aus bma 09/05

von Konstantin Winkler

Wanderer Heeresmodell 4 PS Bj. 1915 Ein gewisser Wilhelm Maybach hatte seinerzeit die Menschheit davor bewahrt, weiterhin von Pferd und Dampfmaschine transportiert zu werden. 1875 konstruierte er zum ersten Mal einen Motor, der mit Benzin lief: 10 Jahre dauerte es dann noch, bis 1885 Paul Daimler, der Sohn Gottlieb Daimlers, die erste größere Ausfahrt mit dem Motorrad wagte. Oder besser gesagt, mit dem Motor-Reitwagen, wie das Vehikel damals hieß. Und schon umschmeichelte ein neuer Duft die Nasen der Menschheit. Die Abgase rochen zwar auch in den Pioniertagen nicht gerade nach Parfüm, dafür aber umso mehr nach Öl und Benzin – und nach Geld.
Viele Motorradmarken entstanden in den folgenden Jahren. Eine davon ist heute fast völlig in Vergessenheit geraten: Wanderer. Dabei war sie zusammen mit NSU eine der ersten deutschen Marken, die kurz nach der Jahrhundertwende solide und leistungsfähige Motorräder baute. 1886 tauchte der Name Wanderer erstmals auf den Fahrrädern der Firma „Chemnitzer Velociped-Depot Winklhofer & Jaenicke” auf. 1902 – man war inzwischen nach Schönau bei Chemnitz umgezogen – entstanden die ersten Motorräder mit einem 215 ccm großen Einzylinder aus eigener Entwicklung. Ab 1905 wurden V2-Modelle gebaut.
Die Motorradmarke Wanderer gehörte zu der kleinen Gruppe von Herstellern, die von Anfang an in der Lage waren, fast alle Teile einschließlich der Motoren selbst zu entwickeln und herzustellen. Das Werk in Schönau produzierte bei hohen Ansprüchen an Qualität und Genauigkeit und daher auch im Vergleich zur Konkurrenz relativ teuer. Man entwickelte sogar ein eigenes Feingewinde mit Zollmaßen.

 

Original-Zitat aus einem Wanderer-Verkaufsprospekt: „ Die Maschine erfüllt die höchsten Ansprüche in Bezug auf außerordentliche Bergleistungen und entwickelt eine so enorme Schnelligkeit, wie sie im Verkehr kaum anwendbar, aber für Sportzwecke manchmal erwünscht ist. Wir garantieren eine Geschwindigkeit von 85 km pro Stunde.”
Nachdem die Motorräder ihre Kinderkrankheiten überwunden und sich zu belastbaren, zuverlässigen Fahrzeugen entwickelt hatten, bekundete auch das Militär Interesse. Denn die Vorteile eines Stahlrosses gegenüber einem aus Fleisch und Blut waren eindeutig: Das Motorrad war schneller, hatte einen größeren Aktionsradius, war belastbarer und erforderte weniger Pflege. Defekte oder kapitale Schäden ließen sich selbst unterwegs meist mehr oder weniger notdürftig reparieren. Ein Pferd mit gebrochenem Bein war dagegen verloren.
Wanderer Heeresmodell 4 PS Bj. 1915 Die Wanderer-Motoräder waren konstruktiv auf der Höhe ihrer Zeit. Deshalb mußten sie auch in den Krieg ziehen und waren neben NSU-Motorrädern die meistverwendeten Militärmaschinen des 1. Weltkrieges.
Ab 1915 lieferte Wanderer tausende von Fahrrädern und Motorrädern an das Heer. Besonders populär war das „Heeresmodell 4 PS”. Die Typenbezeichnung 4 PS stammte von den zu versteuerten PS, die das Finanzamt damals festlegte. Für den Hubraum interessierte man sich damals kaum, wohl aber für die Anzahl der Zylinder – in diesem Fall zwei. Der Vollständigkeit halber die Kubikzahl: Knapp 500, und zwar langhubige(65 mm Bohrung und 76 mm Hub).
Auffälligstes Merkmal der Wanderer ist neben dem formschönen fünfeckigen Tank und dem V2-Motor der Keilriemenantrieb, der zur damaligen Zeit gegenüber dem Kettenantrieb noch so manche Vorteile hatte. Mit ihm ließ es sich wesentlich sanfter fahren und, er brauchte nicht geschmiert werden. Und man mußte (bei den teilweise noch üblichen kupplungslosen Fahrzeugen) nicht bei jedem Halt den Motor abwürgen und neu starten. Nachteilig waren dagegen die ungenügende Haltbarkeit und das ständige Durchrutschen bei schlechtem Wetter. Aber auch da hatten die Wanderer-Motorräder schon innovative Technik zu bieten: Die vordere Keilriemenscheibe war exzentrisch gelagert und konnte während der Fahrt verstellt werden.
