aus bma 07/02

von Klaus Herder

Johnny Allen war Texaner und hatte mit gemütlichen Touren-Motorrädern rein gar nichts am Hut. Ganz im Gegenteil: Johnny wurde dadurch berühmt, dass er am 6. September 1956 mit exakt 345,45 km/h über den Bonneville-Salzsee im US-Staat Utah donnerte. Das war damals der Geschwindigkeits-Weltrekord für Motorräder. Die oberste Motorradsportbehörde FIM erkannte den Rekord zwar nie offiziell an, weil Johnny und seinen Jungs irgendwelche Formfehler unterlaufen waren, doch dem weiteren Triumphzug einer in den USA ohnehin schon sehr erfolgreichen britischen Marke tat das keinen Abbruch. Johnny Allens rasende Zigarre wurde von einem auf gnadenlose 66 PS getunten 650er-Zweizylindermotor aus der Triumph Thunderbird auf Rekordkurs gebracht. Als Ende 1958 die 46 PS leistende Triumph T120 (das stand für 120 mph/ 192 km/h) präsentiert wurde, bekam sie den Ehrennamen „Bonneville” verpasst. Für Triumph-Fans war das absolute Superbike der 60er Jahre fortan die „Bonnie”. Ab 1973 hatte die Bonneville 750 ccm Hubraum und hieß offiziell T140. Bis 1988 und dem endgültigen Aus der Triumph/Meriden-Ära blieb die Bonnie im Programm.

 

