aus Kradblatt 4/22, von Jochen Vorfelder
Frisch gewetzte Krallen
Im englischen nennt man es „Coming of Age“ – die englischen Tiger sind in die Jahre gekommen, in denen sie auch Granden wie der GS die Krallen zeigen dürfen.
Man kann es gar nicht anders beschreiben: Für die Tiger 1200, die neue Großkatze aus dem Hause Hinckley, haben die Briten im März ganz großes Fahrkino geliefert. Hinter Albufeira, quasi in Wurfweite der Rennstrecke Portimão, liegt eine beeindruckende Bergwelt. Sie schirmt die Sonnenstrände und Tourismushochburgen im Süden von den verwinkelten Tälern, steilen Höhen und einsamen Weiten des portugiesischen Hinterlandes ab. Entsprechend sind die Straßen, die sich nach Norden in tiefe Wälder, Nationalparks und die einsame Region Beja hinein winden: ruppig, rau und rustikal. So muss es sein; die richtigen Straßen und Tracks für den großen Dreizylinder, mit dem Triumph in der Liga der großen Reise-Enduros endlich ganz oben mitspielen und dem altgedienten Platzhirschen GS ein Teil das Revier streitig machen will.
Zeit für Runderneuerung. So sieht und sagt es jedenfalls Miles Perkins, seines Zeichens oberster Brandmanager bei Triumph Motorcycles: „Wer in diesem Segment bestehen will, muss sich natürlich an der Spitze messen lassen. Da ist BMW die Benchmark. Deshalb haben wir auch nicht Etwas überstürzt auf den Markt geworfen, sondern in Ruhe etwas komplett Neues entwickelt.“
Im Kern hat Perkins damit Recht: Es hat zehn Jahre gedauert, bis Triumph die im Frühjahr 2012 in den Verkauf gegangene alte Tiger Explorer – der Name wurde 2017 in Tiger 1200 geändert – jetzt ersetzt. Was damals noch State of the Art war und der Klasse angemessen, wirkt heute fast altbacken: Sicher noch eine extrem präsentable und kommode Reisemaschine, doch inzwischen viel zu schwer, zu träge im Gelände. Die Verkäufe lagen etwa im Jahr 2020 in Deutschland noch bei rund 500 Fahrzeugen.
Doch genau an den Kritikpunkten hat Triumph nun angesetzt. Miles Perkins sagt während der Vorstellung: „Im Grunde haben wir jede einzelne Baugruppe auf den Prüfstand geholt, Motor, Chassis, Kardan, Elektronik, jedes Detail.“ Die Mühe hat sich, so berichten die Zahlen, gelohnt: Die Tiger 1200 des Jahrgangs 2022 ist – je nach Ausführung – bis zu 25 Kilogramm leichter als das vergleichbare Vorgängermodell; die leichteste Version wiegt jetzt 240 kg (max. Zuladung einheitlich 222 kg). Sie hat gleichzeitig mit 150 PS neun Pferdestärken mehr.
Dabei ist Triumph gerade bei der Gewichtsreduzierung ungewöhnliche Wege gegangen: Das Hinterrad wird jetzt nicht mehr durch die einseitige Kardanschwinge geführt, sondern zweiseitig im sogenannten Trilink-System. Die neue Schwinge mit der komplex anmutenden Dreipunktbefestigung an der hinteren Achse ist, das bestätigt der Fahrtest später, nicht nur extrem stabil, sondern auch fast 1,5 Kilo leichter, weil das Kardangehäuse nennenswert abgespeckt hat.
Einheit in der Vielfalt. Um mit der Modellfamilie die Wünsche einer möglichst breiten Fangemeinde abzudecken, haben die Planer im Triumph-Hauptquartier auch die Tiger 1200 im inzwischen bewährten Triumph-Muster – also zwei Linien und insgesamt fünf Fahrzeuge – aufgesetzt. Alle drei eher straßenorientierten GT-Modelle (GT, GT Pro und GT Explorer) werden unter dem Banner „Ultimate Road Tour“ vermarktet und mit Gussrädern ausgeliefert, wobei vorne 19 Zoll- und hinten 18 Zoll-Felgen montiert sind. Die beiden Rally-Modelle – verbunden mit dem Slogan „True Off-Road Adventure“ – laufen dagegen auf 21/18-Zoll-Kreuzspeichenrädern und bieten sowohl vorne wie hinten mit 220 mm exakt 20 mm Federweg mehr als die GT-Varianten. Ein weiterer sichtbarer Unterschied ist bei zwei der fünf Modellvarianten auszumachen: Sowohl die GT Explorer als auch die Rally Explorer wuchern mit gewaltigen 30 statt 20 Litern Tankinhalt.
Das neue Herz. Alle neuen Tiger werden mit dem aus der Speed-Triple bekannten, jedoch eigenständig weiterentwickelten Dreizylinder mit 1160 cm³ bestückt. Der Motor hat – wie übrigens auch das Aggregat in der kleineren Schwester Tiger 900 – keinen gleichmäßigen 120 Grad Hubzapfenversatz an der Kurbelwelle, sondern haut seine 150 PS und 130 Nm in der unregelmäßigen 90/180/90 Zündfolge raus.
