aus bma 01/04

von Klaus Herder

Endlich geht es ihr gut. Sogar verdammt gut. Sie kann die Zukunft kerngesund angehen. Und weil sie sich wie neu geboren fühlt, tritt sie nun mit neuem Namen auf: Daytona 600. Rückblende: Als TT 600 kränkelte sie von Beginn an. Kein Wunder, führte doch schon der Name doch immer wieder zu Verwechslungen. TT 600? Das ist doch diese Uralt-Hardenduro von Yamaha. Ja, auch. Aber eigentlich war’s Triumphs im Jahr 2000 gestarteter Versuch, in der hart umkämpften 600er-Supersportklasse Fuß zu fassen. Der marketingtechnische Ansatz war so verkehrt auch nicht: Man nehme das Konzept des Marktführers, verfeinere es mit Hightech – und fertig ist der absolute Überflieger. Hätte klappen können, wenn man nicht bei zwei von zwei wesentlichen Vorgaben ins Klo gegriffen hätte. Fehlgriff Nummer eins: Zur Zeit der Entwicklung der TT 600 hieß der Marktführer Honda CBR 600 F. Schade nur, dass genau die beim Erscheinen der TT 600 schon schwer aus der Mode gekommen war und Honda nicht ohne Grund eine CBR 600 RR nachschob. Triumph kam mit dem Alleskönner-Konzept einfach ein paar Jährchen zu spät. Der größte Teil der 600er-Kundschaft verlangte mittlerweile nach kompromissloser Sportlichkeit und nicht nach rundlichem Universal-Design. Fehlgriff Nummer zwei: Die TT 600 sollte die erste Serien-600er mit Einspritzanlage und damit hochmodern sein. Sie war tatsächlich die Erste mit Einspritztechnik. Und leider auch die einzige 600er mit massiven Problemen beim Startverhalten, bei der Gasannahme und in Sachen Leistungscharakteristik.

 

Triumph hätte das Thema 600er vermutlich ganz schnell zu den Akten gelegt, wenn es bei aller Kritik nicht auch kräftiges Lob gegeben hätte. Beim Fahrwerk, beim Handling und auch bei den Bremsen schafften die Engländer mit der TT 600 nämlich aus dem Stand überzeugende Punktlandungen. Es wäre also wirklich schade gewesen, den Vierzylinder einfach sang- und klanglos in den ewigen Jagdgründen von Sherwood Forest zu versenken. Die in ihrer letzten Auflage auch motormäßig gar nicht mal so üble TT 600 tauchte ein letztes Mal in der 2003er-Preisliste auf. Schnäppchenjäger können für knapp 8000 Euro (und damit gute 1500 Euro unter Liste) immer noch fündig werden.
Seit dem Sommer 2003 heißt Triumphs Mittelklasse-Feuerzeug aber Daytona 600. Bereits die Verpackung lässt ahnen, dass hier nicht mehr der nach Hauptständer fragende Gutmensch die Zielgruppe bildet. Die aggressiven Ecken und Kanten der Daytona-Verkleidung polarisieren. Man liebt oder man hasst sie – dazwischen gibt’s nichts. Böse Schlitzaugen-Scheinwerfer und ein gieriger Ram-Air-Schlund ersetzten das leicht pummelige Allerweltsgesicht der TT 600. Hinter der Verkleidung ging es nicht ganz so radikal zu. Die nun zweigeteilte Sitzbank wanderte etwas höher, die Lenkerstummer dafür etwas tiefer (aber glücklicherweise nicht unter die obere Gabelbrücke). Insgesamt geht es auf der Triumph immer noch recht kommod zu. Im Vergleich zur aktuellen 600er-Konkurrenz bietet die Daytona erstaunlich viel Platz. Die Rückspiegel zeigen dank langer Ausleger tatsächlich das rückwärtige Geschehen, und auch bei der Cockpitgestaltung verzichtete Triumph klugerweise auf Experimente. Tacho und Drehzahlmesser gab’s in dieser recht übersichtlichen Form auch schon bei der TT 600, geändert wurde eigentlich nur die Skalenfarbe.
