aus bma 04/06

von Frank Sachau

Blick auf den Steingletscher an der Sustenstraße Der Schweizer Rundfunk meldet ein stabiles Hoch mit Tagestemperaturen bis zu 35 Grad. Beim Gedanken an Hitzeflimmern über dem schmelzenden Asphalt der Luzerner Innenstadt geben wir unser Vorhaben, den Vierwaldstätter See zu umrunden, sofort auf. Da kommt der Tip unserer Wirtsleute, die Fähre Beckenried – Gersau zu nutzen, gerade recht. Im Bergdorf Wassen folgen wir der Beschilderung „Sustenpaß”. Auf unserer Route nach Westen streben wir auf der Sustenstraße durch das dünn besiedelte, wildromantische Meiental bergwärts. Die alte Handelsstraße, denn das Wort „Sust” bedeutet Lager oder Warenhaus, verbindet die Kantone Uri und Bern. Dabei genießen wir den hochalpinen Nervenkitzel der 2224 Meter hohen Scheitelhöhe mit ihren unvergeßlichen Ausblicken auf Steingletscher und Steinsee, und surfen durchs Gadmental hinunter nach Innertkirchen. Am nahen Grimselpaß versorgen die Eisfelder des Unter- und Oberaargletscher die Aare mit reichlich Schmelzwasser. In Tausenden von Jahren fräste sich diese flüssige Steinsäge durch die beklemmende Aareschlucht.
In Meiringen, dem Dorf des Detektivs, stoppen wir unsere Motoren. Sir Arthur Conan Doyle, geistiger Schöpfer des Meisterschnüfflers Sherlock Holmes, ließ seinen Helden im stetigen Kampf gegen das Böse am benachbarten Reichenbachfall sterben. Seitdem lebt die Legende im Ort weiter: Eine beeindruckende Statue, eine Bronzetafel, ein Pub und sogar ein Museum sind Holmes gewidmet. Nach einem Rundgang legen wir die Detektivmützen und Lupen beiseite und steigen wieder auf die Maschinen.

Kaum liegt das Ortsende Meiringens hinter unseren Rücklichtern, tauchen wir in einen dunklen Mischwald ein. Hier geht die Zufahrt zum Brünigpaß mit satten 18% Steigung an den Start. Leider geizt der Sattel zwischen Brienzer und Sarner See mit Ausblicken, doch am Lungernsee angekommen, erhebt sich die im Süden gelegene Schwarzhornkette über den bewaldeten Bergen und schindet mächtig Eindruck. In Giswil forschen wir nach dem Abzweig zum wenig bekannten Glaubenbüelenpaß unterhalb des Brienzer Rothorns. Gesucht – Gefunden! Knapp eineinhalbspurig schmiegt sich eine Panoramastraße an die sanften Hänge einer scheinbar heilen Welt. An Bauernhöfen und wiederkäuenden Rindviechern vorbei tasten wir uns zur Paßhöhe empor. Unter uns die glitzernde Wasserfläche des Sarner Sees, über uns der stahlblaue Himmel der Schweizer Alpen. Keine Paßhütte, kein Kitsch – Natur pur. Auf menschenleeren Wegen zirkeln wir hinab ins Mariental, stoßen bei Schüpfheim auf die Kantonsstraße 10, folgen ihr bis Entlebuch, um dann in Finsterwald im finsteren Wald wieder in der Einsamkeit der Nebenstrecke zu verschwinden.

