aus bma 10/01 von Konstantin Winkler
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln in den wohlverdienten Urlaub? Unvorstellbar für mich! Jedenfalls was Europa, Asien oder Afrika betrifft. Da kann ich auch auf Achse selber hinfahren. Aber um sich den Traum eines jeden Bikers zu erfüllen, musste auch ich mein Schicksal in fremde Hände legen. Die Todesängste, die ich ausstand, half die freundliche Lufthansa-Stewardess mit Unmengen Campari-O-Saft zu ertränken. Nach 16 1/2 Stunden war es endlich soweit, der Jumbo landete in der Sieben-Millionen-Metropole Los Angeles.
LA – wie die Stadt kurz und knapp genannt wird – ist ein unüberschaubarer Moloch. Die riesigen Entfernungen – hundert Kilometer von Ost nach West und dieselbe Distanz noch mal von Nord nach Süd – überwindet ein großartiges System von Autobahnen. Ein Netz von eintausend (!) teilweise zehnspurigen (!) Freeway-Kilometern zieht sich über das ganze Stadtgebiet. Und die Interstate-Kreuze sehen aus wie eine riesige Portion „Beton-Spaghetti”. Trotzdem gibt es in der Hauptverkehrszeit ständig Stop-and-Go. Und entsprechend verräucherte Luft.
Ganz im Gegensatz stehen hierzu die wenigen Sehenswürdigkeiten der Stadt, wie z.B. der Walk of Fame, wo in rosafarbenen Marmorsternen die Namen der Großen des Showbusiness eingelassen sind. Sogar Micky Mouse hat ihren eigenen. Einen ganzen Tag kann man sich der berühmten Maus widmen, wenn man Walt Disneys Magic Kingdom besucht. Hier kommen Groß und Klein auf ihre Kosten. Zwar etwas windschief, aber ebenfalls weltberühmt, die neun weißen, überdimensionalen Buchstaben auf den östlichen Hügeln der Santa Monica Mountains: Hollywood.
Nach der Nacht im Airport-Hotel und einem reichhaltigen amerikanischen Frühstück (jetzt weiß ich, warum es dort so viele dicke Menschen gibt) folgte der Transfer zur Vermietstation. Harley-Fahren entfiel aus Kostengründen, deshalb mussten wir mit einer in Deutschland nicht erhältlichen Yamaha XJ 750 Maxim vorlieb nehmen – für knapp 100 Dollar pro Tag, teuer genug. Reihenvierzylinder statt Vau-Zwo und Kardan statt Zahnriemen hieß es nun für die nächsten zwei Wochen. Immerhin versprachen eine hohe Scheibe, ein hoher Lenker und eine ellenlange Sissy-Bar etwas Easy-Rider-Feeling.
Nun standen wir da, den Zündschlüssel in der Hand, über 10.000 Kilometer von zu Hause entfernt, unvorbereitet in einem fremden, riesigen Land. Neben Landkarten, einer Handvoll Dollars und Traveller-Schecks hatten wir auch die Adresse von entfernten Verwandten in der Tasche. Dort sollte es nun erst einmal hingehen; die beste und billigste Art, Land und Leute kennenzulernen.
Doch erst einmal raus aus LA! Bald war die Küste des Pazifischen Ozeans erreicht und wir befuhren den „Pacific Coast Highway” Richtung Norden. Vornehme Badeorte wie Malibu und Santa Monica liegen auf der Route. Und Santa Barbara. Ein Schmuckstück ist der Yachthafen. Stolz nennt sich das malerische Städtchen „Riviera am Pazifik”. Bald wurde uns bewusst, dass eine Meile nicht ein Kilometer ist und dass in Amerika andere Entfernungen zu überwinden sind als in Europa. So wurde die erste Tagesetappe auch gleich eine Mammut-Tour: 356 Meilen in acht Stunden. Erst als es dunkel wurde, konnten wir auf einer kleinen Farm bei der Verwandschaft Quartier beziehen.
Die nächsten beiden Tage tauschten wir die Yamaha dann gegen einen klimatisierten Greyhound-Bus. Eine Reisegruppe aus Deutschland war zu Besuch, und wir nutzten die Gelegenheit, uns einzuklinken und so Dinge zu erleben, die uns sonst verwehrt geblieben wären. Zum einen ein Empfang und Buffet im Holyday Inn, zum anderen ein Besuch bei einem der reichsten Farmer. Rindviecher, soweit das Auge reicht – etwa 60.000 Stück – bis zum Horizont. Sogar einen eigenen Flughafen fanden wir hier.