Mit dem Heeresmodell führte Wanderer einen Kickstarter ein, womit das Problem des Aufbockens beim Starten gelöst war. Vorher mußten die Motorräder entweder in Fahrradmanier mit Pedalen und Kette zum Hinterrad angetreten oder ganz einfach angeschoben werden. Über eine kleine Kette treibt der Kickstarter das Hinterrad an, welches wiederum über den Keilriemen die Kurbelwelle bewegt. Durch den Wegfall der Fahrradpedale und des Tretkurbellagers, die das Vorgängermodell noch „zierte”, kamen nun bequeme Trittbretter und der erwähnte Kickstarter – damals auch Startpedal oder Anwerfkurbel genannt – zum Einsatz. Im Bauch des schon kurz erwähnten fünfeckigen Tankes trennt eine Blechwand Benzin und Öl. Deshalb muß vor jeder Fahrt nicht nur der Benzin- sondern auch der Ölhahn geöffnet werden. Ansonsten – wenn man letzteren vergißt – gibt es bald häßliche Geräusche! Die Technik der Wanderer verlangt Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl. Man muß diverse Hebel bedienen können, die moderne Motorräder gar nicht mehr haben. Diese Art der Fortbewegung unterscheidet sich vom aktuellen Stand der Technik wie ein Schachspiel vom Computerspiel. Am Lenker befinden sich sechs Hebel, auf dem Tank derer vier, die allesamt vor und während der Fahrt bedient werden können. Als erstes werden die beiden Hähne geöffnet. Die Schleifen der Öl- und Kraftstoffleitungen aus Kupfer sehen nicht nur schön aus, sie dienen vor allem dazu, das Risiko eines Vibrationsbruches zu vermindern. Das Verbrennungsgemisch liefert eine eigene Vergaserkonstruktion aus Messing. Nachdem die Schwimmerkammer mittels Tupfer geflutet wurde, Gas- und Lufthebel justiert sind, die Zündung auf „spät” steht, man sich von der richtigen Spannung des Keilriemens überzeugt hat, kann der Motor mit Unterstützung des Dekompressionshebels angetreten werden. Meist springt die Wanderer auf den 2. Kick an. Zuerst pustet sie fleißig das ins Kurbelgehäuse gelaufene Öl als weiße Wolken aus. Was sich zuviel an Öl im Motor befindet, läuft nicht zurück in den Öltank, sondern auf die Straße – oder wird verbrannt. Verlustschmierung nennt man das. Die Auspuffgase werden in einen kleinen unterhalb des Rahmens montierten Schalldämpfer, der seinen Namen auch verdient, geleitet. Leise läuft das Heeresmodell, schließlich soll der Feind es ja auch nicht hören.
Wanderer Heeresmodell 4 PS Bj. 1915 Um den V-Motor bei Laune zu halten, hat der Wanderer-Pilot alle Hände voll zu tun. Sind Gas- und Lufthebel nicht in der richtigen Stellung, ist der Motor gleich wieder aus.
Zwei Ölpumpen besitzt die Wanderer. Am Motor befindet sich die automatische Ölpumpe, die das aus dem Tank zufließende Öl unten in das Kurbelgehäuse pumpt, wo es von der Kurbelwelle erfaßt und an die zu schmierenden Stellen geschleudert wird. Die zweite ist die Handölpumpe, die sich auf bzw. im Öltank befindet. Bei stärkerer Belastung oder an Steigungen soll sie gelegentlich betätigt werden. Im Handbuch steht: „Hartes Klopfen im Motor deutet auf Ölmangel hin, während bläulich-weiße Dämpfe zu reiche Schmierung anzeigen.” Somit weiß der Wanderer-Fahrer, wann er die Handölpumpe zu bedienen hat, oder es unterlassen sollte.
Die Wanderer besitzt ein Zweiganggetriebe in der Hinterradnabe. Die Schaltung sowie der Leerlaufhebel (der einer Kupplung entspricht) sitzen auf dem Tank. Das Anfahren ist sehr gewöhnungsbedürftig: Da der Leerlaufhebel umgelegt werden muß, heißt es einhändig losfahren – nicht jedermanns Sache! Man geht am breiten Lenker in Position und schlingert um Haltung bemüht los. Das niedrige Fahrzeuggewicht von nur 90 Kilo ist da von Vorteil und das „Geeiere” hält sich in Grenzen. Sobald die kurz übersetzte erste Fahrstufe ausgedreht ist, müssen Gas und Luft zurückgenommen und mit der linken Hand auf dem Tank der zweite, der sogenannte Schnellgang, eingelegt werden.
