aus bma 10/11 – Fahrbericht

von Marcus Lacroix

Victory CrossroadsDem Cruisen verpflichtet – das ist doch wirklich mal ein schöner Marketing-Spruch. Wer oder was ist aber Victory? Den geneigten Leser, dem hier ein Fragezeichen im Gesicht steht, klären wir noch mal kurz auf.

Den Motorradmarkt betrat die Marke Victory 1997 als Tochterunternehmen der Polaris Industries Inc. in den Vereinigten Staaten von Amerika. Polaris selbst wurde 1954 in den USA gegründet und ist im Bereich der Schneemobile und ATV (All Terrain Vehicles) weltweit bestens bekannt. Victory trat mit dem Slogan „The new American Motorcycle” an und damit war klar, dass man den Harley-Mannen aus Milwaukee direkt ans Bein pinkeln wollte. Bis 2009 wurde nur der US-Markt beliefert und dort mehr als 60.000 Maschinen abgesetzt. Nicht schlecht für einen Newcomer und so wagte man den Sprung über den großen Teich. Glücklicherweise, kann man da nur sagen, denn die Modelle, die die Amis im Programm haben, bereichern den Cruiser-Markt auf jeden Fall.

Wir durften die Victory CrossRoads fahren, die uns netterweise vom Victory-Vertragshändler Leu-Tuning aus Sande (www.leu-tuning.de, Telefon 04422-999848) für mehrere Tage zur Verfügung gestellt wurde.

Victory Crossroads ZahnriemenDie CrossRoads zählt in der Victory-Modellpalette zu den Tourern, was man unschwer am serienmäßigen Gepäcksystem erkennen kann. Ebenso wie Harley, vertraut auch Victory auf die pulsierende Kraft des V2. Dass die Zylinderanordnung den zum Victory (=Sieg) Zeichen gespreizten Fingern einer Hand nicht unähnlich ist, wurde von den Designern noch zusätzlich herausgearbeitet. Das auf den US-patriotischen Namen „Freedom-Engine” getaufte Triebwerk dominiert die Optik aus fast jeder Perspektive. „106 Cubic-Inches” prangt auf dem Seitencover, was uns Europäern erst mal nichts sagt. 1731 ccm Hubraum sind hingegen schon eine klare Ansage. Bildlich gesehen sind das zwei wirklich fette Kaffeebecher, die da auf- und abstampfen! 10,1 cm im Durchmesser, legen die Kolben je Takt 10,8 cm Weg zurück. Manch Mitbewerber hat auf dem Papier zwar mehr zu bieten, aber darauf kommt es im Alltag nur selten an. 89 Pferdestärken liefert der Motor der Freiheit und, viel interessanter für den Cruiser, 140 Nm maximales Drehmoment.

Vor dem Start muss die CrossRoads allerdings erst mal aus der Garage bugsiert werden und die Prozedur bedarf ein wenig Übung. 338 kg Trockengewicht summieren sich vollgetankt auf mehr als sieben Zentner! Glücklicherweise liegen der Schwerpunkt und die Sitzfläche der Maschine sehr tief. Im Zweifelsfall setzt man sich also drauf und „füßelt” den Cruiser in Startposition. Das sieht allerdings uncool aus und dabei lernt man dann gleich die wichtigste Heavyweight-Cruiser-Lektion: „bevor du parkst denk drüber nach, wie du dort wieder wegkommst ohne dich lächerlich zu machen”. Zwei-Zentner-Männer mit dicken Armen überspringen diese Lektion einfach.

