aus bma 6/12

von Klaus Herder

Triumph Tiger ExplorerDas in Deutschland 2011 bestverkaufte Motorrad heißt BMW R 1200 GS. Von Januar bis Dezember des vergangenen Jahres fand die Fernreisende der Boxer-Familie hierzulande 6120 Käufer. Vom zweitplatzierten Motorrad wurden über 4000 Exemplare weniger (!) verkauft. Dabei handelt es sich übrigens wiederum um eine BMW, die R 1200 R. Alles, was unter den Oberbegriff „Reise-Enduro“ passt und nicht in Berlin Spandau zusammengesteckt wurde, landete unter „ferner liefen“. Dabei müsste es doch eigentlich kein Hexenwerk sein, der omnipräsenten GS das Leben schwer zu machen. Eigentlich. Das Erfolgsrezept ist doch hinlänglich bekannt und lautet „Kardan, Kilo, Komfort, Kraft und Charakter“. Dazu ein üppiges Zubehörangebot, fertig ist die Laube. Sollte man meinen, doch in der Praxis klappte das bislang eher selten. Besser gesagt: eigentlich nie. Der Name der gescheiterten Versuche ist Legion.

Das letzte Beispiel, wie man es vielleicht nicht machen sollte – zumindest dann nicht, wenn man auf größere Stückzahlen aus ist – lieferte Yamaha mit der XT 1200 Z Super Ténéré. Ein grundsolides, komfortables, mit der GS leistungsmäßig auf Augenhöhe liegendes und mit Kardan bestücktes Reisemotorrad, das sich mit allerlei Original-Zubehör sinnvoll aufbrezeln lässt und mit dem sich völlig problemlos ganz viele Kilometer am Stück bewältigen lassen. Die GS-Macher konnten trotzdem – bislang jedenfalls – recht ruhig schlafen.

Triumph Tiger ExplorerEine gewisse Erfahrung damit, sich an der GS die Zähne auszubeißen, bringt auch Triumph mit. Im Unterschied zu manch anderen Anbietern erkannten die Briten dann aber irgendwann einmal, dass mit ihrem ursprünglich als BMW-Gegner aufgestellten Reisehobel in GS-Kreisen kein Blumentopf zu gewinnen ist, verpassten der mit Kette zum Hinterrad bestückten Ur-Tiger ein etwas anderes Image fernab der Fernreise-Ecke und widmeten sich einem komplett neuen Projekt: dem Über-Tiger, der Tiger Explorer.

So um 2007 herum ging’s mit der Entwicklung los, 2010 tobten die ersten Prototypen durchs Königreich und wurden prompt von Erlkönigjägern abgeschossen. Die veröffentlichten Bilder sorgten bei manchem Betrachter für eine gewisse Häme und veranlassten Triumph, in Sachen Design noch einmal Hand anzulegen (lassen). Ein externes Designbüro sorgte dafür, dass das ursprünglich geplante, unglaublich unförmige 24-Liter-Fass durch einen gefälligeren 20-Liter-Tank ersetzt wurde.

Aber auch damit ist die Tiger Explorer beim Erstkontakt eine ziemlich mächtige Erscheinung. Zumindest im vorderen Bereich, der mit Entenschnabel, sehr technisch anmutendem Lampen-Verhau und jeder Menge Kunststoff-Verkleidungen gar keinen Hehl daraus macht, welches Gerät designmäßig als Vorbild diente. Die fette Front steht im harten Kontrast zum eher filigranen Heck, auch das kennen wir von der GS, wobei der Tiger-Hintern sogar noch etwas luftiger wirkt. Zumindest obenrum. Im Ergeschoss zieht linksseitig das gewaltige Kardangehäuse die Blicke auf sich. Die Kardan-Tradition hält sich bei Triumph in überschaubaren Grenzen, und so machten die Briten erst gar keine Anstalten, das (Kegel- & Teller-)Rad neu zu erfinden. Man bediente sich stattdessen bei einem erfahrenen Zulieferer – nein, nicht BMW – und bezieht den wartungsarmen Sekundärantrieb aus Japan. Bei der Tiger Explorer-Präsentation ließen die Triumph-Macher keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass ihr Kardan viel stabiler sei als der Wellenantrieb eines namhaften Mitbewerbers. „Unser Kardan wird nicht brechen!“ Wer wollte, konnte daraus eine ziemlich spitze Spitze in Richtung München herauslesen.

