aus bma 9/10 – Reisebericht von Holger Gehrke

WW2 Veteran„Ganz Amsterdam … spricht Tag und Nacht von der Invasion, diskutiert, schließt Wetten ab und … hofft!“ schreibt Anne Frank am 22. Mai 1944, wenige Tage vor Beginn der größten amphibischen Operation der Weltgeschichte, in ihr berühmt gewordenes Tagebuch. Im besetzten Holland hungern die Menschen, in den Konzentrationslagern von Dachau und Buchenwald, in den Zwangsarbeiterfabriken überall in Deutschland und in Millionen Häusern von Toulouse bis Rotterdam gibt es nur eine Hoffnung: Die Befreiung. Im Morgengrauen des 6. Juni landen dann zehntausende alliierter Soldaten an einem 80 Kilometer brei­ten Küstenstreifen der Normandie. Das ist der Beginn der größten und waghalsigsten militärischen Invasion aller Zeiten – und der entscheidende Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges.

Ausgelöst durch Erzählungen meines Vaters, der als junger Wehrmachtsoffizier diese Landung erlebte und selbst die mörderischen Verluste der verzweifelten letzten Ardennenoffensive und der letzten Gefechte am Rhein überlebte, der dabei immer wieder mit der legendären amerikanischen Fallschirmspringereinheit „Easy Company“, bekannt aus dem Film „Band of Brothers“ („Wir waren wie Brüder“) zusammenstieß, folgen wir zwei Wochen lang den Spuren dieser beiden Einheiten. Vom Start in England bis zum Rhein.

Wir, das sind neun Ü50-Biker von „KradKircheKultur“, meist schon im (Un)Ruhe­stand, die sich in der Ev. Kirchengemeinde Gröpelingen und Oslebshausen im Bremer Westen regelmäßig versammeln und zu sehr speziellen Themen-Touren aufbrechen. Wir fahren gern zügig und viel, aber nicht nur um des Fahrens selbst willen. Zwar ist der Weg selbst auch ein wichtiges Ziel, aber noch kein hinreichendes. Unseren Weg spicken deshalb immer wieder mit sorgsam ausgewählten Zielen historischer, kirchlicher, kultureller und mitunter auch nur kulinarischer Art.

„Der Preis der Freiheit“ war nun das Thema, das uns vierzehn Tage durch Holland, England, Frankreich, Belgien und Luxemburg trieb.

GräberfeldVon Hook van Holland mit der Fähre nach Harwich/England ging es los. Es folgten die zahllosen englischen Kreisverkehre, an die wir uns erstaunlich schnell linksfahrend gewöhnten; so gut, dass wir vier Tage später in Roscoff/Bretagne den ersten Kreisel auch erst einmal links ansteuerten! Unangenehmer als das Linksfahren waren die oft schlechten englischen Straßenverhältnisse mit sehr rauem Asphalt sowie die grünen „Tunnel“, in die sich kleinere Straßen dort oft verwandeln: kein gemähter Straßensaum, keine weißen Leitpfosten, dafür aber Alleebäume und Hecken hart am Asphalt, alle mit riesigen Heckenscheren zu grünen Wänden beschnitten, die steil in den Himmel ragen. Unausweichliche Folge: Man sieht weder entgegenkommende Autos (alles Geisterfahrer!) noch etwas von der oft schönen Landschaft! Da können hundert Kilometer zu einer kleinen Ewigkeit werden! Ferner ungewohnt für unsereinen: keine Cafés am Straßenrand, kaum Supermärkte, Tankstellen im „Gebrüder-Ludolf-Look“ an den Landstraßen, dafür aber reichlich Campingplätze, oft vom pulsierenden Leben umgeben. Und das pulsiert mitunter schon ab drei Uhr nachts.