Die sogenannte T-Plan-Kurbelwelle sorgt nicht nur für die unbändige Kraft des Motors, sondern auch für seine unverwechselbare Charakteristik: Wenn das Triple-Aggregat früher akustisch noch leicht wie ein Turbinen-Triebwerk rüberkam, muss es heute am Ohr den Vergleich zu massiven Zweizylindern nicht mehr scheuen. Wobei der kernige Sound nicht auf Kosten der Allgemeinverträglichkeit geht. Das Standgeräusch, das für sich genommen wenig Sinn ergibt, aber im Vergleich zu anderen Fahrzeugen als Richtwert dient, liegt bei moderaten 92 dB(A).
Zuhause auf der Straße. Wir hatten Glück. Noch beim Abritt aus dem Hotel drohte laut allen Wetter-Apps Regen. Doch dann fielen an unserem Straßentag geschätzt nur hundert Tropfen – allerdings der besonderen Art: Was der Wind von der Sahara herüberwehte, war gespickt mit mikroskopisch kleinen Sandkörnern, die den Himmel mit einem rötlichen Filter überlagerten. Die Portugiesen in den Bergen nennen es „Blutregen”.
Ich war dennoch glücklich. Weil ich mit der Tiger 1200 – in Form der GT Pro mit 19 Zoll-Vorderrad und der Rally Explorer mit dem 21er Reifen – das richtige Motorrad für diesen Tag fuhr. Ein wunderbarer Arbeitsplatz. Der Sitz ist bei allen Modellen in zwei Höhen verstellbar und liegt zwischen 850 mm (GT) und 895 mm (Rally). Der Lenker ist genau so breit, wie man ihn braucht. Windschutz: Super, auch während der Fahrt mit einer Hand in verschiedenen Höhen verstellbar. Einfach aufsitzen, starten, Gang einlegen, bollern lassen: zuhause angekommen.
Und egal, in welcher Variante die Tiger 1200 unter dir rollt, es ist immer genügend Druck, selbst aus tiefen Drehzahlbereichen und im hohen Gang, da. Die Tiger hat nicht den unbändigen Boxer-Drang, aber in jeder Fahrlage Power satt anzubieten. Der Motor kann einfach alles, sowohl locker cruisen, tieftourig arbeiten und im Schleichgang durch die Serpentinen schlurfen, als auch unter Druck und Drehzahl richtig austeilen und die schnellen Befehle des Quickshifters klaglos schlucken.
Das Gefühl fürs Vorderrad ist bei allen Modellen top, speziell im Sattel der 21-Zoll-Modelle kommt richtiges Kurvenabenteuer-Feeling auf. Der durchschnittliche Verbrauch dürfte je nach Gangart zwischen knapp 5 und 6 Litern/100 km liegen (Werksangabe 5,1 l/100 km).
Der Rest der Tiger passt herrlich zum Motor. Das Chassis ist so gut, dass es über uns Normalo-Piloten und unsere Kurvenambitionen nicht mal anfängt zu lächeln. Die Metzeler Tourance- und Karoo-Bereifung kommt bei weitem nicht an ihre Grenzen. Auch die neue Trilink-Schwinge tut genau das, was sie soll: ihren Job und weiter nicht auffallen. Auch die Bremsen sind über jeden Zweifel erhaben; vorne arbeiten Brembo-Stylema Mono-
block Radialsättel mit zwei 320-Millimeter Scheiben, hinten kommt eine 282-Millimeter-Scheibe zum Einsatz.
Der einzige, spürbare Schwachpunkt: der neue Kardan im abgespeckten Gehäuse. Gegen den ist grundsätzlich nichts einzuwenden, doch bei allen Maschinen, die ich gefahren bin, waren mehr oder weniger schwache Lastwechsel-Reaktionen beim Angasen zu spüren. Selbst bei den Versuchen, mit der Gashand extrem vorsichtig zu agieren: Einen kleinen Schlag und leichtes Geruckel gab es immer. Ich gehe davon aus, dass sich Triumph dieser Unpässlichkeit noch annimmt, bevor die ersten Fahrzeug im April zu den deutschen Händlern kommen. Wir waren auf Fahrzeugen der Vorserie unterwegs.
Die Tiger kann auch dreckig. Apropos Kardan: Die 1200 Rally ist aktuell die einzige Reise-Enduro mit Kardan und einem 21-Zoll-Vorderrad auf dem Markt. Das giert natürlich nach Gelände – und den zweiten Fahrtag hatte Triumph bei der Wim Motors Academy arrangiert, einer Art Disneyland für ambitionierte Geländefreunde. Wer endlose Tracks durch unwegsames und staubiges Hinterland sucht, die sich nach Regenfällen in ein Schlammparadies verwandeln, wird dort fündig.
