aus bma 3/10

von Klaus Herder

Mit der Diversion F bietet Yamaha nicht nur (Wieder-) Einsteigern ein richtig erwachsenes Motorrad an.Motorrad-Werbung ist nicht unbedingt dafür bekannt, dass sie ganz elementare Wahrheiten mit wenigen Worten auf den Punkt bringt. Eine löbliche Ausnahme ist allerdings im Prospekt der neuen vollverschalten Yamaha XJ6 Diversion F ABS zu finden: „Wenn Sie sich auf einem Motorrad wohl fühlen, stellt sich der Fahrspaß von ganz alleine ein.“

Wohl fühlen auf dem Motorrad – ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? Offiziell natürlich schon, denn wer gesteht sich und vor allem seinen Freunden schon gerne ein, dass ihm das eigene Motorrad eigentlich nicht (mehr) passt? Schließlich hat man Ahnung von Motorrädern. Und schließlich hat man sich die Kiste selbst ausgesucht. Doch irgendwelche Gründe muss es ja dafür geben, dass die jährliche Kilometerleistung bei vielen von uns stetig weniger wird und das es selbst bei bestem Sommerwetter für uns immer mehr motorradfreie Wochenenden gibt. Na klar: keine Zeit, die Familie, die Arbeit – irgendeine Ausrede gibt’s immer. Aber ist es nicht so, dass wir gestandenen Motorradfahrer es in Wahrheit einfach leid sind, uns in unbequemen Klamotten auf unbequeme Motorräder zu setzten, die im Zweifelsfall immer viel mehr Reserven als wir selbst haben? Liegt es womöglich daran, dass uns dieses ständige „Ich-muss-beweisen-das-ich-ein-echter-Supersportfahrer-bin”, dieses permanente „Ich-muss-cool-aussehen” immer mehr nerven? Ein Motorrad-Leben unterhalb von 750 Kubik ist für viele von uns mittlerweile unvorstellbar. Warum eigentlich? Keine Sorge: Es gibt jetzt an dieser Stelle keinen Biker-Seelenstriptease und auch nicht die Reflektion einer Sinnkrise. Doch Gedanken darüber, was eigentlich den Reiz des Motorradfahrens – und nicht nur des Motorradbesitzens – ausmacht, gehen einem schon durch den Kopf, wenn man die dritte und jüngste Yamaha XJ6 gefahren ist, dabei unglaublich viel Spaß hatte und bei der Nachbereitung ausgerechnet über die eingangs erwähnte Werbeaussage stolpert.

Doch der Reihe nach: Nach der nackten Yamaha XJ6 und der halbverschalten XJ6 Diversion, die schon seit dem Frühjahr 2009 die Mittelklasse kräftig aufmischen, ist mit dem 2010er-Modelljahr nun auch eine vollverschalte XJ6 zu bekommen. Im Unterschied zu ihren beiden älteren Schwestern, die ein ABS nur auf ausdrücklichen Wunsch und gegen 400 Euro Aufpreis spendiert bekommen, ist die F (F wie full-fairing, engl. für Vollverkleidung) in Deutschland ausschließlich mit dem Blockierverhinderer lieferbar. Unterm modernen, aber nicht extrem zeitgeistigen Kunststoffkleid steckt der gleiche 600er-Reihenvierzylinder, der auch die etwas weniger bedeckten XJ6-Modelle antreibt. Also der liebevoll und ziemlich aufwendig von 98 auf 78 PS gedrosselte FZ6-Motor, der wiederum aus dem Sportler R6 stammt.