Nach diesem unvorhergesehem „Pauschaltourismus” ging es wieder auf eigenen Rädern weiter. Das erste Highlight erreichten wir bereits nach 60 Meilen: den Sequoia Nationalpark mit seinen Mammut-Bäumen. Der größte, der „General Sherman”, ist 3500 Jahre alt und 83 Meter hoch! Wie winzig doch Mensch und Maschine daneben wirken!
Weiter ging es Richtung Küste. Genauso legendär wie die „Route 66” ist die Küstenstraße „Highway No. 1”. Auf der einen Seite sieht man den Pazifik bis zum Horizont, auf der anderen das Kalifornische Küstengebirge. Der wildromantische Küstenstreifen bei Monterey ist der schönste. Steile Felsklippen mit einsamen Bäumen obendrauf stehen in der Brandung. Wir fahren vorbei an malerischen Küstenorten wie Santa Cruz oder Half Moon Bay.
Langsam wurde es dunkel – die Tagesetappe war schon wieder viel zu lang – und kein freies Motel in Sicht. So blieb uns nichts anderes übrig, als nach San Francisco zu fahren. Doch auch hier war alles belegt. Retter in der Not war schließlich ein hilfsbereiter Motorradpolizist mit einer Figur wie Arnold Schwarzenegger und einem furchteinflößenden Revolver an der Seite. Er lotste uns zu einem kleinen, schmierigen Hotel in der Downtown. Eine unruhige Nacht folgte. Zum einen fuhr etwa alle fünf Minuten ein Fahrzeug mit Blaulicht und Sirene vorbei, und zum anderen fragte ich mich, ob die fünf Dollar Trinkgeld ausreichend gewesen waren, damit der Portier ein wachsames Auge auf die Yamaha wirft.
Am nächsten Morgen war das Motorrad tatsächlich noch da… Die Sightseeing-Tour konnte beginnen. Die ehemalige Gefangeneninsel Alcatraz war noch nicht zu sehen. Dicke Nebelschwaden waberten über Boden und Wasser und versperrten die Sicht auf die Bucht. – Nein, wir waren nicht in London an der Themse. – Ein atemberaubendes Bild war es, wenn die Morgensonne dann und wann etwas rot aufblitzen ließ und die gewaltigen Pfeiler der berühmtesten Brücke der Welt, der Golden Gate Bridge, wie sie in den seidenblauen Himmel ragten. Die Fahrt über die Brücke ist stadtauswärts kostenlos, stadteinwärts sind zwei Dollar fällig.
Fast noch aufregender ist die Fahrt über die Bay Brigdge, die bei einem der letzten schweren Erdbeben eingestürzt war. Die von Frisco nach Oakland führende Brücke ist 13,2 Kilometer lang und doppelstöckig – mit jeweils fünf Fahrspuren. Ein weiteres „Muss” für Frisco-Touris ist eine gemütliche Fahrt mit der historischen Cable-Car über die Hügel der Stadt. Und ein Besuch in Chinatown. In keiner anderen Stadt außerhalb Asiens leben mehr Chinesen als hier – nämlich 70.000.
Dass amerikanische Millionen-Metropolen auch Hochburgen der Kriminalität sind, wurde beim Tanken deutlich. Das Kassiererhäuschen war vergittert wie Fort Knox, bezahlt wurde vor dem Tanken.
Über Oakland ging es auf dem Interstate Highway 5 weiter. 250 Kilometer westlich von San Francisco liegt eine Naturkulisse, wie sie selbst Hollywood schöner nicht hätte erfinden können: Die Bilderbuchlandschaft des Yosemite National Parks. Die schönste und atemberaubendste Aussicht bietet sich vom eintausend Meter hoch gelegenen Glacier Point – ein gewaltiger, zuckerhutförmige Granitblock des Half Dome; um uns herum tosende Wasserfälle, stille Seen und Wälder mit uralten Bäumen.
Traumland Kalifornien. Hier – zwischen Küste und Wüste – vergisst man den grauen Alltag. Das Land, aus dem die Kinoträume kommen, ist selbst ein Traum und aufregend zugleich.
Wenig aufregend – jedenfalls akustisch – ist der Vierzylinder der XJ 750 Maxim. Wir befahren den Highway No. 5 bis Buttonwillow kurz vor Bakersfield. Diesmal waren es nur 312 Meilen in neun Stunden. Zum Glück ist die Sitzbank der Yamaha gut gepolstert und der Lenker griffgünstig geformt und platziert.