Ergonomie-Kritik am modernen Knick-Knack-Design üben höchstens langbeinige Fahrer mit Vorliebe für den klassischen Knieschluss. Das breit bauende 18-Liter-Fass ist nämlich ein gewaltiger Schenkelspreizer, und just an der Stelle, an der um eine konventionelle Sitzhaltung bemühte Piloten ihre Oberschenkel eng ans Blech schmiegen möchten, stören womöglich die kantigen Ausbuchtungen. Na gut, sitzen wir halt etwas lockerer und freuen uns über den verstellbaren Handbremshebel und das tadellose Startverhalten.
Um das zu verstehen, was jetzt eigentlich kommt, ist ein kleiner Technik-Exkurs unter Berücksichtigung von Modellpflegemaßnahmen erforderlich. Nun denn: Das grundsätzliche Konzept blieb verständlicherweise unverändert. Flüssigkeitsgekühlter, quer eingebauter Vierzylinder, zwei obenliegenden Nockenwellen, vier Ventilen pro Zylinder. Das Ganze immer noch als kurzhubigster 600er-Motor (Bohrung 68,0 mm/Hub 41,3 mm). Ganz neu – jetzt bitte aufpassen – ist aber die komplette Einspritzmimik. Die stammt nicht mehr von Sagem aus Frankreich, der aktuelle Lieferant heißt Keihin. Und dieser freundliche Japaner liefert eine Komplettlösung mit einem genialen Doppel-Drosselklappen-System. Die erste Batterie von Drosselklappen wird wie gewohnt direkt vom Gasgriff gesteuert. Den zweiten und direkt dahinter liegenden Drosselklappen-Satz steuert ein Stellmotor, der seine Befehle von einem Rechner mit sauschnellem 32-bit-Prozessor bekommt. Sieben Sensoren versorgen den Rechner mit Druck- und Temperaturwerten. Klingt kompliziert, hat sich in der Praxis bei diversen Suzuki- und Kawasaki-Modellen aber schon bestens bewährt und funktioniert auch in der Daytona hervorragend.
Ab 3000 Touren ist die Gasannahme tadellos. Da ruckelt und sprotzt nichts, da gibt es keinen Verschlucker und alles klappt wunderbar direkt. Wer die TT 600 kennt, kann nicht glauben, dass es sich bei der Daytona um den in der Basis gleichen Motor handeln soll. Die neue Einspritzanlage ist es denn auch nicht allein, die den Vierzylinder so auf Vordermann brachte. Die Triumph-Techniker gönnten dem Reihenmotor und der Peripherie auch noch eine ganze Menge Feinarbeit. Die jetzt mittig in der Verkleidungsnase untergebrachte Ansaugöffnung versorgt die 8,5-Liter-Airbox mit 15 Prozent mehr Staudruck. CNC-gefräste Brennräume und überarbeitete Kanäle reduzieren die Toleranzen auf ein Minimum und sorgen für besseren Gaswechsel. Ausgleichsbohrungen zwischen den Zylindern im Kurbelgehäuse verringern schädliche Pumpverluste. Die Kurbelwelle wiegt nun 700 Gramm weniger. Ziel der ganzen Aktion: vor allem mehr Druck im mittleren Drehzahlbereich. Und so ganz nebenbei natürlich auch mehr Druck auf dem Papier. In Zahlen: Jetzt gibt es 112 statt 108 PS. Die Nennleistung liegt bei klassenüblichen 12.750 U/min an. Beim maximalen Drehmoment von 68 Nm bei 11.000 Touren blieb alles beim alten. Eine gravierende Änderung gab es bei der Abgas-Entgiftung. Wo vormals ein ungeregelter Kat im Einsatz war, tut nun ein G-Kat mit Sekundärluftsystem Dienst.
