Wir sind sicher, dass unsere Yamaha jetzt auch die nächste TÜV-Untersuchung noch einmal erfolgreich bestehen wird.

Ronja-FoxAuf den ersten Blick erscheint die Yamaha XJ 600 N unscheinbar und nicht wie ein Bike, in das man sich wirklich verlieben könnte. Wer sie jedoch zerlegt und jedes einzelne Teil genau angeschaut hat, sieht sie anschließend mit anderen Augen. Die Japaner haben mit großer Detailversessenheit versucht ein formschönes und technisch weit entwickeltes Motorrad auf die Beine zu stellen, das außerdem auch noch finanziell für die Masse erschwinglich sein sollte. Es ist ihnen hervorragend geglückt. Wir werden unsere liebgewonnene Yamaha deshalb bestimmt nicht als „Winter-Schlampe“ missbrauchen und auch die Höchstgeschwindigkeit von beachtlichen 182 km/h ganz sicher nicht mehr ausreizen.

Vielen Dank Anscha für dieses wundervolle Geschenk.

Für alle diejenigen, denen unsere alte Yamaha allein nicht schön genug geworden ist, haben wir einfach noch eine junge Dame oben drauf gesetzt. Voilà! Und das Auge freut sich.

Hier noch die Liste der an unserer XJ ausgeführten Arbeiten:

  • Akribische Reinigung und Politur aller Teile, z. T. mit Poliermotor.
  • Ölwechsel (20W-40) mit Filterpatrone und neuer Magnet-Ablassschraube.
  • Luftfilterwechsel.
  • Kerzenwechsel auf Platin-Iridium, um das alte Gewinde in Zukunft nicht so oft quälen zu müssen.
  • Sitzbank flicken.
  • Auspuff Durchrostungen abdichten, mit Blechen stabilisieren und mit Hitzeband umwickeln, Schellen austauschen.
  • Scheinwerfer von innen reinigen, Reflektor putzen und neue Lampe einsetzen.
  • Spiegel und Signalhorn gegen neue Chrom-Teile austauschen.
  • Blinker und Tachogehäuse mit
  • Silikon abdichten.
  • Motor-Seitenteile und Gepäck­träger neu lackieren.
  • Brüchige Kabelbinder ersetzen.
  • Griffgummis, Fußrasten und Schalthebel-Gummis erneuern.
  • Fehlende Schwingen-Abdeckungen montieren.
  • Lackschäden mit Lackstiften
  • austupfen.
  • Bremsflüssigkeitsbehälter von Korrosion befreien und neu lackieren.
  • Ständer neu lackieren und
  • schmieren.
  • Gerissene Seitenverkleidungen mit Glasmatten und Kunstharz von innen stabilisieren.
  • Kette fetten und Gelenke
  • schmieren.
  • Bremsanlage vorne überholen,
  • Beläge und Scheibe tauschen.
  • Bremsbeläge hinten erneuern und Bremskolben reinigen.
  • Kupplungszug einstellen.
  • Vergaser reinigen.