aus Kradblatt 5/20 von Jochen Vorfelder

Die kleinen Tiger: Schmusig oder mit Krallen

Offroad - Triumph Tiger 900 Rally Pro, Modell 2020

Er ist schon ein begnadeter Verkäufer, Chef-Ingenieur Stuart Wood von Triumph Motorcycles: „Schau es dir an, ist es nicht ein schönes Maschinchen geworden? Ein Traum: stärker, leichter, besserer Sound, mehr Sicherheit,“ raunt Stuart mir lächelnd zu. Wir schlendern unter der prallen Sonne auf zwei Motorräder zu, die da unter Palmen vor einem Hotel in Marrakesch stehen. Malerisch drapiert.

Heck - Triumph Tiger 900 GT & Rally Pro, Modell 2020 Nun kenne ich Stuart schon etwas länger, und weiß, wie ich seine Ausführungen einzuordnen habe. Aber in der Tat: Was ich da sehe, schmeichelt dem Auge. Ein Fahrzeug, schön gezeichnet, mit einem schmalen Scheinwerfer im Gesicht, etwas gedrungen, aber stimmig in den Proportionen, mit Speichenrädern. Die  schwarzen Bauteile und der Motor kontrastieren perfekt mit Triumphs „Korosi Rot“, offensichtlich ist die Tiger GT sowohl gebaut für stolze Show-offs als auch entspannte Landstraßen-Touren.  

Der richtige Blickfang ist allerdings das Fahrzeug daneben: ein augenfälliges  Schmuckstück. Es ist die neue Triumph 900 Rally Pro mit Speichenrädern und Offroad-Outfit. Das „Matt Khaki“-Oliv passt 100 Pro zu dem – ja, endlich mal wieder traut sich jemand das! – weißen (!!!) Rahmen und signalisiert selbstbewusst: Schaut her, wenn hier einer vom Asphalt runter in den Dreck darf, dann ich. Stuart sagt: „Es wird dir gefallen, Jochen.“ Mal sehen, Stuart.

Fakt ist: Seit der Marokko-Präsentation im Februar diesen Jahres ist das Triumph-Angebot für die Enduro-Mittelklasse komplett neu aufgestellt. Das bisherige Modell-Wirrwarr XR, XRT, XC, XCX, XCA fällt ab sofort weg. Angeboten wird die kleine Tiger nach zehn Jahren Modelllaufzeit jetzt in einer Standard-, sowie den GT & GT Pro sowie Rally & Rally Pro-Versionen. Damit ist klar: Triumph zielt mit Grand Tourismo weiter auf die Straße, Rally soll den Geländeeinsatz ermöglichen. Der bisherige Dreizylinder-Motor wurde auf 888 cm³ Hubraum (statt wie bisher 800 cm³) aufgebohrt. Alle fünf Fahrzeuge haben die gleiche Motorkonfiguration und sind bereit für die Euro-5-Neuzulassung ab dem Januar 2021. 

Aber die Briten haben deutlich mehr als nur den Hubraum verändert. Der 2020er Motor hat durch die bei Triumph erstmals verbaute „T-Plane Triple Plank“-Kurbelwelle eine veränderte 1-3-2-Zündfolge, die einen tieferen, grollenden Sound – man hört fast einen V-Twin-Motor heraus – und ein besseres Ansprechverhalten liefert. Die PS-Zahl liegt trotz der Hubraumerhöhung weiter bei 95, doch die maximale Kraft wird jetzt schon bei 8750 U/min ausgeliefert. Gestiegen zum Vorläufer-Modell ist auch das Drehmoment; es liegt bei 87 statt 79 Nm; und das macht einen spürbaren, entscheidenden Unterschied im Einsatz.

Triumph Tiger 900 GT Pro, Modell 2020 Zwei ungleiche Schwestern: Augenfällig sind neben dem aufgefrischten, schnittigeren Design schon auf den ersten Blick die vielen kleinen Detail-Verbesserungen: Der voluminöse Drillings-Motor z.B. sitzt leicht gekippt weiter unten im leichteren Stahlrohrrahmen. Der ist jetzt auch nicht mehr aus einem Stück; der Heckrahmen und die Sozius-Fußrasten sind aus Aluminium und angeschraubt – auch das führt zur Gewichtsreduktion. Sie beläuft sich auf bis zu 5 Kilogramm, je nach Modell und Ausstattung. Der Tank fasst jetzt 20 Liter, die schmaler gewordene Sitzbank lässt sich bei allen Modellen um 20 Millimeter (760–780 mm) in der Höhe verstellen. Für Kurzbeinige gibt es auch eine tiefer gelegte Variante der Tiger, bei der die Sitzhöhe zusätzlich um 50 Millimeter ab Werk abgesenkt wird.

