aus bma 04/02
von Klaus Herder
Vor neun Jahren ließen die Engländer die Katze aus dem Sack: Triumph präsentierte die erste Tiger. Mikuni-Vergaser befeuchteten die Kehle des aus der Trident stammenden Dreizylinder-Motors. Der Saufbold leistete 85 PS und war damit 1993 die stärkste Serien-Enduro der Welt. Und das mit 885 Kubik, garantiert katfrei und mit ziemlich derben Lebensäußerungen. Sollten die Klapphelmträger doch weiterhin BMW-GS fahren und die Latzhosen-Heinis auf irgendwelchen Japo-Einzylindern zur Uni prügeln. Die Triumph Tiger war etwas ganz Spezielles: laut, ungehobelt, kernig, direkt und alles andere als perfekt – eben ein Motorrad mit Charakter.
Ab 1999 ging es dann aber auch bei den Briten politisch korrekt zu: Einspritzanlage, geregelter Katalysator, zwei PS weniger, glattgelutschte Verkleidung und harmloser Schmuse-Sound. Dazu gab’s ein überarbeitetes Fahrwerk und viel mehr Handlichkeit. Unterm Strich war die Zweitauflage zwar die bessere, aber auch etwas langweiligere Tiger. Zwei Jahre später, im Jahre 2001, sah die Großenduro-Welt völlig anders aus als 1993. Aprilia Caponord, BMW R 1150 GS, Cagiva Navigator und Honda Varadero – der Trend ging zu immer mehr Hubraum und immer mehr Leistung. Die brave Triumph Tiger kam ins Hintertreffen, war zu artig und unscheinbar.
Um die Fuhre wieder ins rechte Rampenlicht zu rücken, griff das Empire zu bewährten Hausmitteln: mehr Hubraum und mehr Leistung. Die dritte Tiger-Generation hat nun dank drei Millimetern mehr Bohrung 956 Kubik und leistet 98 PS (ohne Kat 105 PS). Die 81 Nm maximales Drehmoment der alten Tiger waren schon nicht schlecht, die 95 Nm bei noch geringerer Drehzahl (6200 statt 6400 U/min) sind viel, viel besser. Tschüss R 1150 GS! Auf Wiedersehen Varadero! Die Tiger 955i geht ab wie Triumphs Katze. Bereits aus Standgasdrehzahl powert der Motor vibrationsarm, druckvoll und mit der Gleichmäßigkeit einer Turbine konstant bis zum roten Bereich. Besonders in Sachen Durchzug sieht die Konkurrenz keine Schnitte. Das Ende der Fahnenstange ist erst bei 205 km/h erreicht. Die Leistungsabgabe ist tadellos, Lastwechselreaktionen sind noch nicht mal ansatzweise zu spüren, und die Fahrleistungen sind hervorragend. Trotzdem kann sich bei Kennern der ersten Tiger etwas Enttäuschung breitmachen, denn vom Triple-Kick vergangener Tage ist nur noch wenig zu spüren. Alles funktioniert jetzt noch glatter, noch softer als beim ohnehin schon weichgespülten Vorgängermodell. Für den Triumph-Zug sind zwar immer noch drei in Reihe angeordnete Zylinder verantwortlich, nur spüren tut man es nicht mehr. Der 955i-Motor könnte auch als sehr gut gemachter Vierzylinder durchgehen.
Ein Grund, warum dem neuen Motor der etwas böse Charakter des Ur-Dreiers abgeht, ist ganz sicher, dass er mechanisch sehr leise läuft. Alles, was Radau verursachen konnte, flog raus. So wanderte die Lichtmaschine von der oberen Motorengehäusehälfte direkt auf den linken Kurbelwellenstumpf, und die Ölpumpe wird nun von einer Kette und nicht mehr von Zahnrädern angetrieben. Motorengehäuse, -deckel und Ölwanne werden nun noch exakter gefertigt, fiese Resonanz-Dröhnerei hat damit keine Chance mehr. Doch bevor jetzt alle Freunde der etwas kernigeren Fortbewegung in Tränen ausbrechen, sei eins ausdrücklich klargestellt: Der neue Motor klingt und läuft zwar ruhiger als der alte, das Leistungs-Plus ist aber trotzdem immer und überall sehr deutlich zu spüren.