Am Lungernsee Die rustikale Hütte am verschlafenen Glaubenbergpaß ist willkommener Anlaß zu einem Paßhöhen-Cappuccino. Ganz in der Nähe von Stans ragt der Bürgenstock senkrecht aus dem Vierwaldstätter See empor, der Blick muß atemberaubend sein. Sechs Kilometer geht’s steil bergan, bis eine Schranke unseren Vorwärtsdrang in rund fünfhundert Meter Höhe stoppt. Von hier aus führt nur noch eine Privatstraße weiter, die Besserverdienenden vorbehalten ist und angeblich inmitten feudaler Villen enden soll. Nun wissen wir, warum der Bürgenstock im Volksmund „Zauberberg der Millionäre” genannt wird. Zurück in Stans, folgen wir der Süduferstraße bis zum Fähranleger in Beckenried. Ein Blick auf den Fahrplan, wir haben Glück, wenige Augenblicke später rollen wir auf das breite Deck der „Tellsprung”, die uns für elf Franken in nur fünfzehn Minuten hinüber nach Gersau bringt. Die seit dem Mittelalter wichtige Hafenstadt Brunnen ist unser nächstes Ziel. Das steile Ostufer des angrenzenden, fjordartigen Urner Sees verhinderte den Warentransport auf der Straße und förderte den Schiffsverkehr auf dem Handelsweg über den Gotthardpaß. Kostenlose Motorrad-Parkplätze und zahlreiche Cafés laden zur Rast an der bildschönen Uferpromenade ein. Genau gegenüber, auf einer Felsnase über dem See, soll sich die Wiege der Schweiz befunden haben. Auf einer Wiese trafen sich 1291 die Führer der Waldstätten Schwyz, Uri und Unterwalden, und schworen, gemeinsam gegen die Herrschaft der Habsburger zu kämpfen – die Geburtsstunde der Eidgenossenschaft.
Hektische Betriebsamkeit auf dem Schiffsanleger macht uns auf das Eintreffen der „Schiller” aufmerksam. Majestätisch rauscht der schneeweiße Schaufelraddampfer über die spiegelglatte Wasseroberfläche heran. Ich brauche meine Mitreisenden nicht lange zu überreden, schnell werden die Tankrucksäcke abgenommen und die Bikes abgeschlossen. Ein Spurt zum Kartenverkauf, nach kurzer Information buchen wir eine Rundfahrt zwischen Weggis auf dem Vierwaldstätter und Flüelen auf dem Urner See. Kaum haben wir das Schiff betreten, klingelt der Maschinentelegraf und schon legen wir ab. Der guten Aussicht wegen haben wir 1. Klasse auf dem Oberdeck gebucht, dafür klafft jetzt in unserer Reisekasse ein Riesenloch. Egal, das einmalige Erlebnis, die Urschweiz vom Wasser aus zu betrachten, entschädigt für die an Piraterie erinnernden Fahrpreise. Die um 1900 gebauten und liebevoll gepflegten Raddampfer bilden die weiße Flotte. Begegnen sich „Schiller”, „Luzern”, „Uri”, „Unterwalden” oder „Gallia” auf dem See, wird ein ohrenbetäubendes Konzert der Schiffshörner entfacht. Nach unserer mehrstündigen Kreuzfahrt steigen wir wieder auf unsere Zweiräder und reisen ins benachbarte Schwyz.