Der zusätzliche Punch im mittleren Bereich, also so um 8000 U/min herum, ist durchaus spürbar. Die Daytona nimmt immer und überall sauber Gas an. So richtig fett zur Sache geht es mit der hubraumschwächsten Triumph aber erst im fünfstelligen Bereich. Zwischen 10.000 und 13.000 U/min brennt die Luft, bei 14.400 U/min greift der Drehzahlbegrenzer als Feuerlöscher ein. Der kleine Vierzylinder war und ist eine Drehorgel. Wesentlicher Unterschied zur TT 600: Der vormals steinige und nervige Weg zum Drehzahlglück ist nun wunderbar geradlinig und absolut stressfrei zu bewältigen.
Bei den absoluten Fahrleistungen hinkt die Daytona der direkten Konkurrenz minimal hinterher. Aber ist es wirklich entscheidend, ob man in 3,1 oder nur in 3,3 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h beschleunigen kann oder als Höchstgeschwindigkeit nur 252 statt 263 km/h zu bieten hat? Eben.
Die leichten Schwächen bei der Stammtischwertung macht die Daytona durch überraschend guten Windschutz mehr als wett. Mit 190 km/h locker über die freie Autobahn bummeln? Kein Problem, mit der Daytona geht das völlig entspannt und ewig lange. Zumindest so lange, bis die Warnlampe Ebbe im Tank meldet. Auf der Landstraße werden selten mehr als 5,5 Liter Super/100 km abgefackelt, auf der Autobahn ist’s ein Liter mehr.
Die neue Motorabstimmung war ganz sicher die größte Baustelle der Triumph-Techniker. Aber es war bei weitem nicht die einzige. Ganz besonderen Ehrgeiz entwickelten die Ingenieure bei der Entwicklung einer Diät. Der 600er ging es kräftig an die Pfunde. Der Alurahmen ist bei gleicher Außenform und Steifigkeit nun aus einem Drei- statt Vierkammersystem aufgebaut (minus 685 Gramm). Der geschraubte Heckrahmen verlor 200 Gramm, die im Durchmesser um zwei Millimeter geschrumpften Bremsscheiben sparen 170 Gramm, und die neuen Alu-Innereien der Gabel sorgen für satte 1000 Gramm weniger Masse. Ein leichterer Anlasser (minus 420 Gramm), Magnesium-Ventildeckel (minus 450 Gramm) und ein 600 Gramm leichterer Schalldämpfer sind ebenfalls mitverantwortlich für insgesamt fünf Kilogramm weniger Kampfgewicht. Wer den Tank nicht ganz randvoll füllt, schafft es, das Kampfgewicht auf 199,9 Kilogramm zu drücken.
Die Patientin hat endlich ein eigenständiges Gesicht, der Motor funktioniert nun auch, das Gewicht konnte erfolgreich reduziert werden – gibt’s sonst noch was? Ach ja, bevor wir es vergessen: Die voll einstellbaren Federelemente sind immer noch erste Wahl, die Bremse packt immer noch sehr gut dosierbar und mit bester Wirkung zu, und so ganz nebenbei ist das Fahrverhalten der 600er unverändert mustergültig. Spurstabil, extrem handlich, wunderbar berechenbar, Fehler verzeihend und ohne die geringste Aufstellneigung beim Bremsen in Schräglage geht’s mit der Triumph voran. Aber das kannten wir ja eigentlich schon alles von der TT 600. Neu sind die Pirelli Diablo-Gummis in T-Spezifikation (T wie Triumph), die noch etwas besser kleben als die auch schon sehr guten Bridgestone BT 010 der TT 600.
Die Triumph Daytona 600 kostet in „Aluminium Silver”, „Racing Yellow” oder „Tornado Red” 9990 Euro und liegt damit im klassenüblichen Rahmen. Dafür gibt es eine 600er, die eigentlich alles besser kann als das Vorgängermodell. Endlich hat Triumph eine 600er im Programm, die eine ernsthafte Alternative zum Angebot der japanischen Hersteller ist.
Die Daytona ist nicht so kompromisslos und radikal wie eine Kawasaki ZX-6R oder eine Honda CBR 600 RR, aber sie ist deutlich sportlicher und fahrbarer als ihre Vorgängerin. Aus der farblosen und übersensiblen englischen Patientin wurde eine ziemlich individuelle und kerngesunde englische Ex-Patientin.