Triumph Tiger Explorer CockpitMit der Betonung der (Über-)Dimensionierung ist dann auch schon ein Teil einer ganz wesentlichen Frage beantwortet, die da lautet: Warum ist die neue Tiger mindestens 25 Kilo schwerer als ihre bayerische Konkurrentin? Okay, der Triumph-Kardan wiegt einfach sehr viel mehr. Doch nicht nur der Wellenheimer ist mächtig wuchtig, auch der ganze Rest wirkt wie für die Ewigkeit gemacht. So ziemlich alles, was die Explorer trägt, hat XL-Format. Im wahrsten Sinne des Wortes erschwerend kommt hinzu, dass ein wassergekühlter Dreizylinder mitsamt Anbauteilen systembedingt ein paar Kilo mehr auf die Waage bringt als ein luftgekühlter Boxer. Doch entscheidend ist bekanntlich auf dem Platz. Und da lässt sich schon mal die Sitzhöhe des im vorderen Bereich angenehm schmal und weiter hinten komfortabel breiten Fahrersitzes mit wenigen Handgriffen von 860 auf 840 mm reduzieren. Wer 179 Euro extra investiert, bekommt im umfangreichen Zubehör­- programm auch noch einen 20 mm höheren oder sogar 30 mm niedrigeren Arbeitsplatz geboten. Beheizter Fahrersitz gefällig? Bitteschön, das macht 319 Euro extra, der warme Hintern der Sozia kostet weitere 279 Euro.

Triumph Tiger ExplorerDoch zurück zum serienmäßigen Zustand: Der ist mit Tempomat, Traktionskontrolle und abschaltbarem ABS auch schon erfreulich üppig. Steckdose im Cockpit, Bordcomputer, Lenker und Windschutzscheibe verstellbar – die Tiger Explorer ist vorbildlich komplett ausgestattet. Und auch der vermeintliche „Kleinkram“ stimmt: Abgewinkelte Reifenventile erleichtern die Fülldruckkontrolle, die gelungene Anlenkung des serienmäßigen Hauptständers macht das Aufbocken zum Kinderspiel, und der üppig dimensionierte Seitenständerfuß verhindert das überraschende Abkippen auf weichem Grund. Der Fahrer sitzt bestens integriert hinterm breiten, gut zur Hand liegenden Lenker, wundert sich anfangs etwas über die breit auseinander sitzenden Fußrasten – der Motor baut untenrum halt schon recht breit – und freut sich über die perfekte Rücksicht bietenden Spiegel. Dass das Triumph-Licht noch etwas heller strahlen dürfte und einige Detaillösungen verarbeitungsmäßig – nun ja – „rustikal“ ausfallen ist leicht zu verschmerzen, denn die wesentlichen Dinge, die das Reisen mit dem Motorrad angenehm machen, hat die Dicke alle drauf.

