aus Kradblatt 1/14
von Marcus Lacroix

Victory Vegas High-Ball AussichtEs ist ein wenig frisch in Norddeutschland – also Temperaturen im einstelligen Bereich – und es regnet. Die Straßen sind verdreckt und ich sitze auf einem Motorrad, über dessen Fahrer auch ich noch vor kurzem die üblichen Witze gerissen hätte. Ein Chopper bzw. Bobber mit Ape-Hanger, in diesem Fall die Victory Vegas High-Ball. Wer kennt das nicht: „Nie wieder Achselschweiß…“ oder „Übst du schon mal für die nächste Polizeikontrolle?“ Und trotzdem habe ich ein fettes Grinsen im Gesicht! Aber der Reihe nach…
Beim Kradblatt-Ausliefern plauderte ich irgendwann mit dem Werkstattleiter von Bikes of Dream in Ocholt und er versuchte mich davon zu überzeugen, wie klasse das Fahren eines Choppers mit Ape-Hanger ist. Ich hatte zwar das obige Witz-Stereotyp zur Hand, aber keine eigene Erfahrung. Ein Umstand den es zu ändern galt. Da kam dann Dennis Rathjen von Victory-Papenburg ins Spiel. Er überließ mir dankenswerter Weise seinen Vorführer Victory Vegas High-Ball mit serienmäßigem Ape für mehrere Tage zum ausgiebigen Fahren.
Victory Vegas High-Ball FrontKurze Erklärung für die Unwissenden: ein Ape-Hanger, aus dem englischen grob übersetzt ein „Affen-Hänger“, ist ein hochgezogener Motorradlenker, bei dem der Fahrer einem am Ast hängenden Äffchen nicht unähnlich erscheint. Dieser Vergleich und die durch die Sitzposition eher wenig dynamische Fortbewegung dürften einer weiteren Verbreitung hierzulande bisher sicher im Weg gestanden haben. Wer sich einen Ape gönnt, muss schon wissen auf was er sich einlässt.
Die erste Sitzprobe auf dem Bobber fiel etwas zwiespältig aus. Die mit 300 kg (trocken, Werksangabe) nicht gerade leichte Maschine verliert subjektiv einen Großteil des Gewichts, wenn man in der tiefen Sitzmulde Platz genommen hat. Die Füße reichen so locker auf den Boden, dass man meint, fast Spagat machen zu können, wenn man den denn könnte. Die Fußrasten passen super, nur der bespöttelte Ape-Hanger krümmt meinen Rücken zu stark, was ja gerade im Vergleich zu Flachlenker-Choppern nicht der Fall sein sollte. Nun bin ich nicht gerade Tyrannosaurus Rex, aber die längsten Ärmchen habe ich bei 176 cm Körperkürze auch nicht. Der Lenker ist ab Werk für Hünen eingestellt – also fix die Inbusschrauben gelöst und das Teil körpergerecht justiert. Und schon ist es da, das eingangs erwähnte fette Grinsen.
Victory Vegas High-Ball HeckDie Sitzposition auf der Victory Highball sorgt für ein ganz besonderes Fahrgefühl. Es ist, als will man die Welt umarmen. Man greift förmlich in die Ferne, die Straße kommt einem entgegen. Das fühlt sich nicht nur unglaublich cool an, das sorgt in Verbindung mit dem druckvollen „106 cubicinch Freedom V-Twin Motor“ auch für pure Entspannung. Die 1.731 ccm wummern subjektiv immer bei Standgas oder wenig darüber vor sich hin. In der Praxis stehen auch mal 3000 U/min auf dem Digitaldisplay, aber die Zahlen sind irrelevant. Grund genug wohl für Victory, den Drehzahlmesser im Multifunktions-LCD-Display im großen schönen Zeiger-Tacho-Gehäuse zu verstecken. Dort werden auch die Tages- und Gesamtkilometer, die Uhrzeit und der gewählte Gang angezeigt. Allemal genug Informationen für entspanntes Cruisen.
Victory Vegas High-BallAuch die 95 Pferdestärken des V-Twin sind cruisermäßig reichlich bemessen und den üppigen 140 Nm Drehmoment hat die weißwandige Metzeler-Bereifung bei nasser Straße und ruppiger Gashand wenig entgegenzusetzen. Das Hinterrad neigt dann beim scharfen Beschleunigen nicht nur im ersten Gang zum Durchdrehen. Aber mal ehrlich amerikanisch: who the fuck needs traction control? Traktionskontrolle hat man in der rechten Hand und die funktioniert auch wunderbar.
Wünschenswerter wäre da schon ein – zumindest aufpreispflichtiges – Antiblockiersystem. Aber nada, nichts da, nicht für Geld und gute Worte. Victory hält in der Fahrzeugklasse ein ABS (noch) nicht für nötig. Dabei haben die Amis so ein System serienmäßig in den hauseigenen Tourern. Letztendlich, so fair muss man sein, ist ein ABS nicht zwingend notwendig. Aber die wahrscheinlich genetisch bedingt ängstliche deutsche Volksseele könnte es schon beruhigen und zusätzliche Käuferschichten ansprechen. Lange Rede kurzer Sinn: Die Vegas High-Ball bremst nass wie trocken ausreichend. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
 