Victory Crossroads TempomatZündung an – cruisertypisch sitzt das Zündschloss seitlich am Motor. Das ist zwar wenig praktisch, aber man will sich ja nicht den freien Blick auf die Straße unschön verbauen. Die Benzinpumpe baut mit dem heutzutage gewohnten Fiepen Druck auf, ein Druck auf den E-Starter und mit elektronisch geregelter Präzision erwacht der Verbrennungsmotor zum Leben. Die Vibrationen sind dezent, das Auspuffbrabbeln auch. Beides jedoch im angenehmen Bereich. Die Kupplungshandkraft fällt moderat aus und mit deutlichem Klacken rastet der erste von sechs Gängen ein. Auch ohne Gas zu geben kann man problemlos anrollen und sogleich manifestiert sich ein Gedanke: „Jawoll, das Teil ist ein Traktor” – Kraft, Zuverlässigkeit und positive Gutmütigkeit strahlt die Freedom-Engine schon auf den ersten Metern aus. Die unteren Gänge schalten sich etwas hart, doch das mag daran liegen, dass unsere Maschine keine 200 Kilometer auf der Uhr hat. Evtl. muss man sich auch nur ein paar feste American-Boots anschaffen und den Schalthebel nicht lässig japanisch-filigran betätigen. Kräftige Tritte schaden jedenfalls nicht und die Gangwechsel funktionieren trotz (oder wegen) des vernehmlichen Klackens einwandfrei.

Victory Crossroads Scheibe hintenBeim ersten Abbiegen agiert man ob der Masse noch etwas verhalten, aber schon nach wenigen Kilometern fühlt man sich wirklich sauwohl. Gewicht hat nämlich durchaus auch einen Vorteil: es macht träge. Bei teilweise stürmischen Windböen in unserem „Sommer” zieht die CrossRoads unbeeindruckt ihre Spur. Das macht nicht nur Spaß, sondern beruhigt auch die Nerven.

Wer nun glaubt, der Cruiser wäre ein schwerfälliger lahmer Eisenhaufen, der täuscht sich. Speziell zu unseren norddeutschen Landstraßen, mit eher weiten Kurven, passt die Fahrwerksgeometrie und -auslegung exzellent. Die Schräglagenfreiheit ist gut bemessen – lediglich beim Abbiegen, hartem Angasen oder in schnellen Autobahnausfahrten kratzen die Trittbretter mal am Boden. Harmlos, denn da sie leicht einfedern, hebelt man sich dabei nicht aus. Die aus Poser-Sicht schmale Bereifung, 130er vorne und 180er hinten sowie der schon erwähnte tiefe Schwerpunkt sorgen für eine überraschende Handlichkeit. Die Federelemente – vorne eine 43er Upside-Down Gabel, hinten ein einzelnes, luftunterstütztes Federbein – bügeln normale Unebenheiten komfortabel weg. Lediglich auf schlechter Wegstrecke nimmt man das Gas freiwillig etwas zurück, denn hier fordert die Masse ihren Tribut. Bei hoher Zuladung muss man zur Anpassung nicht mit einem Hakenschlüssel herumfrickeln, sondern gibt über ein Ventil hinter dem rechten Seitendeckel einfach etwas mehr Druck auf’s Federbein.

Unklar bleibt, warum Victory den Motor mit einem Sechsganggetriebe versehen hat, zumal der letzte Gang auch noch als „Overdrive” – also extra lang – ausgelegt ist. Bei dem druckvollen Kraftklotz hätten vier Gänge locker gereicht. Noch schöner, aber bei dem Wunsch würden mich die Amis wohl als Ketzer steinigen, würde mir eine Variomatik gefallen. Einfach nur am Gas drehen ohne zu schalten, das wäre doch ultimatives Cruisen, oder?! Mit dem Kickdown im rechten Handgelenk. So schaltet man halt gewohnheitsgemäß Ortsausgangs alle Gänge durch und tuckert bei 100 km/h mit sehr entspannenden 2300 U/min durch die Landschaft. Bei 3000 U/min stehen schon fast 140 km/h auf der Uhr, bei 3500 sind es 160! Der normale Cruiser-Alltag spielt sich zwischen 1500 und 3000 Touren ab.