Das Sechsganggetriebe wurde übrigens auch kräftig modellgepflegt. Die Triumph-Techniker sind sehr stolz auf einen überarbeiteten Klauenmechanismus, der das Schalten leichter und präziser machen soll. Sehr viel zu spüren ist davon allerdings nicht. Das Rühren im Getriebe ist immer noch eine eher hölzerne Angelegenheit. Wer nicht beherzt zutritt, landet zwischen den Gängen. Der sehr lang übersetzte erste Gang ist nichts für trialmäßige Gangart im Gelände, dafür überzeugt der ebenfalls ellenlange sechste Gang als Overdrive auf der Autobahn. Ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht die Tiger 955i bereits im fünften Gang. Der Einsatzbereich des mit 24 Litern Superbenzin vollgetankt immerhin 256 Kilogramm schweren Brockens dürfte damit klar sein.
Beim Fahrwerk sollte die Weichmacherei keine Chance haben: Progressivere Gabelfedern, ein höherer Gabelölstand und eine straffere Abstimmung des Zentralfederbeins – die neue Tiger zielt theoretisch mehr in Richtung Sportlichkeit. Die Auswirkungen der Modellpflege sind allerdings eher bescheiden, die Tiger ist immer noch eine Sänfte. Das ist bei einer eher touristisch orientierten Fahrweise ein Segen, rächt sich aber bei sehr flotter Gangart. Wenn nämlich die hervorragende, mit Stahlflex-Leitungen bestückte Bremsanlage beim scharfen Verzögern kräftig zupackt, taucht die nicht verstellbare Gabel sehr tief ein und geht bei extremer Belastung sogar auf Block. Das mit einer hydraulisch betätigten Federbasis-Fernverstellung bestückte Federbein ist immer noch etwas unterdämpft, was sich auf fiesem Belag durch kräftiges Nachschwingen rächt. Das liest sich fahrwerksmäßig nun wahrlich nicht berauschend, doch zur Ehrenrettung der Tiger sei gesagt: Das alles gilt nur für eine sehr, sehr sportliche Fahrweise. Wer die Triumph richtig, nämlich als Reisedampfer versteht, wird mit der unglaublich komfortablen Abstimmung prima klarkommen und darf sich trotzdem über eine gewaltige Schräglagenfreiheit und die äußerst haftfreudige Metzeler Tourance-Erstbereifung freuen.
Wer der Triumph unters praktisch unveränderte Kunststoffkleid schaut, wird sich ebenfalls freuen. Die Verarbeitung fällt nämlich auch an versteckten Stellen tadellos aus. Die Auspuffanlage besteht komplett aus Edelstahl, und die Sitzhöhe lässt sich im Bereich von 840 bis 860 Millimetern dreifach variieren. Die Plastikverpackung selbst blieb nahezu unverändert, der Windschutz ist befriedigend und mit dem der BMW R 1150 GS vergleichbar. Wirklich nette Details finden sich dafür zuhauf: Ein Exzenter macht das Kettespannen zum Kinderspiel. Der Alu-Motorschutz ist praxisgerecht geformt. Serienmäßige Faltenbälge schützen die Telegabel, und das Cockpit ist komplett und übersichtlich bestückt. Bei starker Sonneneinstrahlung sind die etwas funzeligen Kontrolllampen allerdings nur schwer zu erkennen. In den Spiegeln lässt sich dafür tatsächlich das komplette rückwärtige Geschehen beobachten, und die Warnblinkanlage gehört zum serien- mäßigen Lieferumfang. Einen Hauptständer gibt’s nur gegen Aufpreis. Und dessen Preis ist mit knapp 200 Euro mindestens genauso frech, wie der des Koffersystems (860 Euro). Die Zubehörpreisliste erinnert ohne-hin etwas an BMW: Alarmanlage, Heizgriffe, eine höhere Scheibe etc. – es gibt bei Triumph ab Werk sehr viel Zubehör. Zu sehr gesalzenen Tarifen.
Die Triumph Tiger 955i kostet ohne Extras 10.260 Euro. Das ist klassenübliches Niveau und dafür gibt’s einen starken, recht sparsamen (4,5 bis 6 Liter/100 Kilometer) komfortablen und sehr hochwertig gemachten Langstreckentourer mit gutem Platzangebot. Im Gelände hat die Tiger nichts verloren. Wer im Urlaub längere Strecken auf losem Untergrund zurücklegen möchte, sollte doch lieber zur BMW greifen. Auf kurvigen Landstraßen überzeugt die Tiger dafür mit ordentlicher Handlichkeit, hervorragenden Bremsen und vor allem mit ihrem unglaublich durchzugstarkem Motor.
Vom alten Rauhbein-Charme blieb bei der neuen Tiger zwar wenig, doch dafür dürften mit ihr die Freunde der gepflegten, stressfreien und dabei durchaus zügigen Fortbewegung voll auf ihre Kosten kommen.
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