Victory Vegas High-Ball TachoKommen wir noch mal zur Fahrdynamik: der Motor ist, wie schon erwähnt, ein echter Hammer. Druckvoll, laufruhig aber nicht langweilig, auf dem Dragstrip zieht es einem beim Durchladen gepflegt die Arme lang. Das Fahrwerk funktioniert auch gut, ist ausreichend komfortabel abgestimmt und ohne Hinterlist. Sogar die Schräglagenfreiheit geht völlig in Ordnung. Zum feurigen Kurvengeballer auf Cruiser-Niveau lädt die High-Ball – anders als ihre Schwestern Hammer oder Judge – trotzdem nicht ein. Machen wir uns nichts vor: Durch den Ape-Hanger sind die Hände unglaubliche 150 Zentimeter von der Reifenaufstandsfläche entfernt und da ist das Feedback nun mal nicht mehr wirklich direkt. Das macht aber nichts, denn wer Ape fährt, denkt sicher eher an Hopper & Fonda als Lorenzo & Marquez. Warum böse Rocker in Ami-Filmen Ape-Chopper fahren, erschließt sich mir allerdings nicht. Gepflegt den Cops entwischen kann man nämlich vergessen. Man ist weder wendig, noch schnell – zumindest nicht auf längeren Strecken.
 
Apropos schnell: Ich habe die High-Ball zwischendurch mal auf 160 km/h getrieben. Da ist sie erstaunlich zügig, wenn man die sechs Gänge ausdreht. Mehr wäre auch durchaus möglich gewesen, aber es ist saumäßig anstrengend. Auch 120 km/h erfordern auf Langstrecke Nehmerqualitäten. Belässt man es aber bei 90 bis 110 km/h stellt sich automatisch das Grinsen wieder ein und die Welt ist dein. Wie gesagt – Ape ist nicht für jeden was, aber jeder sollte es probiert haben. Erst danach kann man wirklich mitreden.
 
Victory Vegas High-BallDie Witze sind übrigens gar keine. Die Kühlung der Achseln funktioniert tadellos. Im Winter sind Handschuhe mit langen Stuplen dringend zu empfehlen und im Sommer ist ein Ape sicher eine Wohltat. Und die Sache mit der Polizeikontrolle wäre zumindest bei meiner Probefahrt nicht abwegig gewesen. Zu Testzwecken haben wir nämlich die originale US-Auspuffanlage gefahren. Damit kann man natürlich leise durch Ortschaften blubbern, wenn man sich vornehm zurückhält. Man kann aber auch ganz und gar anders. Mein alter Herr, der für die Fotoaufnahmen im Auto hinter mir fuhr, berichtete begeistert vom „Bubbern“ im Brustkorb, wenn ich das Gas aufzog. Und das bei geschlossenen Fenstern! Nun dürfte nicht jeder Zeitgenosse Motorradfan sein und bei längeren Strecken nervt der Sound sogar den Fahrer. Abends gibt’s dann einen leichten Tinitus, so dass ich persönlich die leisere Originalanlage bevorzuge.
 
Mehr technische Details zur High-Ball brauche ich an dieser Stelle wohl nicht aufzuzählen, denn wer sich solch ein Motorrad kauft vergleicht keine Spezifikationen. Eine amerikanische Victory, Harley oder Indian kauft man, weil man sie haben will und nicht, weil es keine schnelleren, fahraktiveren oder besser ausgestatteten Motorräder gibt. Wer nach einer ausgiebigen Probefahrt nicht von einem Ape-Hanger überzeugt ist, der lässt lieber die Finger davon. Wer aber die Muße beim Motorradfahren hat oder sucht, kriegt das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht!

PS: Passenderweise kam gerade noch eine Presseinfo von Metzeler für den neuen ME 888 Marathon Ultra rein. Klingt auf jeden Fall gut:
Speziell für die besonderen Anforderungen von Custom Touring Motorrädern entwickelt.
Innovative Reifentechnologien garantieren konstante Fahreigenschaften über die gesamte Lebensdauer bis zur Verschleißgrenze.
Hervorragender Grip, selbst bei schwierigen Bedingungen wie Nässe und Kälte durch neu entwickelte Struktur und Laufflächenmischung.
Hervorragende Stabilität und agiles Handling sowohl bei hohen als auch bei niedrigen Geschwindigkeiten.
Höhere Laufleistung im Vergleich zum Vorgänger.