aus Kradblatt 11/18, von Jens Riedel

Yamaha SCR 950 – Ein Chopper auf Abwegen …

Yamaha SCR 950, Modell 2018 Es vergeht kaum ein Tankstopp, an dem ich nicht auf die Maschine angesprochen werde und sie interessierte bis begeisterte Blicke erntet. Für wahr, wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, Yamaha hat mit der SCR 950 eine neue Modellreihe entwickelt. Doch spätestens der mächtige Luftfilterkasten auf der rechten Seite verrät, dass es sich hier um ein Derivat der XV 950 handelt.

Heck - Yamaha SCR 950, Modell 2018 Yamaha beherrscht die Klaviatur des Baukastens wie kein anderer japanischer Hersteller – mit Erfolg. Zwar reichte es im vergangenen Jahr in deutschen Landen nicht mehr für Platz zwei, aber knapp zwölf Prozent Marktanteil und Rang drei hinter BMW und Honda sind ja nun auch aller Ehren wert. Zudem rangierte die MT-07 mit an der Spitze der Zulassungsstatistik 2017 und musste sich nur dem Dauerbrenner R 1200 GS beugen, wahrte aber zum Drittplatzierten gebührenden Abstand.

Zurück zum Baukasten: Auf die – eigentlich abwegige – Idee, aus einem Chopper eine Scrambler zu stricken, muss erst einmal jemand kommen. Denn genau dafür soll das SCR(AMBLER) in der Typenbezeichnung stehen. Ich hätte da auch noch andere, mindestens ebenso gut passende Buchstabenkürzel, doch dazu später. Fakt ist jedenfalls, dass sich das Ergebnis der Operation an der XV mehr als sehen lassen kann. Hier ist ein echter Eyecatcher auf die Räder gestellt worden (und auch mir entfuhr beim allerersten Anblick innerlich ein „Wow“).

Yamaha SCR 950, Modell 2018, rechts Der in der Lackierung Racing Red dreifarbige Tank mit der großen weißen Fläche und dem roten Streifen sowie dem schwarzen Dreieck weckt automatisch Assoziationen an klassische Modelle der Marke. Das ist ganz einfach zeitloser Stil. Alternativ ist die SCR 950 auch in, auf ganz eigene Weise faszinierendem, Yamaha Black erhältlich. Weitere Auffälligkeit der Silhouette ist die stilisierte Startnummerntafel, die prominent im Rahmendreieck platziert ist.

Wer den Begriff Scrambler unweigerlich mit einem höher gelegten Auspuff in Verbindung bringt, kommt bei der Yamaha nicht auf seine Kosten. Die von der XV bekannte Tüte wird nur in wenigen Graden leicht nach oben gewinkelt. Mehr Offroad-Attitüde gibt es an der Abgasanlage nicht. Dafür ist die SCR aber mit grobstolligem Bridgestone-­Gummis bereift und mit einem breiten, leicht nach hinten gekröpften Endurolenker inklusive Querstrebe ausgerüstet. Einer Scrambler ebenfalls gut zu Gesicht stehen Faltenbälge und ungummierte Fußrasten. Voila. Die Druckguss-Leichtmetallräder der XV weichen Speichen mit schwarz lackierten Felgen. Und auch das Sitzmöbel passt sich (leider) den Ambitionen abseits des Asphalts an: Es ist flach, schmal, dünn – und hart.

Yamaha SCR 950, Modell 2018, links Über die Sitzbank spannt sich im hinteren Drittel ein altmodischer Haltegurt für den Sozius. Allzu oft dürfte er nicht zum Einsatz kommen, denn die SCR ist eher ein Gerät für Solisten. Die dürfen sich dann aber über die große Bewegungsfreiheit auf dem langen Sattel freuen. Fast schon überrascht stellt der Reiter fest, dass er bei entspannter Haltung fast in der Mitte des Leders sitzt und das rechte Bein plötzlich gar keinen Kontakt zum wuchtigen Luftfiltergehäuse mehr hat. Geht doch! Ohnehin thront der Reiter eher auf als in der Maschine, was dem Charakter einer Scrambler natürlich entgegenkommt. In Zahlen ausgedrückt: Die Sitzhöhe wuchs gegenüber der Ausgangsbasis um immerhin 140 Millimeter von 69 auf 83 Zentimeter. 

Cockpit - Yamaha SCR 950, Modell 2018 Das Zündschloss hat sich vorne unterhalb des Tanks zurückgezogen. Das mag zwar très chic sein, ist aber eigentlich nervig. Entweder muss man schon vor dem Aufsteigen die Arbeit erledigen oder sich vom Sattel aus tief nach unten blickend beugen, damit Schlüssel und Schloss richtig zueinander finden. Zum Trost sind alle Schläuche akkurat und unauffällig verlegt. Die Gabelbrücke wirkt angenehm schmiedeeisern und trägt vorderseitig das angeschraubte einsame Rundinstrument. Mit den fetten digitalen Anzeigen öffnet Yamaha dem analog anzeigenden Zubehörhandel allerdings wohl Tür und Tor. Yamaha SCR 950, Modell 2018 

Der bekannte V2-Motor mit 942 Kubikzentimetern Hubraum, Luftkühlung und 60 Grad Zylinderwinkel hängt weiterhin im klassischen Doppelschleifenrahmen. Auch die Leistung wurde gegenüber der Spender-XV nicht angerührt. Wozu auch? Fast 80 Newtonmeter Drehmoment bei 3000 Umdrehungen in der Minute machen sich auf dem Highway schließlich genauso gut wie auf der Schotterpiste. Und 55 PS – bei maßvollen 5500 Touren – sind für ein Zweirad ja nun einmal allemal ausreichend und eben doch ein bisschen mehr als die A2-freundlichen 48 Pferdchen. Die SCR nimmt sauber und fein dosierbar Gas an, überträgt die Kraft via Fünf-Gang-Getriebe und Riemen ans Hinterrad. 

