aus bma 01/07

von Klaus Herder

Yamaha FJR 1300 AS Mod. 2006 Man kann mir wirklich viel nachsagen, aber ganz sicher nicht, daß ich jeden Techniktrend mitmache. Ganz im Gegenteil: Meine Privat-Motorräder sind bevorzugt mit luftgekühlten Zweizylindermotoren in V- oder Boxer-Anordnung bestückt; mein 16 Jahre altes Auto hat weder ABS noch ESP, aber immerhin UKW (mit Kassette, nicht mit CD); und mit meinem Billig-Handy habe ich nachweislich noch nie eine SMS verschickt und auch noch nie ein Foto gemacht. MP3-Player und DVD-Rekorder besitze ich nicht; und mein Fernsehgerät ist mit einer dicken, fetten Röhre bestückt und gefühlte 50 Zentimeter tief. Technik-Geilheit als Selbstzweck ist also überhaupt nicht mein Ding, was aber nichts daran ändert, daß ich zumindest neuer Motorradtechnik gegenüber ausgesprochen neugierig bin. Mein Motto lautet: Man muß nicht alles kaufen, aber man sollte es zumindest ausprobieren.
Was ich hier und jetzt ausprobieren darf, ist Yamahas Sporttourer FJR 1300 AS. Ohne Namenszusatz gibt es die FJR 1300 bereits seit 2001. Das A im Nachnamen bekam der von Beginn an mit 144 PS recht üppig motorisierte Reisehobel 2003 im Rahmen einer eher harmlosen Modellpflegeaktion spendiert – A wie ABS. Und zwar serienmäßig. Als Zugabe gab es damals eine Wegfahrsperre, ein geändertes Windschild, modifizierte Federelemente und größere Bremsscheiben. Ab 2004 gehörten Koffer zum serienmäßigen Lieferumfang, und zwischendurch wurde die Benzinpumpe überarbeitet. Das war es auch schon bis einschließlich 2005. Die FJR 1300 war von Beginn an ein absolut gelungener, bärenstarker und fahraktiver Untersatz für Menschen, die bei Wochenendtouren ganz locker 1500 oder mehr Kilometer zusammenbekommen.

 

Das, was da nun vor mir steht, ist der 2006er-Jahrgang der FJR. Und diese, jetzt wesentlich stärker als 2003 modellgepflegte Maschine gibt es erstmals in der FJR-Geschichte in zwei Versionen: Als FJR 1300 A für 15972 Euro mit Kupplungshebel. Und als FJR 1300 AS für 18024 Euro ohne Kupplungshebel. Motorräder mit Kupplungshebel fahre ich seit 28 Jahren, eines ohne ist mir bislang noch nicht untergekommen. Die Neugier siegt, also ran an die Halbautomatik mit dem schönen Namen YCC-S, was für „Yamaha Chip Controlled Shift” steht, was auch das S wie „Shift” in der Typenbezeichnung erklärt.