Am nächsten Tag folgt die heißeste Tagesetappe. Über den 1216 m hohen Tehachapi-Pass führte uns der Weg hinab in die Wüste: Mojave Desert. An der Staatsgrenze Kalifornien/Arizona zeigte das Thermometer stolze 100 Grad im Schatten – Fahrenheit wohlgemerkt, das entspricht 40 Grad Celsius. Doch außer Tankstellen gab es nichts Schattenspendendes.
Wir rollten weiter gen Osten. Arizona – das klingt nach Cowboys, Indianern und Revolverhelden. Vor hundert Jahren tobte sich hier noch der „Wilde Westen” aus. Fast schon obligatorisch ist ein Abstecher über die alte, legendäre „Route 66”, die zwischen Seligman und Kingman noch im Urzustand erhalten ist. Völlig erschöpft bezogen wir in Kingman Quartier im „Motel 6”. Diese Motelkette verspricht in ganz Amerika preiswertes Übernachten zu Preisen zwischen 20 und 50 Dollar pro Nacht, dafür erhält man ein geräumiges Zimmer mit Dusche/WC, Aircondition und Fernseher. Welch eine Wohltat, nach knapp 400 Meilen mit einem gut gekühlten Budweiser am Swimmingpool zu liegen!
Früh ging es am nächsten Morgen weiter. Zwei Naturereignisse ersten Ranges standen auf dem Programm. Zum einen eine 450 Kilometer lange, durchschnittlich 16 Kilometer breite und bis zu 1600 Meter tiefe Schlucht, die der Colorado-River ins Colorado-Plateau gefräst hat: der Grand Canyon! Die Fahrt dorthin ist weniger atemberaubend. Schneisen durch Nadelgehölz und Passagen wie in der Lüneburger Heide. Und plötzlich taucht sie wie aus dem Nichts auf: die größte Schlucht der Welt. Sprachlos und tief beeindruckt stehen wir am Rand des Abgrunds.
160 Meilen weiter wird man unwillkürlich an die Zigarettenwerbung erinnert: „Marlboro-Country”! Auch wer noch nie hier war, hat es schon oft gesehen. Das Monument Valley ist eine grandiose Kulisse zahlreicher Wildwestfilme. Man erwartet fast, dass John Wayne in einer riesigen Staubwolke um die Ecke geritten kommt. Einzelne Felsen aus rotem Sandstein – jeder eigenwillig geformt und riesengroß – stehen in einem flachen Tal. Dass man sich kurz zuvor auf 2000 Metern Höhe befand, ist kaum zu glauben. Der Marsh-Pass kurz vor Kayenta ist exakt 2057 Meter hoch.
Neben den bizarren Formen faszinieren auch die Farben: morgens und abends strahlen die Felsen von hellem Kaminrot bis zum dunklen Violett. Für die Navajo-Indianer ist dieses Tal mit seinen gewaltigen Tafelbergen und bizarren Felsnadeln heiliges Land; eine staubige, nicht asphaltierte Panoramastraße führt hindurch. Und hier wurden wir nun mit einer extremen Diskrepanz zwischen Arm und Reich konfrontiert. Auf der einen Seite die bettelarmen Navajo-Indianer, die ihren Schmuck verkaufen, und auf der anderen Seite luxuriöseste Hotels.
Am nächsten Morgen eine böse Überrraschung: der Anlasser gab nur noch ein müdes klack-klack-klack von sich; die Batterie war leer. Hinzu kam, dass die Yamaha keinen separaten Lichtschalter hatte – mit dem Einschalten der Zündung ging also auch das Abblendlicht an. Also Bordwerkzeug ausgepackt und Glühbirnen ausgebaut. Ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte.
Nun hieß es, Motorrad anschieben und los. Am Lake Powell vorbei gelangten wir in den Bundesstaat Utah. Der riesige Stausee ist 300 Kilometer lang und so verzweigt, dass seine Uferlinie 3000 Kilometer misst. Nicht nur steil aufragende Felswände, über die Wasserfälle in die Tiefe stürzen, sondern auch viele fjordartige Buchten umgeben den See. Eine gewaltige Staumauer, über 200 Meter hoch, erhebt sich zwischen den roten Felsen des Colorado-Tals.
100 Meilen weiter westlich das nächste Naturereignis: der Zion National Park. Er bietet eindrucksvolle Felslandschaften in fast allen Farben des Regenbogens – tiefe Canyons, wilde Schluchten mit senkrechten Felswänden, hohe Zinnen, ein Felsenmeer sowie einen etwas längeren, schlecht beleuchteten Tunnel. Erst als ich schon drin war, fiel mir ein, dass sich die H4-Birne im Tankrucksack und nicht in der Lampenfassung des Scheinwerfers befand!