Der Scrambler lässt sich punktgenau dirigieren. Wer mit den deutlich profilierten Reifen die Schräglage sucht, muss die schicke Maschine aber schon mit etwas nachdrücklichem Körpereinsatz aus der Vertikalen holen. 

Das Triebwerk entfaltet seine Leistung sehr homogen. Nach dem Motto „in der Ruhe liegt die Kraft“ verlässt sich die jüngste Vertreterin der Sport-Heritage-­Familie von Yamaha vor allem auf ihr Drehmoment statt auf ihre Spitzenleistung. Dazu passt das dumpfe Brummen aus dem Endtopf. In dessen Klang mischt sich zwischen 113 und 121 km/h im letzten Gang noch ein eigenwilliges sirenenartiges Heulen, über dessen Drehzahlbereich man in Ermangelung eines Zählers aber keine Angaben machen kann. Wer den DZM vermisst: im Originalzubehör hat Yamaha einen im Programm. Unterm Strich präsentiert sich der Motor als echter Charaktertyp, dessen Vibrationen allgegenwärtig sind, aber nie stören.

Zahnriemen - Yamaha SCR 950, Modell 2018 So wie beim Antrieb hat Yamaha auch an die Fahrwerksgeometrie und die Federung bei der Verwandlung eines Xs und eines Vs in ein S, ein C und ein R keine Hand angelegt. So müssen der Scrambler trotz ihres Marketinganspruchs „Born to find new ways“ 130 Millimeter Federweg vorn und 110 Millimeter hinten reichen. Dafür spendiert Yamaha dem XV-Ableger sportlich anmutende Ausgleichsbehälter an den Federbeinen. 

Da die Größe stimmt, hat man in Hamamatsu den 19-Zoll-Pneu vorne ebenfalls gerne übernommen, hinten darf es dann aber doch eine Nummer größer als beim Chopper sein: Hier sind es 17 Zoll. Bei minimal längerem Radstand ist die SCR in der Gesamtlänge trotzdem einen Hauch kürzer, wegen des modellspezifischen Lenkers aber über sechs Zentimeter breiter. Da können die klassischen Rundspiegel gar nicht anders, als gute Sicht nach hinten zu gewähren.

Gebremst wird die Fuhre fußseitig über einen kunstvoll umgelenkten Hebel, der entgegen üblicher Gepflogenheiten vor der Raste aufgehängt ist. Ebenso ungewöhnlich ist die zwischen Fußraste und Fußrastenhalterung montierte Aufnahme für den Schalthebel. Der vordere 298-Millimeter-Wave-Stopper ist hervorragend dosierbar. Dazu kommt, dass die Gabel überraschend standhaft ist und kaum weiche Knie zeigt.

Yard Buildt Umbau - Yamaha SCR 950, Modell 2018Beim Auto würde man auf das Modewort Crossover kommen. Also vielleicht doch eher XOV 950 – womit auch die Brücke zum Basismodell geschlagen wäre, gleichzeitig allerdings auch die Verwechslungsgefahr oder Verwirrung steigt? Wir hätten auch FLT oder DRT für Flat oder Dirt Tracker voll und ganz akzeptiert und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr in Erwägung gezogen als SCR. Sei es wie es ist und betrachte jeder Käufer sie so wie er möchte. 

Unterm Strich ist es erstaunlich, mit wie viel Tempo sich mit ihr über den klassischen Feldweg brettern lässt und welch hohes Maß an Spurtreue und Neutralität sie dabei an den Tag legt. So ganz unrecht hat das Marketing mit seinen neuen Wegen also nicht. 

Kritik hat das Tankvolumen von etwas über 13 Litern verdient, das seine Chopper-Herkunft nicht ganz verbergen kann und auf der wuchtigen Maschine beinahe auch schon ein wenig verloren wirkt. Da wären sicher zwei, drei Liter mehr drin gewesen, ohne die schöne Scrambler-Linie zu zerstören. So leuchtet bereits nach 160, 170 Kilometern die Reserve­-
lampe auf. Aber wie bereits gesagt, für allzu lange Etappen ist die Yamaha eh von der etwas zu harten Sorte.

So sehr die SCR bewundert wird, so sehr eckt sie bisweilen auch an. Und zwar am Fahrer. Das betrifft nicht nur den Bereich Luftfilter an der rechten Knie­scheibe, sondern auch die vordere Ecke des hinteren Zylinders in der linken Kniekehle und die Schienbeine, die im Stand an die Fußrasten stoßen können (wir erinnern uns: ungummiert). Ob es einen wirklich stört, überprüft man am besten bei einer Sitzprobe bzw. Probefahrt, denn es sind Kleinigkeiten. Die Yamaha SCR 950 vermittelt Motorrad fahren pur, das Antriebsaggregat ist ausreichend bullig, ohne gegenüber der Umwelt aufdringlich zu sein. 

Für mich hat die Marke mit den gekreuzten Stimmgabeln hier einen kommenden Klassiker geschaffen.