aus bma 01/97

von Klaus Herder

Nach 50 Jahren kann man sich ruhig mal etwas Neues einfallen lassen. Das dachten sich zumindest die Piaggio-Verantwortlichen und präsentierten termingerecht zum Vespa-Jubiläum die ET 4. Vom Klassiker aus Pontedera blieb allerdings so gut wie nichts übrig – die Neue ist so neu, neuer geht’s nicht. Das fängt beim Motor an: Generationen von Roller-Treibern liebten und haßten den rechtslastig untergebrachten Zweitakt-Drehschiebermotor. Aus, vorbei – was bei der neuen Vespa unter der Schale rumort, ist ein waschechter Viertakter. Und der ist zudem noch einigermaßen mittig und damit ohne weiteren Einfluß aufs Fahrverhalten untergebracht. Für Vespa-Verhältnisse grenzt die Motorisierung an eine Revolution, für Kenner des Piaggio-Programms ist der 10,7 PS starke Einzylinder allerdings ein guter Bekannter. Seine Premiere feierte der mit einer obenliegenden Nockenwelle und zwei über Kipphebel betätigten Ventilen ausgestattete Motor nämlich bereits 1995 im Sfera 125. Der leise und kräftige Eintopf macht aber in der Vespa einen noch besseren Eindruck als im Piaggio-Schwestermodell.
Das fängt beim Anlassen an. Die von der Sfera bekannten Startschwierigkeiten sind der ET 4 völlig fremd. Ein Druck aufs Knöpfchen genügt, und schon brabbelt der gebläsegekühlte Motor leise vor sich hin. Was nun folgt, verwirrt denjenigen, der bisher nur Vespa oder U-Bahn gefahren ist: der linke Handhebel läßt sich nur gegen einen deutlich spürbaren Widerstand ziehen, und der Versuch den Griff zu drehen, bleibt erfolglos. Des Rätsels Lösung: die legendäre Drehgriffschaltung ist in die ewigen Jagdgründe entschwunden. Was der Vesparisti verzweifelt zieht, ist der Hebel für die hintere Trommelbremse, und was er verzweifelt würgt, ist ein schnöder Kunststoffgriff, der fest auf dem Lenker montiert ist. Einfaches Gasgeben genügt, und schon spurtet die ET 4 los. Und wie sie spurtet, denn die stufenlose Riemenautomatik erledigt ihren Job perfekt. In Sachen Beschleunigung kann der Vespa kein anderer Viertakt-Roller folgen, und auch die meisten Zweitakt-Scooter müssen sich gewaltig sputen, um ihre Plastiknase vorn zu halten.

 

Der Vespa-Prospekt verspricht eine Spitze von 90 km/h. Das ist eindeutig untertrieben, denn die Tachonadel zeigt locker dreistellige Werte an. Echte 100 km/h sind fast immer machbar. Selbst bei Höchstgeschwindigkeit werkelt der Motor immer noch recht leise und nahezu vibrationsfrei. In der Vergangenheit wuchs mit zunehmendem Tempo die Todesverachtung der Vespa-Piloten. Zum einen, weil schnell gefahrene Kurven mit wechselndem Belag „dank” des kippeligen Fahrverhaltens ihren ganz eigenen Reiz hatten; zum anderen, weil die beiden Blechbüchsen in Vorder- und Hinterrad zwar wie Bremsen aussahen, sich aber nicht zwangsläufig so benahmen. Die letzten Jahrgänge der Ur-Vespa zeigten in Sachen Bremswirkung zwar gute Ansätze, doch in Anbetracht der hervorragenden ET 4-Stopper ist alles tiefste Bremsen-Steinzeit. Vorne verzögert gut dosierbar und ziemlich wirksam eine im Durchmesser 200 Millimeter messende Scheibenbremse, im Hinterrad wandelt eine 100 Millimeter-Trommel die Bewegungs- in Wärmeenergie um.
Die Angelegenheit mit der Kippeligkeit ist übrigens auch ausgestanden. Die ET 4 bleibt selbst in kritischen Situationen sicher auf Kurs und stets gut berechenbar. Damit n icht genug: auch die Federung verdient nur Lob. Sie bügelt alles, was unter die Räder kommt, komfortabel und ohne Schaukelei weg. Wenn überhaupt, läßt sie sich nur im verschärften Soziusbetrieb zu einer durchschlagenden Härte hinreißen. Die bittere Wahrheit für Vespa-Puristen lautet, daß mit der ET 4 auch Schisser, Weicheier und Warmduscher zurechtkommen. Doch nicht genug damit, daß in Zukunft jede Schlappwurst Vespa fahren kann – nein, die Italiener haben auch noch die letzten liebgewordenen Ausstattungs-Macken ausgemerzt. Ein Riesen-Staufach unter der Sitzbank- wo gibt’s denn sowas? Bei der ET 4. Eine Top-Verarbeitung, funktionierende Schlösser, hervorragendes Licht – nur etwas für Japaner? Nein, hat die ET 4 auch alles. Na gut, die ET 4 ist halt keine echte Vespa, weil sie nicht aus Blech ist. Ist sie doch. Jawoll, die Karosserie ist selbsttragend und wie in alten Zeiten aus Tiefziehblechen gefertigt.
Daß die Italiener offensichtlich sehr viel Spaß beim ET 4-konstruieren hatten, merkt man an vielen liebevoll gemachten Details: den bildschönen und kompletten Instrumenten, den schnörkeligen Vespa-Schriftzügen, dem serienmäßigen Gepäckträger und dem ausklappbaren Gepäckhaken. Das Helmfach unter der langen und eher weich gepolsterten Sitzbank läßt sich mit einem Handgriff herausnehmen, und schon liegen Motor und Vergaser völlig frei. Wartungsfreundlich ist die ET 4 also auch noch.
Glücklicherweise bleiben aber noch einige wenige Kleinigkeiten zum Meckern übrig. So ist der Stutzen des 8,5 Liter-Tanks zu eng, was das Spritfassen unnötig in die Länge zieht. Unter vier Liter Verbrauch geht in Ordnung, nur warum muß es das teure Superbenzin sein?
Die Spiegelausleger sind wie bei fast allen Piaggio- und Vespa-Modellen zu kurz – auch eine Form von Tradition. Sportfahrer werden sich über die zu langen Hauptständer-Ausleger mokieren. Die ET 4 hat auf jeder Seite einen – das rechte Exemplar setzt besonders gern früh und hart auf. Vorder- und Hinterrad messen im Durchmesser zwar immer noch zehn Zoll, können aber wegen ihrer unterschiedlichen Reifenbreite (100/80-10 vorn, 120/70-10 hinten) nicht mehr untereinander getauscht werden.
Was unterm Strich bleibt, ist, daß es für 5.495 Mark eine gute Verarbeitung, eine komplette Ausstattung, einen kräftigen und kultivierten Motor und vor allem ein sichereres Fahrverhalten und wirksame Bremsen gibt. Um es kurz zu machen: die ET 4 ist die beste Vespa, die es je gab.