aus Kradblatt 9/18
von Michael Praschak, www.asphalt-süchtig.de

Yamaha Niken – Spaß hoch drei!

Yamaha Niken, Modell 2018

Wir Motorradfahrer können ganz schön emotional sein. Für die meisten von uns ist das Krad mehr, als nur schnödes Mittel zum Zweck und Gebrauchsgegenstand. Ganz im Gegenteil. Beim Motorradfahren geht es um viel mehr. Es geht um Freiheit, Abenteuer und Selbstbestimmung. Es geht um Beschleunigung, Schräglage und Adrenalin. Daher wundert es auch nicht, dass wir sehr impulsiv und heftig reagieren können, wenn es um das Objekt der Begierde geht. Das betrifft das eigene Mopped, die verehrte Marke oder auch Gewohnheiten wie den Fahrstil. Und vor allem Innovationen werden im Motorradbau seit jeher heiß diskutiert. Das Spiel wiederholt sich immer wieder aufs Neue und was mit dem ABS in den frühen Neunzigern begann, setzte sich in den Zweitausendern bei der Traktionskontrolle fort. Oftmals scheint es fast so, als fühlten sich viele Motorradfahrer von den genannten Fahrassistenzsystemen in ihrer Selbstbestimmung beschnitten und dieser Angriff aufs Ego, sorgt regelmäßig für erhitzte Gemüter. Schließlich hat man ja selbst am besten im Gefühl, wann man wie hart bremsen und beschleunigen kann. 

Maximale Schräglage, Yamaha Niken Modell 2018 Besonders kritisch wird es aber dann, wenn ein neues Konzept die Vorstellung vom Motorrad in den Grundfesten erschüttert. So zu sehen bei der aktuell hitzig geführten Debatte um Elektromotorräder. Ein Großteil der Motorradfahrer steht solchen Eingriffen ins Grundkonzept grundsätzlich mit Skepsis, wenn nicht sogar absoluter Ablehnung gegenüber. Auch wenn es sich vielleicht besser fährt – ein Motorrad ohne Verbrennungsmotor ist einfach kein Motorrad. Basta. Wie aktuell an den Reaktionen zu Yamahas neuer Niken (sprich: Neiken) zu sehen, geht es aber tatsächlich noch heftiger. Selten hat ein Motorrad im Vorfeld so viel Häme einstecken müssen, wie das Dreirad, ähhh das Leaning Multi Wheeler genannte Motorrad von Yamaha.

Pendeltechnik Yamaha Niken, Modell 2018 Die Älteren unter uns und diejenigen, die sich ein wenig mit der Yamaha Modellpalette auskennen, werden sich vielleicht schon bei der ersten Präsentation der Niken Ende 2017 gefragt haben, woher die Japaner den Mut für ein solch riskantes Konzept nehmen. Zur Erinnerung: Bereits 1993 versuchte sich Yamaha mit dem Sporttourer GTS 1000 am ersten in Serie produzierten Motorrad mit Achsschenkellenkung. Und bereits vor 25 Jahren wurde die Experimentierfreude der Japaner abgestraft. Mit in Deutschland nur knapp 1400 verkauften Exemplaren konnte die GTS getrost als Flop bezeichnet werden. Schuld war damals aber vor allem die mangelnde Reife des Systems, das keine wirklichen Vorteile generierte sowie die unglücklich gewählte, kurvenunwillige Vorderraddimension von 130/60. Nun versuchen es die Ingenieure aus Iwata also erneut mit einer extravaganten Vorderradaufhängung. Doch während bei der GTS komplett auf den konventionellen Ansatz des telegabelgeführten Vorderrads verzichtet wurde, kommt er bei der Niken sogar in doppelter Ausführung. Zwei Räder statt einem, vier Gabelholme statt zwei. Und hier beginnt schon die Grundsatzdiskussion. Geht ein Motorrad mit drei Rädern? Und – viel wichtiger – können drei Räder Motorrad? 

Cockpit Yamaha Niken, Modell 2018 Doch fangen wir langsam an und lassen die Front erst mal außen vor. Auf dem Papier bringt die Niken alles mit, was man für ein Motorrad braucht. Das Herzstück ist ein alter Bekannter. In der Niken werkelt nämlich der 847 Kubikzentimeter große CP3-Motor aus der MT-09 und der Tracer 900, der mit 115 PS und seinen 87,5 Newtonmeter Drehmoment nominell eins zu eins aus der MT übernommen wurde. Einziger Unterschied: Um die Fahrbarkeit zu verbessern, wurde die Kurbelwelle überarbeitet und die Trägheit um 18 Prozent erhöht. Umspannt wird das Triebwerk von einem Hybrid-Rahmen aus Stahlgitterrohr und einem steifen Aluminium-Element für die Schwingenaufnahme. Obwohl es sich beim Rahmen um eine Neuentwicklung handelt, ist die Ergonomie der Niken einem aktuellen Modell der Yamaha Produktpalette sehr ähnlich. 