Seit 1991 fertigte Triumph in Hinckley zehn Jahre lang nur flüssigkeitsgekühlte Drei- und Vierzylindermotoren. 2001 war es dann endlich soweit, und die Briten knüpften mit der neuen Triumph Bonneville an ihre Zweizylinder-Tradition an. Mit der Ur-Bonnie hatte der neue Parallel-Twin technisch zwar nur noch die Zylinderanordnung und das Arbeitsprinzip gemein, doch die klassische Form des nunmehr 790 ccm großen und 61 PS starken Motorrads erinnerte durchaus an die Mutter aller Superbikes. Was vor 40 Jahren hochmodern war, ging nun als Retro-Look durch und knüpfte besonders in den USA an alte Erfolge an. Die neue Bonneville wurde in den Staaten zum bestverkauften Triumph-Modell. Da eine alte Kaufmannsweisheit besagt, dass man starke Produkte noch stärker vermarkten soll, war der Weg zur Triumph Bonneville America klar vorgezeichnet. Schließlich sind über 50 Prozent der Straßenmotorräder in den USA Chopper oder Cruiser. Die Triumph Bonneville America ist also ein speziell für den US-amerikanischen Markt gebautes Motorrad, das eher nebenbei auch in Europa verkauft wird – das kann gar nicht deutlich genug betont werden, um den Charakter des Flachmanns richtig zu verstehen.
Mit der Reduzierung der Sitzhöhe von 775 auf 720 Millimeter und der Montage eines höheren und breiteren Lenkers ließen es die Triumph-Techniker bei der Amerikanisierung der Bonneville aber längst nicht bewenden. Das komplette Rahmen-Layout ist ein anderes, die Werte für Lenkkopfwinkel, Nachlauf und Radstand änderten sich radikal (Bonneville: 61 Grad/ 117mm/ 1493mm; Bonneville America: 56,7 Grad/ 153mm/ 1655 mm), und auch die hübschen Drahtspeichenräder tragen völlig andere Gummiformate (110/80-18 vorn und 170/80-15 hinten anstelle von 100/90-19 und 130/80-17).
Die in der Praxis spürbarste Änderung musste aber der Motor über sich ergehen lassen. Vier Ventile pro Zylinder, zwei obenliegende Nockenwellen und zwei Ausgleichswellen sind normaler Bonnie und US-Bonnie zwar gemein, doch aus ursprünglich 360 Grad Hubzapfenversatz machten die um V2-Zylinderschlag bemühten Techniker 270 Grad. Der ursprüngliche Gleichläufer bekam damit eine ungleichmäßige Zündfolge und produziert tatsächlich eine hörbar andere Geräuschkulisse. Vom Potatopotatopotato-Bollern einer Harley ist die Bonneville America zwar recht weit entfernt, doch cruisergerecht kernig klingt das im Leerlauf noch sehr dezente Grummeln allemal. Die frühen Bonnevilles bekamen erst 1980 gegen Aufpreis einen E-Starter spendiert. Die Bonneville America hat das Starterknöpfchen selbstverständlich serienmäßig, den womöglich stilechten Kickstarter wird kein Amerikaner wirklich vermissen. Der Chokehebel sitzt direkt am Vergaser, einen konventionellen Benzinhahn gibt’s ebenfalls. Das Startverhalten des unverändert 61 PS starken Twins ist tadellos. Die Fahrerfußrasten samt Schalt- und Bremshebelei wanderten zwar gefühlte drei Längengrade in Richtung Vorderrad, doch das tut der Bequemlichkeit keinen Abbruch. Sauber und ohne Hakelei lässt sich fleißig in der Fünfgang-Schaltbox steppen, was in der Praxis auch dringend angeraten ist. Der America-Twin mag und braucht nämlich durchaus Drehzahlen. Unter 2500 U/min geht nicht viel, darüber dauert es zwar etwas, bis die üppigen Schwungmassen in Wallung kommen, doch dann fühlt sich der Zweizylinder mit steigender Drehzahl immer wohler. Die Nennleistung liegt erst bei 7400 Touren an. Die beiden Ausgleichswellen leisten derweil ganze Arbeit. Triumph-Puristen hätten gegen ein paar mehr good vibrations vermutlich nichts einzuwenden, doch den verwöhnten US-Cruiserfahrer wird die Abwesenheit jedweder Schüttelei kaum stören. Ganz im Gegenteil. Wer der Bonneville America cruiseruntypisch die Sporen gibt, bringt den vollgetankt 255 Kilogramm schweren Dampfer in eher bescheidenen 5,7 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Die Durchzugswerte sind eigentlich auch nicht besonders erwähnenswert, die Höchstgeschwindigkeit von 175 km/h ist dann aber gar nicht mal so übel. Doch das sind alles für die Praxis völlig unbedeutende Werte, das Leben mit der Bonneville America spielt sich zwischen 80 und 120 km/h und fast immer auf der Landstraße ab. Genau dort kann sie auch ihre eigentlichen Stärken ausspielen. Die da sind: viel Komfort (vorausgesetzt, der Belag ist nicht zu zerfurcht), stoischer Geradeauslauf (Wir erinnern uns: Das Ding ist für die USA gebaut) und eine für Cruiserverhältnisse überraschend große Schräglagenfreiheit (Triumph ist nun mal doch europäisch).
Das Leben auf dem dick gepolsterten Fahrersattel ist überaus angenehm, solange den Fahrer keine auch nur ansatzweise sportlichen Ambitionen überkommen. Spätbremsen ist mit der Bonneville America nämlich eine Tortur. Zum einen verlangt der recht einfach aufgebaute Solostopper im Vorderrad nach einer brutal hohen Handkraft, wenn mal richtig Anker geworfen werden soll. Zum anderen gehen der Telegabel bei solchen Aktionen sehr schnell die 120 Millimeter Federweg aus. An der Hinterhand mühen sich die in der Federbasis fünffach verstellbaren Federbeine redlich um Komfort, doch mehr als das Urteil „mittelprächtig” bringen sie auf ihren 105 Millimetern Arbeitsweg nicht zustande, wenn mal eine etwas verschärftere Gangart angesagt ist. Wer allerdings einen klassischen, runden Fahrstil bevorzugt und einigermaßen vorausschauend unterwegs ist, kann mit der Bonnie viel Spaß haben. Im Gegensatz zu vielen Cruiserschwestern ist sie nämlich durchaus handlich und sehr gut berechenbar. Bei ihr gibt es kein fieses Auskeilen, kein überraschendes Aufsetzten und keine kreislauffördernden Oioioioi-Erlebnisse. „Lässig rollen lassen” lautet das Motto, dann genehmigt sie sich aus dem 16,6-Liter-Tank um die fünf Liter Super auf 100 Kilometern und wirkt auf jeden ursprünglich noch so gestressten Fahrer äußerst beruhigend. Nach einer harten Woche lässig ins verdiente Wochenende rollen – genau das lässt sich mit der Bonneville America bestens bewerkstelligen. Da stört es dann auch kaum, dass Kotflügel, Seitendeckel und die Konsole auf dem Tank zwar nach toll verchromtem Metall aussehen, aber doch nur aus schnödem Kunststoff bestehen und dass bei Sonnenschein die Kontroll-Lampen für Blinker und Leerlauf kaum zu erkennen sind. Die Handhebel lassen sich nicht verstellen, der Tankdeckel ist nicht abschließbar – na und? Die unterhalb der Federbeine montierten „Werkzeugkasten” und der riesige Tacho sehen klasse aus, das Triumph-Logo am Tank ist eine Augenweide, und die doppelwandigen Krümmer können nicht anlaufen. Als Originalzubehör gibt’s unter anderem so wichtige Dinge wie Sissybar, Windschild, Packtaschen und Tankschutz aus Leder.
Die sehr gut verarbeitete Bonneville America steht für knapp 8700 Euro (inkl. Nebenkosten) in Jet Black/Silver oder Cardinal Red/Silver beim Triumph-Händler. Die normale Bonnie gibt’s für rund 800 Euro weniger. Die mag sachlich vielleicht das bessere Motorrad sein, doch dieses unbeschreibliche „Gefühl von Freiheit und Abenteuer” vermittelt nur ihre für die USA gemachte Schwester. Das hätte Johnny Allen ganz sicher auch so gesehen.