Kurz gesagt: Die Tiger Rally, richtig ausgerüstet mit Speichenrädern, längeren Federwegen und den von Triumph freigegebenen grobstolligen Michelin Anakee Wild mit niedrigem Reifendruck, ist jetzt das richtige Motorrad für dieses Terrain. Der Knieschluss passt auch im Stehen, mit einer zusätzlichen Lenkererhöhung von vielleicht 2 cm auch für Fahrer über 180 cm Größe. Die Fahrzeugtaille ist wunderbar schmal, wenn die Triumph damit mal ins Rollen kommen, verschwindet die Vierteltonne Gewicht erstaunlich spurlos. Gepaart mit dem fein justierten Off-Road-ABS – oder im Off-Road Pro Modus ohne ABS – ist die Bremsleistung auch im schnellen Gelände immer ausreichend.
Laufen mag die Tiger ohnehin; das Fahrwerk schluckt die vergeblichen Bemühung, die neuen, schwer verbesserten Tiger-Geländefähigkeiten an Grenzen zu bringen, ohne Mucken weg. So was nennt man neue Offroad-Souveränität, die zusammen mit der klasse Fahreigenschaft auf der Straße auf das pralle Guthaben-Konto einzahlt, das Triumph mit der neuen Tiger 1200 angelegt hat.
Man wird damit die GS, an der sich die Tiger messen soll, wohl nicht vom Thron stoßen. Aber verstecken muss man sich auch nicht, man hat jetzt richtige Krallen. Chapeau, Hinckley!
Wo bitte geht’s hier lang? Schon beim bescheidenen Modell-Update im Jahr 2017 war das Elektronikpaket von Triumph der Hit und Garant für schnellen Durchblick und schnelles Fortkommen.
Die Menüsteuerung bleibt uns grundsätzlich erhalten und ist wie damals weiterhin ein Quantensprung in Sachen Bedienkomfort. Das liegt an den logischen Menüs und am kleinen Joystick an der linken Armatur, über den sich die Fahrzeugeinstellung rasch und einfach personalisieren lässt. Hier gibt die Tiger bereitwillig Pfötchen.
Alles Weitere regeln die ziemlich perfekten Vorjustierungen ab Werk: Basis des sorgenfreien Tourens und der Ausflüge in die Badlands ist das semiaktive Fahrwerk von Showa, das sich selbstständig auf Beladungsänderungen – sprich Gewichte, Gepäck, Sozius – einstellt. Alle Modellvarianten sind damit ausgerüstet. Je nach Modell sind weiter bis zu sechs Fahrmodi (Rain, Road, Sport, Offroad, Off-Road Pro sowie der frei programmierbare Rider) verfügbar.
Der Rest ist gleichzeitig Standard, da bleibt kaum ein Wunsch offen: Kurven-ABS, Keyless Ride, Quickshifter, LEDs überall, hinterleuchtete Armaturen, Anfahrhilfe am Berg (außer beim Modell GT). Der hintere, radargestützte Totwinkel-Assistent ist exklusiv bei den beiden Explorer-Modellen verbaut. Wenn doch etwas fehlen sollte; es gibt ein umfangreiches Technik- und Reisezubehör.
Wo die Tiger etwas abfällt, ist die Verbindung zwischen der auf der Connectivity-App laufenden Navigation, basierend auf Google Maps, und dem 7 Zoll-Bildschirm. Größe und Pixeldichte des Displays würden es durchaus zulassen, die Google-Karte ins Sichtfeld zu spiegeln, doch bisher belässt es Triumph bei einer simplen Pfeilanzeige. Displays bei Mitbewerbern im gleichen Segment zeigen nicht nur Karten auf Wunsch vollflächig an, manche sind zusätzlich als Touchscreen ausgelegt.
Die Qual der Wahl. Triumph setzt bei den fünf Modellen auf ein ähnliches Farbschema wie bei der Tiger 900; die GT (ab 17.750 €) gibt es nur in Snowdonia White. Die GT Pro (ab 19.950 €) und die GT Explorer (ab 21.450 €) teilen sich Lucerne Blue, Sapphire Black und Snodonia White. Die Rally Modelle Pro (ab 20.950 €) und Explorer (ab 22.450 €) sind in Sapphire Black, Snowdonia White und einzig im auffälligen Matt Khaki Green mit weißem Rahmen zu haben.
Alle Tiger 1200 Modelle haben lange Wartungsintervalle von 16.000 Kilometern oder 12 Monaten – je nachdem, was zuerst eintritt, vier Jahre Herstellergarantie ohne Kilometerbegrenzung und zwei Jahre Mobilitätsgarantie. Bei den Triumph Vertragshändlern soll sie ab April 2022 verfügbar sein, dort gibt es auch alle weiteren Infos.
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Kommentare
Ein Kommentar zu “Triumph Tiger 1200 Rally + GT, Modelle 2022”
Tiger 1200
Fazit „Bei den Triumph Vertragshändlern soll sie ab April 2022 verfügbar sein, dort gibt es auch alle weiteren Infos.“
Das ist ja das Problem von Triumph, wo denn?
Schönen Gruß aus der Metropolregion
Bremen/Oldenburg
Wolle