Kostenlose Töff-Stellplätze an Brunnens Hafenpromenade Uns haben die unbekannten Pässe so gut gefallen, daß wir uns spontan für eine große Kelle Nachschlag entscheiden. Im Muotathal lullt uns die idyllische Mittelgebirgslandschaft ein, bis uns ein Schilderwald von den Sitzen reißt: Pragelpaß – Sperrung an Wochenenden und Feiertagen, 18% Steigung und das Verbot für Wohnanhänger. Eine Mischung, die uns das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt. Der schmale Fahrweg mäandert schier unendlich durch den dunklen Wald, mannsgroße, mit Flechten und Moosen überzogene Felsbrocken stehen bedrohlich nahe am Straßenrand. Die Bäume lichten sich, wir erreichen die verträumte Paßhöhe (1550m). Auf der anderen Seite, unten im Klöntal, liegt der gleichnamige See. Fünf Kilometer lang genießen wir die Bergkulisse des Glärnisch und sein Spiegelbild auf der türkisfarbenen Wasseroberfläche. Dann nimmt uns dichter Laubwald gefangen und spuckt uns in Glarus wieder aus. Und schon befinden wir uns auf der Ost-Westverbindung zwischen Walen- und Vierwaldstätter See. Gleich hinter Linthal geht es dann zur Sache, ein neuer Anstieg beginnt. Einige Kehren sind mit Kopfsteinen gepflastert und fordern unsere volle Aufmerksamkeit. Wir wechseln von einer Schräglage in die nächste, bis wir den Urner Boden, ein lang gestrecktes Hochtal, erreichen. Von zerklüfteten Bergriesen gesäumt, geht es minutenlang stur geradeaus. Doch Vorsicht – frei laufende Rindviecher queren spontan die Straße und verteilen gelegentlich ihren übel riechenden Naturdünger auf der Ideallinie!
Nach einem weiteren steilen Aufschwung halten wir vor dem kleinen Kiosk am Klausenpaß (1948m), der an vielen Tagen ein gut besuchter Töfftreff ist. Kein Wunder, denn die knackigen Kurven und Kehren hierher werden meisterlich mit prachtvollen Alpenpanoramen gewürzt. Jetzt einen heißen Schümli, die eidgenös-sische Kaffeespezialität, Arme und Beine ausschütteln und bergab ins Schächental.
„Durch diese hohle Gasse muß er kommen, es führt kein anderer Weg nach Küssnacht!” Welcher Motorradfahrer kennt sie nicht, diese berühmten Worte Wilhelm Tells, als er dem tyrannischen Landvogt Geßler auflauert. Tell sinnt auf Rache, Geßler hatte ihn gezwungen, mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf des eigenen Kindes zu schießen. Bürglen, ein kleiner Ort am Südende des Urner Sees, ehrt seinen berühmten Sohn in jeder nur möglichen Form, vom kleinen Aufkleber bis zum mannsgroßen Denkmal. Doch damit noch nicht genug. In Altdorf wartet im romantischen Ortskern ein noch größeres Standbild, und am Urner See ist die Tellskapelle zu besichtigen, allerdings nur auf Schusters Rappen.
Spät ist es geworden, die Sonne wird bald hinter den Alpengipfeln versinken – Zeit, das anfangs breite Tal der Reuss Richtung Gotthard unter die Räder zu nehmen. Ab Silenen, eingezwängt von den Urner und Glarner Alpen, beginnt der Tanz um die mächtigen Pfeiler der über uns aufragenden Autobahn. Am Wassener Dorfbrunnen angekommen, schließt sich der Kreis um die Wiege der Schweiz. Wilhelm Tell, sollte er jemals gelebt haben, wußte schon, wo es schön ist – in der Eidgenossenschaft am Vierwaldstätter See.

Literatur & Karten:
Baedecker Reiseführer „Schweiz”, 10. Auflage 2002. 690 Seiten, 285 Bilder, 73 Karten. Ideales Format für den Tankrucksack, inklusive Straßenkarte 1:303.000. ISBN 3-87504-521-1, Euro 25,95.

„Lust auf Pässe” – Die 100 schönsten Pässe der Alpen. 200 Seiten, viele Farbfotos, Karten und Übernachtungstips. Highlights-Verlag, Harasim/Schempp. ISBN 3-933385-14-8, Euro 16,-.

Motorrad Powerkarten „Alpen und Gardasee”, Good Vibrations Verlag, acht laminierte Blätter einschließlich Tourerguide im Schuber, neuer Maßstab 1:250.000, nahezu unkaputtbar, Euro 19,90, ISBN 3-937418-23-7. Die Karten sind im Buchhandel, im Motorradzubehörhandel oder unter www.tourershop.de erhältlich.

Auskunft & Informationen:
Schweiz Tourismus, Postfach 16 07 54, 60070 Frankfurt/M., Fon 00800 100 200 30 gratis, Fax 00800 100 200 31 gratis.

Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstätter Sees, Postfach 4265, CH-6002 Luzern. Fon 0041 41 3676868. Internet: www.lakelucerne.ch