Yamaha FJR 1300 AS Mod. 2006Wer einen Blick ins Fahrerhandbuch geworfen hat, tut sich beim Anlassen entschieden leichter. Der Druck aufs Knöpfchen bewirkt nämlich nur dann etwas, wenn gleichzeitig der glücklicherweise vorhandene Handbremshebel gezogen wird – Fahrer von Automatikrollern müssen sich nicht umgewöhnen. Der flüssigkeitsgekühlte Reihenvierzylinder grummelt zufrieden und dezent-bassig vor sich hin, ums Kaltstartgeschäft kümmern sich zuverlässig die elektronische Benzineinspritzung und die Kennfeldzündung. Die digitale Ganganzeige im schwer überarbeiteten, durchaus übersichtlichen Cockpit signalisiert, daß sich das Getriebe in Neutralstellung befindet. Was nun, so ganz ohne Kupplungshebel? Erste Möglichkeit: Den Schalthebel mit dem Fuß betätigen. Klappt nicht. Zumindest nicht sofort, denn der erste Gang befindet sich wie seine vier übrigen Kollegen über der Leerlaufstellung. Verstanden. Schalthebel mit dem Fuß nach oben gezogen, mit der Hand etwas Gas gege-ben – die Fuhre fährt sanft und ruckfrei an. Um so weit zu kommen, gibt es noch eine zweite Möglichkeit. Im unteren Teil der linken Lenkerarmatur sitzen nämlich zwei Hebel einer Schaltwippe. Um die freizuschalten, muß allerdings einmalig ein großer runder Knopf am rechten Teil der Armatur gedrückt werden. Eine LED signalisiert Einsatzbereitschaft. Mit dem Zeigefinger kann nun munter rauf, mit dem Daumen ebenso flott runter geschaltet werden. Geübte erledigen die Angelegenheit komplett mit dem Zeigefinger. Ungeübte hupen beim ersten Runterschalten, denn Schaltwippe und Signalhorn-Betätigung liegen mächtig eng beieinander. Wer übrigens versucht, bei ungesund hoher Leerlaufdrehzahl (also über 1300 U/min) den ersten Gang einzulegen, wird scheitern. Die Elektronik weigert sich dann, den Befehl von Fuß oder Finger umzusetzen. Wenn alles paßt, sorgt die Kupplung bei 1800 U/min wie von Zauberhand für sauberen Kraftschluß.
Wenn Sie an dieser Stelle innerlich kräftig mit dem Kopf schütteln und etwas von „Wer braucht so einen Kram?”, grummeln, kann ich das gut verstehen. Die Sache ist nur, daß sich die ganze Angelegenheit viel komplizierter liest, als sie in der Praxis funktioniert. Und das liegt nicht unbedingt an der unverständlichen Ausdrucksweise des Autors. Versuchen Sie mal, einem Menschen, der noch nie eine Banane gesehen hat, zu beschreiben, was da wie geschält wird.
Deshalb folgen an dieser Stelle ein paar weitere, hoffentlich beruhigende Worte: Das YCC-S ist KEIN Automatikgetriebe. Das YCC-S nimmt dem Fahrer einzig und allein das Kuppeln ab und macht die Gangwechsel für Otto Normalfahrer schneller, sanfter und wohl auch materialschonender. Ob, wann und wo geschaltet wird, bestimmt einzig und allein der Fahrer. Und der hat die Wahl, ob er mit dem Fuß über den altbekannten Schalthebel (der hier als Elektronik-Schalter dient) oder per Hand über die Schaltwippe schalten möchte. Fehlbedienungen sind ausgeschlossen, denn Sensoren gleichen die Werte für Motordrehzahl, Drehzahl der Getriebehauptwelle, aktuelle Gangstufe, Geschwindigkeit und Drosselklappenstellung permanent ab und verhindern, daß versehentlich in einen Gang mit materialmordender Drehzahl gewechselt wird. Kurz vorm Anhalten kuppelt die Automatik aus. Wer im fünften Gang an die Ampel heranrollt, bleibt im fünften Gang – so, als hätte er die Kupplung gezogen. Möchte man dann im ersten Gang anfahren, müssen der Fuß oder der Daumen aktiv werden. Kupplung und Getriebe unterscheiden sich nicht groß von den Bauteilen der konventionell geschalteten FJR. Denn Unterschied machen zwei separate Stellmotoren (einer für die Kupplungsbetätigung und einer für die Getriebebetätigung) und ein 32-bit-Steuergerät, das die von Hand- oder Fußhebel kommenden Signale verarbeitet und mit den Sensorwerten koordiniert. Netter Nebeneffekt: Die Elektronik erlaubt auch Gangwechsel, ohne daß das Gas geschlossen werden muß, also praktisch ohne Schubunterbrechung (Ausnahme: Bei voll geöffneten Drosselklappen funktioniert das nicht). Mit dem YCC-S klappen Gangwechsel in 0,1 bis 0,2 Sekunden.