Yamaha Niken, Modell 2018 Die Abmessungen des Dreiecks aus Lenker, Sitz und Fußrasten wurden hier nämlich vom Sporttourer Tracer 900 übernommen. Einziger Unterschied: der Fahrer wird aufrechter und etwas weiter hinten platziert. Yamaha geht diesen Weg aber nicht, um die Niken noch komfortabler als die Tracer zu machen. Vielmehr wird die Sitzposition nötig, um die Balance des Motorrads mit Fahrer auf eine Gewichtsverteilung von 50:50 auf Vorder- und Hinterrad zu erreichen, da die Kombination aus doppelter Upside-Down-Gabel und der Parallelogrammkonstruktion, die der Niken ihre Schräglagenfähigkeit verleiht, deutlich mehr Gewicht als eine Standardgabel mit sich bringt. 

Yamaha Niken, Modell 2018 Während der Fahrt merkt man davon erstaunlicherweise aber nichts. Zwar wirkt die Niken beim ersten Platznehmen durch die ausladende Front recht wuchtig, ist man aber erst mal in Bewegung, glänzt die Niken mit Agilität und lässt sich überraschend leichtfüßig dirigieren. Das Erstaunlichste daran: sie fühlt sich dabei an wie ein Zweirad. Gut, die 263 Kilogramm vollgetankt lassen sich nicht wirklich kaschieren und man merkt dem Mopped natürlich an, dass es eher zum entspannten Reisen denn zum sportlichen Rasen gebaut wurde. Grundsätzlich unterscheidet es sich im Fahrverhalten aber nicht von einem klassischen Motorrad und erinnert dabei an einen großer Sporttourer. Etwas ist dann da aber doch anders. 

Vorderradbremse Yamaha Niken, Modell 2018 Denn die Niken vermittelt ab dem ersten Meter extrem viel Vertrauen. Was sich während der Präsentation am Vorabend aus dem Mund des Yamaha Produkt Managers noch wie eine klassische Marketing-Phrase anhörte, stellte sich beim Fahren tatsächlich innerhalb kürzester Zeit als positives Gefühl ein. Und der Beleg folgte sprichwörtlich auf dem Fuße. Kaum hatten wir die Ortsgrenze hinter uns gelassen, schrabbelten bereits in der ersten Kehre Stiefelspitze und Fußraste über den Asphalt. Was hatte der Yamaha Manager noch gleich gesagt? Die maximal mögliche Schräglage mit der Niken beträgt 45 Grad und die Rasten dienen als Indikator für den Grenzbereich? Mit keinem anderen mir unbekannten Motorrad wäre ich nach nur wenigen Kilometern und so wenig Eingewöhnung so weit gegangen. Schon gar nicht bei noch kalten Reifen und nur knapp zweistelligen Außentemperaturen. Erstaunlicherweise generiert die Niken das Vertrauen in die Front nicht über Transparenz und glasklares Feedback, was bei der touristisch ausgelegten Sitzposition mit dem hohen und breiten Lenker auch überraschend gewesen wäre. Hier ist es tatsächlich das zweite Vorderrad und der zusätzliche Grip, die den Unterschied machen. Zwar fallen die Räder mit einem Durchmesser von 15 Zoll kleiner aus, als bei einem normalen Motorrad, dank der Dimensionierung von 120/70 werden Auflagefläche und Grip an der Front aber buchstäblich verdoppelt. Besonders spürbar wird das, wenn die Bedingungen schlechter werden. 

Frontansicht Yamaha Niken, Modell 2018Genau dann kann die Niken nämlich ihre enormen Stärken ausspielen. Ist man auf schwierigem Geläuf unterwegs, entwickelt sich die Niken förmlich zum Ego-Booster, da man innerlich immer einen Tick entspannter als auf einem normalen Motorrad ist. Dabei ist es völlig irrelevant, welche Widrigkeiten die Strecke bereithält. Egal, ob man auf flickenübersäten Nebensträßchen unterwegs ist, ob man beim Pässe fahren in einen Schauer gerät oder ob man bei zügiger Gangart hinter einer Kurve von Dreck auf der Ideallinie überrascht wird, dank des enormen Grips an der Front steckt die Niken alles unbeeindruckt weg. Dabei ist besonders bemerkenswert, wie harmonisch das Fahrwerk arbeitet und Unebenheiten und Fugen fast vollständig wegfiltert. Selbst bewusstes Herausfordern der Elemente durch große Unterschiede in der Belastung wie einseitiges Durchfahren von Schlaglöchern lässt die Front unbeeindruckt. Wer jetzt denkt, das liegt vor allem an der Gabel mit vier Holmen, der irrt. Federung und Dämpfung befinden sich an der Niken nur im hinteren Holm, der vordere dient lediglich dazu, das Vorderrad zu führen und am Verdrehen zu hindern.