Der historische Ledersessel ist sehr bequem, da gut gefedert. Um die Sitzhöhe niedrig zu halten, bekam das obere Rahmenrohr vor dem Sattel einen Knick nach unten. Auch wenn die Wanderer fahrwerksmäßig teilweise noch mehr nach Fahrrad als nach Motorrad aussieht, ist dadurch die Sitzposition nicht allzu hoch.
Nicht nur das Vorderrad war gefedert, sondern auch das Hinterrad. Hier beruhte die Federung auf einem Doppelfedersystem, wobei sich die beiden Spiralfedern in den vorm Sattel zum Hinterrad führenden Rahmenrohren befanden. Das war fortschrittlicher und verwindungssteifer als die damals auch üblichen Hinterradfederungen mit einer Zentralfeder, bei der sich in Kurven schon mal das Heck „verbiegen” konnte.
Für ausreichenden Federungskomfort war also gesorgt, um den Ritt über die üblen Straßen der damaligen Zeit zu erleichtern.
Lenken ohne Lenkungsdämpfer, bremsen ohne ABS und sich orientieren ohne Navigationssystem. Stattdessen: Sich davon gleiten lassen, was einem das Motorrad während der Fahrt mitteilt, ob es sich wohl fühlt oder muckt. Das ist Biken wie vor fast 100 Jahren.
Wanderer Heeresmodell 4 PS Bj. 1915 An Steigungen keucht die Wanderer in kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit durch die Landschaft, und ein eventuell vorhandener Beifahrer muß jederzeit sprungbereit sein, um bei Bedarf schiebend einzugreifen. Auch Gefällestrecken haben ihre Tücken und entpuppen sich als Sonderprüfung der besonderen Art, besonders wenn die Straße nass und glitschig ist. Die Wulstreifen der Größe 26 x 2 1/2 sind so schmal wie Fahrradpneus, und die Kombination aus Bremskraft und Lenkkopfwinkel deckt sich an manchen Ecken nur knapp mit dem Straßenverlauf.
Nach einer Fahrt mit der Wanderer ist man gerührt. Und nicht geschüttelt. Denn der V2 läuft weich und vibrationsarm. Die relativ bescheidenen Kühlrippen genügten damals, um dem langsam drehenden, leistungsarmen Motor die Hitze zu entziehen.
Um zu prüfen, wieviel Sprit sich noch im Brennstoffkasten – so sagte man früher zum Tank – befindet, braucht man nicht den Tankdeckel abschrauben und nachdenklich in die Tiefe blicken. In der Mitte des Tankdeckels sitzt eine Kappe, und wenn man sie losschraubt, kommt eine Messingstange mit Literteilung, die am unteren Ende einen Schwimmer hat, nach oben gestiegen.
Neben dem Handbuch gab es für den Wanderer-Fahrer auch eine detailierte Ersatzteilliste mit Preisen. Während eine Bosch-Zündkerze mit 3,60 Mark fast auf heutigem Niveau lag (man bedenke jedoch den damaligen Stundenlohn von weit unter einer Mark!), kostete ein Zylinder 45 Mark, ein Kolben 6 Mark, der komplette Vergaser 36 Mark und ein Auspufftopf 16,50 Mark. Ein ganzer Motorradrahmen ging damals für 111 Mark über den Tresen. Relativ teuer waren Verscheißteile: Ein Satz Bremsbacken kostete 7,20 Mark, ein Keilriemen 18 Mark und ein Wulst-reifen zwischen 21 und 60 Mark. Den dazugehörigen Schlauch gab es für 12 Mark.
Ende der 20er Jahre endete die Motorradproduktion in Schönau. Um den Anschluß an die sich rasch erneuernde Motorradtechnik nicht zu verlieren, brachte Wanderer 1928 eine moderne Neukonstruktion mit Preßstahlrahmen und Kardanantrieb heraus. Leider war der 500er Einzylinder wenig ausgereift, als er in Serie ging. Rahmenbrüche und Motorschäden waren an der Tagesordnung. Ein gewisser Frantisek Janecek aus Prag übernahm schließlich einen Teil der Fertigungsanlagen. Und so leben Wanderer-Motorräder noch heute weiter, denn aus Janecek und Wanderer wurde JAWA.