Wir waren in Marokko mit zwei Fahrzeugen unterwegs: am ersten Tag zunächst mit einer GT Pro von Marrakesch entlang des Hohen Atlas bis raus zur Atlantik-Küste nach Essaouira; insgesamt rund 350 Kilometer auf Teerstraßen. Am zweiten Tag wurde die Rally Pro sechs Stunden gefahren – und zwar fast ausschließlich auf Schotter, am Strand und direkt im Gelände.

Triumph Tiger 900 GT Pro, Modell 2020Auftakt also mit der GT Pro: Die marokkanischen Straßen können dem Fahrwerk und den manuell (GT) oder elektronisch (GT Pro) einstellbaren Marzocchi-Federelementen nichts anhaben. Das 19-Zoll-Vorderrad gibt fein Rückmeldung auf jeden Lenkimpuls. Sowohl in engen Kurven als auch sehr schnell gefahrenen Radien gibt einem die Tiger das beruhigende Gefühl: Hier bin ich zuhause. 

Schalten muss man nicht oft; die nutzbare Drehmomentpalette ist breit gespreizt. Schalten tut man trotzdem gerne, weil der serienmäßige Quickshifter sowohl beim Rauf- als auch beim Runterschalten im Zusammenspiel mit der Anti-Hopping-Kupplung butterweich funktioniert. Vervollständigt wird das Technikpaket von den grundsoliden Stylema-Bremsen von Brembo, die vorne mit 320-Millimeter-Scheiben und hinten mit einer 255er-Scheibe arbeiten, alles selbstverständlich mit Kurven-ABS.

Draufsicht - Triumph Tiger 900 GT & Rally Pro, Modell 2020 Nach dem ersten Fahrtag ist man schlauer: Die GT-Variante der neuen Tiger, egal ob als Standard oder als Pro, ist ein blitzsauberes, aber kein mitreißendes Motorrad. Funktioniert perfekt, fährt sich ohne Mucken, aber könnte gerade bei großen Fahrern mit dem entsprechenden Gewicht um die 90 kg etwas dynamischer sein. Unterstützt wird dieses subjektive Gefühl des Mangels durch die Ergonomie hinter passendem Windschild und Touringlenker: Man sitzt eher in der GT Pro drin als auf dem Motorrad; mit einer höheren Sitzbank wäre möglicherweise schon viel gewonnen. Man ist nicht Pilot, sondern Passagier – was wiederum manchen Kollegen sehr gefallen hat. Mir weniger.

Was man jetzt natürlich als Jammern auf hohem Niveau abtun könnte – hätte man nicht den zweiten Fahrtag mit der Rally Pro erlebt. Anderer Tag, komplett anderes Fahrzeug, obwohl im Wesentlichen neben der Elektronik (mit dem weiteren sechsten Fahr-Modus Offroad-Pro mit schaltbarem ABS zusätzlich zu Regen, Straße, Sport, Offroad und Fahrer) nur die Lenkerstellung, die Speichen und vor allem die Federelemente die Tiger-Schwestern unterscheiden. Noch einmal: Motor, Grundausstattung, alles gleich. Aber die Showa-Federelemente mit üppigen 240 mm vorne und 230 mm Weg hinten machen hier im Zusammenspiel mit dem 21 Zoll-Vorderrad, der veränderten Sitzhaltung und den Pirelli Scorpion-Geländereifen aus einem Enduro-Tourer einen hochpotenten Geländegänger. Er fordert dich – hier musst DU noch selbst fahren, hoch oben auf einer höheren Sitzbank, die gekröpften Zügel richtig in die Hand nehmen, agil, alert und aggressiv.  

Offroad - Triumph Tiger 900 Rally Pro In dust we trust: Also rein ins marokkanische Geläuf, am besten stehend. Der Knieschluss an dem breit ausladenden, aber nach hinten gut zulaufenden Tank ist ideal, die schlanke Sitzbank erleichtert die Arbeit im Trail. Ich wünschte mir noch ein paar Lenker-Riser aus dem Zubehör, aber los.

Die Rally Pro bringt mit knackvollem 20 Liter-Tank rund 220 kg auf die Waage, das ist üppig, aber der Dreizylinder hat null Probleme, die Fuhre noch durch die engsten Winkel und Steilstellen zu zirkeln. Ballern kann jeder, aber für fahrtechnisch anspruchsvolle Geländepassagen braucht man auch das richtige Handwerkszeug – die Rally Pro gehört zu dieser Preisklasse. Das Drehmoment stimmt schon bei tiefsten Umdrehungen; Triumph hat es geschafft, dem Dreizylinder-Konzept traktorartiges Tieftour-Verhalten, vergleichbar einem großen V-Twin beizubiegen, ohne die Kraft in hohen Drehzahlbereichen zu verlieren.     