Druck aufs Knöpfchen, der wohlig-grummelige Triple-Sound kommt einem gut bekannt vor. Dabei ist der Reihendreizylinder eine komplette Neukonstruktion, bei der Triumph neben aller Alltagstauglichkeit auch Wert auf ein paar Superlative legte. 137 PS (bei 9000/min) bietet in dieser Klasse kein anderer Reisepartner, die GS ist zwar leichter, aber auch 27 PS schwächer. Mit maximal 121 Nm bei 6400/min stemmt die Tiger Explorer minimal mehr als die BMW (120 Nm bei 6000/min) und muss sich nur der 129 PS starken Honda Crosstourer geschlagen geben (126 Nm bei 6500/min). Einen Maximalwert, der „normale“ Motorradfahrer herzlich wenig interessieren dürfte, betont Triumph ganz besonders: die Lichtmaschinenleistung, die bei zubehörbehangenen Reise-Enduros durchaus von Interesse sein kann. Der Triumph-Generator liefert fette 950 Watt, die Yamaha Super Ténéré muss mit 600 Watt auskommen, bei BMW sind es 720 Watt. Keine Angst also vor der großzügigen Nutzung von Extras wie Heizgriffen, Nebelscheinwerfern oder Navi­gations­system.

Triumph Tiger Explorer Scheiben-VerstellungMit einer netten Auswahl des Triumph-Originalzubehörs bestückt wiegt die Tiger locker 270 Kilo und mehr. Das merkt man – welch Überraschung – beim Schieben und Rangieren natürlich schon recht deutlich. Der gefühlt sehr hohe Schwerpunkt macht die Sache zumindest anfangs nicht souveräner. Doch sobald die Fuhre über Schrittgeschwindigkeit rollt, ist das Gewichts-Thema weitgehend vergessen. Die Wuchtbrumme zeigt sich beim munteren Kurvenwedeln erfreulich leichtfüßig, lenkt sauber ein, schwenkt neutral ums Eck und bleibt auch dann gutmütig, wenn ihr Pilot mal etwas digitaler an der Kordel zieht. Am Ausgang schneller Kurven drängt der Koloss ein wenig zum Außenrand, in sehr schnellen Wechselkurven ist die Masse durchaus spürbar, aber gut berechenbar bleibt sie jederzeit. Dass die Fußrasten bei verschärfter Gangart eher zu früh als zu spät aufsetzen, hat der Tiger-Treiber dann auch recht schnell kapiert, aber auch das fällt unter „eher gutmütig und berechenbar“.

Triumph Tiger Explorer VollausstattungDer Triumph-Motor ist ein überaus angenehmer Reisepartner, denn er gibt seine üppige Leistung unglaublich linear und nahezu ohne spürbare Vibrationen ab. Seidig und weich, dabei aber sehr direkt und fein dosierbar geht es ab Standgas bis über 9000 Touren. Kein Durchhänger, kein Verschlucken – nichts als purer Dauer-Druck. Das hat nichts mit Langeweile zu tun, denn wenn der Schub kräftig genug ist, hat auch gleichmäßiger Schub seinen Reiz – und den hat er bei der ein wenig wie ein luftgekühlter 911er Porsche fauchenden Tiger ohne Zweifel. Der Drehmomentverlauf des Triples ist vorbildlich, ab 3000/min liegen immer mehr als 100 Nm an. Bei 100 km/h im letzten Gang stehen gerade mal 3800/min auf der Uhr. Die Arbeit im butterweich zu schaltenden Sechsganggetriebe und der leichtgängige Griff zur hydraulisch betätigten Kupplung machen einfach nur Spaß. Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Arbeit am Gasgriff, was mit seiner extremen Leichtgängigkeit zu tun hat. Dank seilzugfreiem Ride-by-Wire werden die Gasgriffbefehle elektronisch übertragen, der Widerstand eines Bowdenzuges fehlt. Das kann zumindest bei Tiger-Neulingen dazu führen, dass auf holprigen Pisten jede größere Erschütterung ungewollt leichte Gasstöße verursacht. Das wirkt anfangs etwas ungewohnt, fällt aber bereits nach kurzer Zeit kaum mehr auf und die Freude über die geringen Bedienkräfte überwiegt, was besonders Kilometerfresser zu schätzen wissen werden.