Wie gut das System funktioniert, spürt man am Heck des Motorrades. Denn wenn was rutscht, dann das Hinterrad. Und das kommt sogar recht häufig vor. Durch das immense Vertrauen, das die Niken vermittelt, verleitet einen das Motorrad dazu, auch auf Straßen anzugasen, auf denen man sonst eher zurückstecken würde. So kommt es, dass das Heck immer wieder mit kleinen Rutschern zur Mäßigung mahnt. Da die Niken in der Regel auch diese wegsteckt, ohne die standardmäßige Traktionskontrolle zu bemühen, findet man fast Gefallen daran, wenn das Heck leicht auskeilt. 

Die Möglichkeit, die Niken auch mit engagierter Gangart bewegen zu können, ist aber eher als Nice-to-have zu betrachten. Ihre eigentliche Stärke sind ihre Touring-Qualitäten. Diese sind aber nicht nur in der bequemen, aber angenehm straffen Sitzbank, dem hohen Lenker, dem Tempomat und ihrer Soziustauglichkeit zu suchen. Auch hier spielt die Konstruktion mit den zwei Vorderrädern eine entscheidende Rolle. Denn durch den zusätzlichen Grip und das daraus resultierende Vertrauen in die Front ist das Fahren mit der Niken auch weniger ermüdend, sodass man auch nach mehreren hundert Kilometern entspannter vom Motorrad steigt, als man es gewöhnt ist.

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Flop der GTS 1000 traut sich Yamaha mit einem gewagten Aufhängungskonzept erneut aufs Glatteis und stellt mit der extrem polarisierenden Niken die Befindlichkeiten der Motorradfahrer auf die Probe. Aber die Japaner haben ihre Lektion gelernt. Zwar wird die Frage heiß diskutiert, ob die dreirädrige Niken überhaupt als Motorrad durchgeht, wer das Mopped aber einmal bewegt hat, wird die Frage definitiv mit Ja beantworten. Dabei fühlt sich die Niken nicht nur wie ein Motorrad an, sondern überzeugt vor allem bei schwierigen Bedingungen durch viel Grip und mit bisher unbekanntem Vertrauen ins Fahrzeug. Ob die Niken ihre Fans findet und die am Ende auch bereit sind, 15.000 Euro dafür zu bezahlen, bleibt abzuwarten. Schon aufgrund des extrem überzeugenden Konzepts und dem Mut von Yamaha wäre es den Japanern aber mehr als zu wünschen. 

Technische Infos:

MOTOR

  • Typ: Flüssigkeitsgekühlter Dreizylinder-DOHC-Reihenmotor
  • Hubraum: 847 ccm
  • Bohrung x Hub: 78 x 59,1 mm
  • Verdichtung: 11,5:1
  • Max. Leistung: 84,6 kW (115 PS) bei 10.000 U/min
  • Max. Drehmoment: 87,5 Nm bei 8.500 U/min
  • Fahrhilfen: ABS; Traktionskontrolle, zweistufig, abschaltbar; 3 Riding Modes
  • Kupplung: Mehrscheiben-Ölbad-Kupplung
  • Getriebe: 6-Gang-Getriebe

FAHRWERK

  • Hintere Gabel (Dämpfer): 43-Millimeter KYB Telegabel, 110 mm Federweg, voll einstellbar
  • Vordere Gabel (Führung): 41-Millimeter KYB Telegabel, 110 mm Federweg 
  • Federbein hinten: KYB Federbein, Vorspannung (Fernversteller) und Zugstufe einstellbar
  • Bremsen: Zweischeiben-Bremse (265,6 mm) mit 4-Kolben Bremssätteln vorne, 298-mm-Einzelscheibe mit Einkolben-Schwimmsattel hinten, ABS
  • Räder/Reifen: 15 Zoll Leichtmetall-Gussräder 120/70 ZR 15 vorne und 190/55 ZR 17 hinten (Bridgestone A41)

MASSE/GEWICHTE

  • Länge: 2150 mm Höhe: 1250 mm
  • Radstand: 1510 mm
  • Lenkkopfwinkel: 20 Grad
  • Nachlauf: 74 mm Spurbreite: 410 mm
  • Sitzhöhe: 820 mm
  • Gewicht (fahrfertig): 263 kg
  • Tankinhalt: 18 Liter
  • FARBEN/PREISE
  • Farbe: Graphite 
  • Preis: ca. 15.000,- € (plus Nk.)