An Spitzenpower mangelt es dem 900er Motor ohnehin nicht, ab 4500 U/min geht das Aggregat noch einmal richtig steil. Das macht trotz marokkanischem Geröll und üblen Sichtverhältnissen in roten Staubwolken vor allem in schnellen Passagen tierisch Spaß; mit dem schaltbaren ABS und der abgeschalteten Traktionskontrolle im Offroad-ProModus kann man den Pirelli am Hinterrad richtig spinnen und fliegen lassen. Das Schöne: Das ist nicht Sankt Peter-Ording sondern Atlantik-­Strand in Essaouira. Hier regt sich niemand über eine Horde verrückt gewordener Sand-Biker auf, die sich an Kapriolen mit der besten kleinen Tiger berauschen, die Triumph bisher gebaut hat. Wirklich Pro. 

TFT-Display - Triumph Tiger 900 GT & Rally Pro, Modell 2020 Elektronik über alles: Die zwei Rally- und GT-Varianten rüstet Triumph ab Werk mit einem 7-Zoll großen Farb-TFT-Display aus, das sich harmonisch ins Cockpit einfügt, obwohl es von der Größe her wie ein kleines Tablet herkommt. Technisch betrachtet ein Spitzengerät. Der Kontrast auch bei Sonneneinstrahlung ist hervorragend, es gibt einen Hell-Modus und eine dunkle Ansicht für die Nacht. Alle Informationen, die die Fahrzeugelektronik rund um die mit Continental entwickelte IMU (IMU = inertial measurement unit, Trägheitsmesseinheit zur kontinuierlichen Überwachung der Schräglage während der Fahrt)  liefert, sind jederzeit sichtbar, über logische Menüs und eine formidable Joystick-Steuerung leicht abrufbar – in vier Ansichtsvarianten und vier Farben. Echt jetzt, 16 Möglichkeiten? 

Triumph-App für volle Connectivity Das ist leider die Crux: Das Gerät ist in der Darstellung unerreicht vielseitig, aber Triumph hat die naheliegende Chance verpasst, dem Fahrer wirkliche Alternativen anzubieten. Statt beispielsweise einem Retro-Modus mit lediglich zwei Blinker-Pfeilen, Geschwindigkeit und Drehzahlmesser oder einer sehr flächig, grafischen „Bauhaus“-Oberfläche hat der Interface-Designer in Hinckley lediglich ein stark 3D-orientiertes und sehr verspieltes Thema in vier verschiedenen Anordnungen variiert. Schade, über Softwareupdates aber evtl. ja nachrüstbar.

Gut sind hingegen die „Connectivity“-Eigenschaften: Über die „My-Triumph“-App erschließen sich jede Menge Zusatzfunktionen, vom Telefonieren über Musik hören, Pfeil-Navigation bis hin zur Steuerung einer GoPro-Actioncam. Ein Grundproblem einer in das Display integrierten Navigation hat – wie viele andere Hersteller – aber auch Triumph nicht gelöst.  Egal ob Google- oder (wie bei BMW) TomTom-Kartenmaterial auf dem Smartphone als Basis genutzt wird, die Übertragung der Routenbestimmung per Bluetooth und die Übersetzung in leicht erkennbare Pfeile und Kreuzungsdiagramme funktioniert nur, solange man sich auf asphaltiertem Straßenterrain befindet. Doch spätestens, wenn es auf den Feldweg oder ins Gelände geht, streiken die Hersteller-Apps. Dann hilft (bisher) nur ein zusätzliches Navigerät z.B. von Garmin oder ein spezielles Smartphone-Anzeige-App auf Open Street Map-Basis.

Cockpit - Triumph Tiger 900, Modell 2020 Mach dein Projekt: Wer seine von Werk aus schon gut ausgestattete und in diversen Farbvarianten verfügbare Tiger weiter zuschneidern will, kann im Triumph-Zubehör auf über 65 Teile sowie diverse mit Givi entwickelte Koffersätze sowie die vorkonfigurierten Zubehör-Kits Trekker und Expedition zugreifen. 

Das macht die Anschaffung dann doch etwas teurer, während die Basiskosten ab Ladentheke durchaus im Rahmen des Marktes liegen: Der Grundpreis für die Basisversion Tiger 900 liegt bei 11.350 Euro. Die Tiger 900 GT/Low ist ab 12.950 Euro zu haben. Die 900 GT Pro startet bei 14.750 Euro, die 900 Rally bei 13.750 Euro und die 900 Rally Pro bei 15.350 Euro, jeweils zzgl. Nebenkosten.

Bei den Triumph Vertragshändlern sind die neuen Modelle bereits verfügbar. Meinen Favoriten kennt ihr, macht euch jetzt euer eigenes Bild!