Victory Crossroads TrittbrettWoher man das so genau weiß? Ein Drehzahlmesser ist doch nicht zu sehen?! Hier kommt der hübsche Chrombecher, der einsam auf der massiven Gabelbrücke thront, ins Gespräch. Analog (also mit Zeiger) wird im Cockpit die Geschwindigkeit angezeigt, oberhalb von 120 km/h eng gestaffelt, da die Werte eher theoretisch interessant sind. Im intergrierten LCD-Display findet man eine Ganganzeige (sehr praktisch, siehe oben), die Tankanzeige, Uhrzeit und wahlweise auf Tastendruck links am Lenker, Kilometer, Tageskilometer und Drehzahl. Der freundliche Victory-Dealer kann noch weitere Bordcomputer-Funktionen freischalten, falls vom Kunden gewünscht. Die Kontrollleuchten sind klein, aber ausreichend hell. Die Tankwarnleuchte meldete sich erstmals nach 280 gefahrenen Kilometern. 15,63 Liter nahm der 22-Liter-Tank zu dem Zeitpunkt auf. Das entsprach 5,58 Litern/100 km im gemischten Stadt-, Land-, Autobahnbetrieb. E10 ist möglich, wir tankten aber das normale Super.

Sehr praktisch sind die Seitenkoffer der Victory CrossRoads, denn auch zu zweit lässt es sich auf der bequemen Sitzbank gut verreisen. Die Basisversion, die hier zu sehen ist, verfügt über sogenannte Softbags und 66 Liter Stauraum. Wie sich herausstellt, sind aber auch „Softbags” keine Schlabbertaschen sondern feste Kunststoffkoffer, die nur mit Leder überzogen sind. Im Zubehör bzw. bei der Deluxe-Ausführung in Serie gibt es etwas größere, in Fahrzeugfarbe lackierte Hartschalenkoffer. Die Koffer lassen sich für Wartungsarbeiten sehr leicht ohne Werkzeug abnehmen. Unten stehen sie auf der Auspuffanlage, seitlich sind sie über zwei Knebelverschlüsse gesichert. Viel zu warten gibt es allerdings nicht, denn das Hinterrad wird über einen Zahnriemen angetrieben. Die CrossRoads Deluxe verfügt außerdem über ein Windschild, das bei der Basisversion nachgerüstet werden kann. Im Victory-Zubehör finden sich noch viele weitere Extras, bis hin zu einer Bekleidungskollektion. Harley-Davidson hat’s erfolgreich vorgemacht.

Victory CrossroadsEine typisch deutsche Frage lautet: „hat die auch ABS?”. Antwort: „Nein, hat sie nicht”. Zumindest nicht unsere Probefahrtmaschine. Der 2012er Jahrgang wird mit Blockierverhinderern ausgestattet sein. Aber auch ohne ABS gibt die Bremsanlage keinen Anlass zur Klage. Die Bedienkräfte fallen moderat aus und nur selten wird man sich mit einem Cruiser auf der letzten Rille an jemandem vorbeibremsen wollen. Greift bzw. tritt man extrakräftig rein, pfeifen die Gummis auf dem Asphalt. Aber auch bei nasser Straße lässt sich die Anlage gut dosieren. Hier muss man eher die Gashand im Zaum halten, denn kräftigeres Beschleunigen lässt das Hinterrad gnadenlos durchdrehen. Im Trockenen ist der Gripp der Dunlop Elite 3 tadellos und reicht locker zum Trittbrettschleifen.

Letztendlich spielen speziell beim Cruiserkauf alle technischen Details eher eine untergeordnete Rolle. Ein Cruiser muss vor allem optisch gefallen, denn jeder Fahrer weiß, dass es zum Heizen oder für Langstreckentouren geeignetere Maschinen gibt. Das tolle Gefühl tief sitzend durch die Landschaft zu gleiten, bieten die dafür nicht. Für die Victory Cross­Roads werden in der Basisversion 16.990 Euro aufgerufen. Neben Harley-Davidson, Triumph und den Japanern sollten Chopper- und Cruiserfans sich auch mal die Palette von Victory ansehen. Händler findet man zwar nicht an jeder Ecke, aber das zahlt sich spätestens am Bikertreff aus.