Yamaha XJ6 Diversion F Modell 2010Besagter Motor steckt auch weiterhin als mittragendes Teil in einem recht konventionellen, dafür aber piekfein verarbeiteten Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen. Dazu gibt es stinknormale Federelemente, von denen sich nur das Zentralfederbein, und das auch nur in der Federvorspannung, verstellen lässt. Verzögert wird mit technisch ebenfalls völlig unspektakulären Bremsen. Die Reifenformate (120/70 ZR 17, 160/60 ZR 17) reißen ebenfalls niemanden vom Hocker, und 220 Kilogramm vollgetanktes Kampfgewicht sind aus technischer Sicht für eine 600er auch nicht gerade anbetungswürdig. Doch die clevere Art und Weise, wie diese vermeintliche Allerwelts-Technik miteinander kombiniert wurde und vor allem die überragende Bedienungsfreundlichkeit und spielerische Funktion aller Baugruppen sorgen dafür, dass die Diversion F eben nicht nur einer unter vielen Mittelklasse-Allroundern ist, sondern in ihrer Kategorie momentan die Referenz darstellt. Von vielen direkten Wettbewerbern unterscheidet sie sich zum Beispiel schon durch die etwas erwachseneren Proportionen. Sie ist nicht deutlich üppiger, aber genau dieses Quäntchen präsenter, das in Größendingen den Unterschied zwischen „ziemlich nett“ und „richtig gut“ ausmacht.

Yamaha XJ6 Diversion F Modell 2010Die amtlichen Abmessungen gehen aber nicht zu Lasten der Ergonomie. Im Gegenteil, denn überall dort, wo die Formgebung darüber bestimmt, ob auch weniger lang geratene Menschen gut sitzen, ist die Yamaha goldrichtig gestaltet. Rahmentaille, Sitzbankvorderteil, Lenkerkröpfung, Fußrastenpositionierung – das alles wirkt sehr durchdacht und gut gemacht. So fassen auch Kurzbeiner sofort Vertrauen zur XJ6, und auch Menschen mit Gardemaß sind ordentlich untergebracht. Auf Cockpit-Gimmicks verzichtet die Yamaha, die Kombination aus digitalem Tacho und analogem Drehzahlmesser ist schnörkellos und sauber abzulesen. Breite Spiegelausleger sorgen für beste Rücksicht.

Überaus erfreulich geht’s weiter, denn der knackig-kurz übersetzte Yamaha-Reihenvierer schiebt bereits aus niedrigen Drehzahlen ordentlich an und überzeugt mit seidenweichem Ansprechverhalten. Gab’s bei der im letzten Jahr gefahrenen Nackt-XJ6 noch ab und an Beschwerden über das etwas knochig zu schaltende Sechsganggetriebe, so ist das Thema mittlerweile keins mehr – Kupplung und Schaltung funktionieren leicht und präzise. Der Fahrer kann sich von Anfang an voll und ganz aufs Fahren konzentrieren. Der Prozess der Eingewöhnung ist praktisch nach der dritten Kurve abgeschlossen, so leicht macht es die Diversion F ihrem Piloten. Da gibt’s keinerlei lästige Lebensäußerungen, denn der maximal 60 Nm bei 8500/min stemmende Vierzylinder schnurrt praktisch ohne spürbare Vibrationen durchs weit gesteckte Drehzahlband und sorgt für ordentliche Fahrleistungen. Konkret: Das Landstraßenlimit ist aus dem Stand bereits nach knapp vier Sekunden erreicht, für den Zwischenspurt von 60 auf 140 km/h benötigt die 78-PS-Maschine unter zehn Sekunden, und bei echten 205 km/h ist dann Feierabend.

Yamaha XJ6 Diversion F Modell 2010Die Höchstgeschwindigkeit lässt sich über längere Zeit aber nur unter Mühen ausreizen, denn – und nun kommen wir zum ersten von eigentlich nur zwei echten Kritikpunkten – die sportlich knapp sitzende Vollverkleidung ist in Sachen Wind- und Wetterschutz nicht gerade ein Musterknabe. Während 140, 150 km/h gern auch länger anliegen dürfen, wird’s darüber auf Dauer mächtig zugig. Kopf, Schultern, Hände und große Teile von Armen und Beinen bekommen die volle Wind-Packung ab. Von einer Tourer-Vollverkleidung hätte man etwas mehr Windschutz erwarten dürfen. Als Sportler-Vollverkleidung geht das Teil aber durch, und zur Ehrenrettung sei verraten, dass zumindest keine fiesen Verwirbelungen den Kopf malträtieren. Trotzdem: Hier gibt’s noch Potenzial für eine irgendwann kommende Modellpflege. Bei der Gelegenheit dürfen sich die Yamaha-Ingenieure auch noch dem Heckabschluss und dem Soziusplatz widmen, denn erstens gibt’s nirgendwo Gepäckhaken oder andere Möglichkeiten, Spanngurte sinnvoll zu befestigen. Und zweitens sind winzigen Sozius-Griffmulden bei der F genauso praxisfremd gestaltet wie bei der im letzten Jahr gefahrenen nackten XJ6.