Gute Aussichten für TriumphIn Sachen Fahrwerk ist eine Frage besonders interessant: Was macht der Endantrieb? Klare Antwort: einfach nur seinen Job. Und das dermaßen unauffällig, dass ein unbedarfter Mitfahrer nicht unterscheiden könnte, ob Kette, Zahnriemen oder Welle für Vortrieb sorgt. Besser kann ein Kardanantrieb bei einem Motorrad praktisch nicht arbeiten. Man merkt ihn bei der Tiger einfach nicht. Klare Sache also: Das ist die perfekte Welle! Durchweg Gutes gibt es auch von der Bremsen-Front zu berichten. Die Nissin-Stopper haben die maximal 481 Kilogramm sicher und ordentlich dosierbar im Griff, das serienmäßige ABS regelt feinfühlig in sehr kurzen Intervallen und greift nicht zu früh ins Geschehen ein. Die fürs flotte Ankern benötigten Handkräfte fallen etwas höher aus, was im Vergleich mit der extrem leichten Bedienung von Gas, Kupplung und Schaltung natürlich besonders auffällt, doch an irgendeiner Stelle darf man bedienungstechnisch ja wohl auch durchaus merken, dass hier ein sehr, sehr ausgewachsenes Motorrad bewegt wird, oder?! Die Abstimmung der von Kayaba stammenden Upside-down-Gabel geht prinzipiell in Ordnung, doch auf schnell aufeinander folgenden Bodenwellen ist die straffe Abstimmung dann doch etwas zu viel des Guten. Etwas weniger Dämpfung wäre nett, doch leider lässt sich an der Vorderhand nur die Federvorspannung variieren (oder man muss das Gabelöl wechseln). Beim Federbein kann neben der Vorspannung auch die Zugstufendämpfung den persönlichen Anforderungen angepasst werden, doch an der recht soften und komfortbetonten Grundabstimmung ändert das nichts. Für kommende Modellpflegemaßnahmen hat Triumph jedenfalls die nette Aufgabe, die Abstimmung zwischen Front- und Heckpartie noch etwas ausgewogener zu gestalten. Um es klar zu sagen: Die Tiger-Federelemente sind zwar ordentlich, aber die GS kann’s besser, besonders mit ESA.

Ein elektronisch verstellbares Fahrwerk gibt’s für die Tiger in absehbarer Zeit zwar nicht. Ebenso wenig Drahtspeichen- statt Gussräder, was besonders die ambitionierten Dreckwühler unter den Fernreisenden stören könnte, doch mit ihrem ge­lungenen, äußerst komfortablen Arbeitsplatz, dem famosen Motor und dem perfekten Endantrieb muss sich Tiger Explorer nicht hinter der „Mutter aller Reise-Enduros“ verstecken. Speziell auf langen Landstraßen-Etappen und auch bei stundenlanger Autobahn-Kilometerfresserei ist der vibrationsarme Lauf des Dreizylinders ein Segen – und dem luftgekühlten Boxer sogar etwas voraus. Dass die Triumph unter gleichen Bedingungen auch noch etwas weniger Sprit benötigt (Verbrauch auf der Landstraße meist deutlich unter fünf Liter), macht sie zudem nicht unsympathischer. Wer längere Offroad-Etappen in seine Urlaubsplanung integriert, wird vermutlich auch weiterhin eher zur GS greifen, die geringere Masse und die besseren Federelemente sind gute Argumente.

Unter allen Versuchen, der GS ans Stollenrad zu pieseln, ist die 13790 Euro teure und in Blau, Grau und Schwarz lieferbare Triumph Tiger Explorer mit Sicherheit der ambitionierteste und auch erfolgversprechendste. Wer allerdings glaubt, dass die R 1200 GS in den nächsten Wochen und Monaten von ihrem Spitzenplatz in der Zulassungs-Hitparade vertrieben werden kann, ist ein Träumer. Eine tolle Alternative zur mittlerweile an jeder zweiten Oasen-Ecke stehenden GS ist die Triumph aber auf alle Fälle. Und das liegt nicht nur an der besagten perfekten Welle.