Yamaha FJR 1300 AS Mod. 2006 Die Kupplungsbetätigung auf der „normalen” FJR 1300 A ist auf Dauer eine ziemlich kraftraubende Angelegenheit, und wer einen Tag konventioneller Kupplungsarbeit mit Kolonnenverkehr, Innenstadt-Gewühl und Serpentinen- Zauberei hinter sich hat, ahnt vielleicht, daß eine automatische Kupplung durchaus ein Segen sein kann. Oder um es etwas einfacher zu sagen: Beim Motorrad fahren macht das Gasgeben Spaß, das Beschleunigen, das Bremsen, das Rauf- und Runterschalten, die Schräglagen, Wind und Wetter – das macht alles Spaß. Aber das Kuppeln? Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß er gerne kuppelt? Eben! Ich als alter Technik-Muffel sage Ihnen: Das Yamaha-System ist eine ziemlich feine Sache, die prächtig funktioniert. Ob es mir den momentan noch sehr heftigen Aufpreis (immerhin inklusive Heizgriffe…) wert wäre, ist eine ganz andere Frage. Ich bin mir ziemlich sicher, daß wir das System in gar nicht so ferner Zukunft auch in anderen Modellen und bei anderen Marken finden werden. Und dann kann die Kalkulation schon ganz anders aussehen. Das anfangs nur zögerlich eingeführte und ebenfalls sehr teure ABS hat vorgemacht, wie so etwas funktionieren kann. Das Mehrgewicht läßt sich zumindest in der Sporttourerklasse vernachlässigen. Die ganze YCC-S-Mimik wiegt vier Kilo, was bei einem Kampfgewicht von vollgetankt 292 Kilogramm (ohne YCC-S) nicht wirklich dramatisch ist.
So, Sie haben sich bis hierher sehr tapfer durch meine Eindrücke von der wichtigsten technischen Neuheit der FJR 1300 gelesen. Zur Belohnung gibt es die weiteren Modellpflegemaßnahmen im Schnelldurchlauf. Bitteschön: Neue Verkleidung mit zusätzlichen Lüftungsschlitzen; neue Verkleidungsscheibe mit 40 mm mehr Einstellhöhe (ganz zug- und verwirbelungsfreifrei geht es dahinter aber auch jetzt nicht zu); das mittlere Verkleidungsteil läßt sich bei Bedarf durch Ausklappen um 30 mm verbreitern; Schwinge um 35 mm verlängert (noch besserer Geradeauslauf, keine Abstriche beim bisher schon guten Handling); gebogener Kühler mit zwei Lüftern für erhöhte Kühlleistung (zuvor gerade mit einem Lüfter); Unterseite des Tanks besser isoliert; Übersetzung um 2,7% verlängert (das macht bei Tempo 200 rund 200 U/min Drehzahlsenkung aus, ein sechster Gang wäre noch netter gewesen…); Sitzhöhe in zwei Stufen variierbar (ohne Werkzeug, blitzschnell durch Umsetzen einer Kunststoffplatte); Lenker läßt sich in drei Stufen um insgesamt 11 mm nach vorn oder hinten umsetzten.