Das war’s aber auch schon mit dem Gemecker, und alle Kritik wird sofort zur Nichtigkeit, wenn die Diversion F ihre ganz große Stärke ausspielen darf: die spielerische Handlichkeit. Ihre 220 Kilo verlieren im Kurvengetümmel einen satten Zentner, so locker und leicht wirbelt sie ums Eck. Dabei glänzt sie mit schier unglaublicher Berechenbarkeit und Zielgenauigkeit, liefert beste Rückmeldung und überzeugt mit absoluter Stabilität. Gelobt sei die vermeintliche Schmalspurbereifung, die neben der gelungenen Fahrwerksgeometrie dafür sorgt, dass die Yamaha praktisch von allein durch Kurven aller Art wuselt und ihrem Fahrer das Gefühl vermittelt, der geborene Schräglagenkönig zu sein. Die Abstimmung der Federelemente ist ein gelungener Kompromiss aus Komfort und Straffheit und tendiert im Zweifelsfall in Richtung Komfort. Telegabel und Zentralfederbein machen im Solobetrieb einen sehr guten Job. Mit 50-Kilo-Sozia ändert sich daran auch nichts, doch wer deutlich größere Kaliber im Rücken hat, sollte sich beizeiten nach Federbein-Ersatz aus dem Zubehör umsehen; denn im Doppelwhopper-Betrieb kommt das Originalteil dann doch recht schnell an seine Grenzen. Klare Ansage: Die 600er ist ein herrliches Werkzeug für Einzeltäter, wer das Ehegespons durch die Gegend kutschieren muss, sollte dann vielleicht doch lieber deutsch kaufen. Der famose Motor und das tolle Fahrwerk finden mit der grundsoliden Bremsanlage eine passende Ergänzung. Logischerweise kommen hier keine güldenen „Achtkolben-Radial-haste-nicht-gesehen-Stopper” zum Einsatz, aber das, was die Doppelkolben-Schwimmsättel im Vorderrad leisten, passt mit feiner Dosierbarkeit und vehementer, aber nicht brachialer Wirkung bestens zum stressfreien Charakter der Yamaha. Das ABS lässt den Regelbereich durchaus spüren, regelt dabei aber immer fein genug, um den Fahrer zum Nie-mehr-ohne-ABS-Kunden werden zu lassen.

Yamaha XJ6 Diversion F Modell 2010Stressfreiheit – genau das ist es, was die Yamaha XJ6 Diversion F ABS in praktisch allen Bereichen auszeichnet. Ihr Fahrer kann sich voll und ganz auf das Fahren konzentrieren. Er wird sofort eins mit der Maschine, spürt immer ganz genau, was unter und mit ihm passiert. Das Schalentier vermittelt nahezu grenzenloses Vertrauen. Und das völlig zu Recht, denn da gibt es nichts, vom eher unterdurchschnittlichen Wind- und Wetterschutz und der Gepäckproblematik abgesehen, womit die Yamaha ihren Fahrer nerven könnte. „Nur“ 600 Kubik und „nur“ 78 PS haben den netten Effekt, dass man sich nicht selbst unter Zugzwang setzt. Dafür bedarf es neben dem Kapitaleinsatz von 7495 Euro zumindest für „Alte Hasen“ natürlich auch einer gewissen inneren Größe und Überwindung, um in die vermeintlichen Hubraum- und Leistungsniederungen hinabzusteigen. Vielleicht sorgt ein solcher Wechsel dafür, dass man weniger Stammtischgespräche übers eigene Motorrad führen wird. Aber für solche Gespräche hat man als Besitzer einer XJ6 Diversion F vermutlich auch gar keine Zeit mehr, denn wer sich auf seinem Motorrad wohl fühlt, hat Fahrspaß. Und wer Fahrspaß hat, fährt auch (wieder) deutlich mehr.