Am nächsten Tag stand der vierte und letzte Bundesstaat unserer Rundreise auf dem Programm: Nevada. Natürlich erst, nachdem wir unseren neuen Frühsport absolviert hatten: Motorrad anschieben. Durch das Valley of Fire mit seinen roten Felsformationen – auch hier wieder die perfekte Westernkulisse – ging es in eine der glitzerndsten Städte der USA. Was wie eine Fata Morgana in der Wüste aussieht, ist Las Vegas. Ein Hotel ist gigantischer als das andere. Das bekannteste ist das „Luxor”. Eine riesige Sphinx bewacht die Glaspyramide, die fast so groß ist wie das Ebenbild in Ägypten. Auch die französische Hauptstadt scheint sich in der Wüste zu befinden. 165 Meter hoch (und damit halb so hoch wie das Original) ist der „Eiffelturm” des neuen Superhotels „Paris las Vegas”.
Aber es geht noch gigantischer: „The Venetian” ist eine drei Milliarden Mark teure Kopie Venedigs mit Gondeln, Dogenpalast, Rialtobrücke und der 96 m hohen Nachbildung des Campanile von San Marco. Über 3000 Zimmer und ein Spielcasino mit Marmorboden warten auf zahlungskräftige Kunden. Die Kanäle stinken hier nicht und die Tauben kacken nicht alles voll. Venedig hat Konkurrenz bekommen! Während das Original langsam in der Adria abzusaufen droht, steht der Nachbau aus erdbebensicherem Stahlbeton in Nevadas Wüste. Ein Vergleich mit Pamela Anderson sei erlaubt: Man weiß, dass alles falsch ist, aber man schaut trotzdem gerne hin.
In Las Vegas brandet die Flut des Neonlichtes durchs offene Visier. Über den Las Vegas Boulevard, genannt „The Strip”, wälzen sich Tag und Nacht die Autos und Motorräder der Vergnügungssüchtigen. Den Verlockungen der „Einarmigen Banditen” konnten wir jedoch problemlos widerstehen. Und in Anbetracht der Menschenmassen (vom Gammler bis zum feinen Herrn im Frack war so ziemlich alles vertreten) suchten wir schon bald wieder das Weite.
Wieder in Kalifornien war es unerträglich heiß. Die Ausläufer des Death Valley ließen das Quecksilber auf rund 40 Grad Celsius klettern. Einen Abstecher in das 225 Kilometer lange und 16 Kilmeter breite „Tal des Todes” wollten wir uns und dem luftgekühlten Vierzylinder dann doch nicht zumuten, herrschen doch dort – am tiefsten Punkt Kaliforniens – Temperaturen von bis zu 55 Grad im Schatten.
60 Meilen weiter südlich machten wir dann noch einen Ausflug ins vorige Jahrhundert: Ghost Town Calico. Die Geisterstadt wurde originalgetreu restauriert, einschließlich der alten Silbermine.
Der Urlaub neigte sich langsam dem Ende zu, ebenso die Ladekapazität der Batterie. Mittlerweile half selbst der Frühsport nicht mehr, so dass wir uns ein Starthilfekabel ausleihen mussten, um – wieder zurück in Los Angeles – die letzten Tagestouren nach Beverley Hills und zu den Universal Studios zu unternehmen.
Am Ende standen 2855 Meilen (also über 4500 Kilometer) mehr auf dem Tacho der Yamaha. Das Fahren mit der XJ hat jede Menge Spaß gemacht und sie hat ohne Probleme durchgehalten – bis auf die Batterie eben. Wie anfangs schon erwähnt, ist dieses Modell auf dem europäischen Kontinent nicht erhältlich. Die XJ 750 Maxim sucht ihre Kunden nur in Amerika und findet sie nicht nur unter den kanadischen Waldarbeitern, sondern auch zwischen Country Club und Boulevard. Sie ist ein Allround-Talent, gefällt als wohlerzogener Stadtindianer, der auch die Wildnis nicht scheut.
Das war nun meine erste Urlaubstour ohne Regenkombi. Der Rückflug schließlich verlief ähnlich wie der Hinflug. Die Stewardessen waren wieder sehr kooperativ, das heißt, die Flugangst war umgekehrt proportional zum Alkoholgehalt meines Blutes.
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