Yamaha FJR 1300 AS Mod. 2006 Eine ganz wesentliche 2006er-Modellpflegemaßnahme verdient eine etwas ausführlichere Beschreibung. Yamaha kombinierte das serienmäßige ABS nämlich mit einer Kombi-Bremse (CBS – „Combination Brake System”). Beim Betätigen der Hinterradbremse werden auch die beiden unteren Bremskolben der rechten Vorderradbremse aktiviert. Diese Kolben sind kleiner als die übrigen sechs Kolben der vorderen Doppelscheibenbremse. Die Wirkung beim kräftigen Zutreten ist aber heftig. Da wird nicht zart mitgebremst, da wird richtig zugepackt, ohne daß die Handbremshebel gezogen werden muß. Wer ausschließlich vorn reinlangt, betätigt auch nur die vorderen Stopper, was die Freunde einer eher sportlicheren Gangart freuen dürfte. Dem Yamaha-ABS muß man ganz hoch anrechnen, daß es die Dosierbarkeit, den Druckpunkt und überhaupt das ganze Bremsgefühl in keiner Weise verwässert. Alles paßt auf den Punkt, die Stopper gehen richtig schön knackig zu Werk. Und das ganz ohne Bremskraftverstärker-Blödsinn oder ähnlich überflüssige Spielereien. Die ABS-Regelung mag etwas grober als bei manchem Wettbewerber sein, doch funktionieren tut es im Ernstfall auch so. Entscheidend ist, daß sich die Yamaha-Bremse mit ABS im Alltagsbetrieb nicht von einer sehr guten Bremse ohne ABS unterscheidet. Ein größeres Kompliment kann man den FJR-Stoppern eigentlich gar nicht machen.
Eine einzige Sache haben die Yamaha-Techniker beim 2006er-Jahrgang verschlimmbessert. In der Presse-Info liest sich das unter dem Stichwort „Progressive Gasgriffumlenkung” wie folgt: „Ein ebenfalls neues Feature der 2006er FJR ist ein Gasgriff mit progressiv arbeitender Umlenkung. Diese einfache aber wirkungsvolle Verbesserung gibt ein leichteres Gas-Feeling im unteren bis mittleren Bereich und damit mehr Bequemlichkeit und verbesserte Kontrolle.” Ich halte den neuen Griff für einen Griff ins Klo, denn er arbeitet nicht progressiv, sondern einfach nur schwergängig. Und das schreibt Ihnen ein Mann mit Handschuhgröße elf und permanent schwarzen Fingernägeln!
Machen wir lieber mit den erfreulichen Veränderungen weiter: Die Soziusrasten sitzen nun tiefer, weiter vorn und weiter außen; im Cockpit gibt es ein neues Handschuhfach mit 12-Volt-Steckdose und einen gut zu fassenden Drehknopf für die Leuchtweitenregulierung; Rücklicht und Scheinwerfer sind neu gestaltet, die Lichtausbeute ist hervorragend; wenn es eng wird, lassen sich die perfekte Rücksicht bietenden Spiegel einfach einklappen. Der 25-Liter-Tank ermöglicht im Landstraßen-Normalbetrieb über 400 Kilometer Reichweite, wenn es auf der Autobahn mal etwas flotter (maximal 245 km/h) voran geht, gönnt sich der turbinenmäßig laufende Reihenvierer gute sieben Liter auf 100 Kilometer.
Ansonsten ist die FJR das geblieben, was sie immer schon war: Ein bärenstarker ICE auf zwei Rädern. Das Platzangebot und die Ausstattung sind hervorragend, der Motor ist eine Wucht, die Verarbeitung ist gediegen, und wer auf der FJR seine lustigen fünf Sportfahrer-Minuten bekommt, kann es auch mal richtig krachen lassen. Fahrwerk, Reifen und Schräglagenfreiheit machen eine Menge mit. Wie beliebt die FJR tatsächlich ist, wird jeder merken, der sich für eine Gebrauchtmaschine interessiert: Die Geräte werden selbst mit hoher Kilometerleistung noch ziemlich hoch gehandelt. Die Modellpflege 2006 war behutsam genug, um die Alte nicht alt aussehen zu lassen und um den tollen Charakter der FJR zu bewahren. Und sie war umfangreich genug, um die FJR topaktuell zu halten, vielleicht sogar aktueller als einen Teil der Wettbewerber. Ich laufe wahrlich nicht jedem Technik-Schnickschnack hinterher. Was in Sachen „Halbautomatik” passiert, werde ich aber sehr interessiert und ganz genau verfolgen. Und Sie müssen die FJR 1300 AS (noch) nicht unbedingt kaufen – aber Sie sollten sie unbedingt ausprobieren.