Undurchdringlicher HürtgenwaldDann jeden Abend und jeden Morgen dasselbe Ritual: Mopped abpacken, Zelt aufbauen, LuMa aufblasen, Kocher für Heißwasser entzünden, Klappstühle entfalten und reichlich Schweiß von der Stirn wischen! Für vor allem in England unerwartet gutes Wetter waren wir überaus dankbar! Touristenmagnete wie Stonehenge oder Schloss Tintagel (angeblicher Geburtsort von König Artus) ließen wir „rechts“ liegen, nicht aber Glastonbury mit der ältesten Kirche Englands, deren Fundamente noch bis ins erste nachchristliche Jahrhundert zurückgehen sollen. Sogar den Heiligen Gral will man hier gehütet haben! Einigen von uns schmeckten indes die speziellen Muffins an diesem heiligen Ort besonders gut. Unsere ganz speziellen englischen Ziele waren indes besondere Vorbereitungsorte der Invasion: In Blechley Park nördlich London (bei Milton Keynes) hat die dort versammelte engli­sche mathematische Intelligenz im Krieg die deutschen Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ geknackt. Auch die als absolut sicher geltende Vier-Walzen-Fassung der deutschen U-Boot-Flotte. Damit verkürzten die Kryptologen den Krieg um ganze anderthalb Jahre – sagen die Historiker. Wenn nun noch die Invasion erfolgreich wäre, würde sich die böse Perspektive reduzieren, dass am Ende vielleicht die ersten Atombomben auf deutsche statt auf japanische Städte fallen würden!

GeschützbunkerAlso fuhren wir weiter zum Upottery-Airfield, einem der vielen zur Invasionsvorbereitung damals in den Acker betonierten Flugplätze für die Fallschirm­jäger-Transportflugzeuge an der englischen Südküste. Was daheim bei Google-Earth noch einwandfrei zu identifizieren gewesen war, war vor Ort nur schwer zu finden, weil wieder von extensiver Landwirtschaft umfangen. Als wir mit unseren neun Krädern nebeneinander auf der langen Startbahn beschleunigten reichte nur wenig Phantasie dafür aus, sich in die Lage der Soldaten der startenden Easy Company zu versetzen. Schwerst bepackt und in heftigem Flakfeuer vorzeitig und bei zu hoher Geschwindigkeit abgesetzt, landeten viele im gefluteten Hinterland und ertranken oder kamen ohne Waffen und Ausrüstung weit entfernt vom eigentlichen Einsatzort am heckenreichen Hinterland der Normandie-Küste an. Dass sie dennoch ihren Auftrag erfüllten, indem sie schwere deutsche Artillerie ausschalteten und wichtige Brücken im Hinterland sicherten, ist mehr als erstaunlich und senkte die ohnehin hohe Verlustrate der Landungstruppen erheblich.

Bläser am GrabWir Seniorbiker indes verzichteten lieber auf Landungsboote und nahmen die komfortable Nacht-Fähre von Plymouth nach Roscoff in der Bretagne. Natürlich befuhren wir die idyllischen Küstenstraßen mit sagenhaft schönen Blicken auf die raue Küste und fahrtechnisch lohnt auch ein Abstecher ins ruhige Hinterland. Das Gezeitenkraftwerk über die Rance bei St. Malo und den legendären Mont St. Michel ließen wir natürlich auch nicht aus. Die normannisch-hügelige Heckenlandschaft, die sich damals als militärisch schwer zu eroberndes Terrain hinten den Landungsstränden erwies, lud uns indes auf kleinen, kurvigen Sträßchen zu überaus beschwingtem Fahren ein. Und auch 66 Jahre nach der Invasion sind viele ehemalige Kampfstätten nicht zu übersehen. Ein Museum reiht sich an den nächsten geschichtsträchtigen Ort, vom ruhmreichen Kampf der Ranger am Pointe du Hoc bis zur Pegasus-Brücke bei Caen, wo das legendäre Café Gondré als erstes befreites Haus noch heute genauso zum Verweilen einlädt.

Emotional noch intensiver waren die Besuche auf den beiden großen Soldatenfriedhöfen an der Küste. Mehr als 20.000 gefallene Amerikaner am Omaha-Beach und ebenso viele gefallene deutsche Soldaten nur wenige Kilometer entfernt bei La Cambe. Auf letzterem findet sich ein Wort Albert Schweizers, das sich uns als tiefe Wahrheit erwies. Die Soldatenfriedhöfe, so Schweizer, seien die eindringlichsten Prediger des Friedens! Ebenso bewegend waren für uns die Begegnungen mit Einheimischen und auch mit Kriegsveteranen, die sich in St. Mère-Eglise, der ersten eroberten Stadt am Utah-Beach, zum Gedenken ihrer gefallenen Kameraden versammelt hatten. Als wir nach Sonnenuntergang vom Strandspaziergang wieder durch einen schmalen und steilen Gang wieder zum Campingplatz oben zurückbegeben wollten, halfen wir uns dabei gegenseitig mit einigen englischen Bikern die Klippe hinauf und kamen darüber miteinander ins Gespräch: „Unsere Väter und Großväter haben sich hier gegenseitig umgebracht; wir helfen uns gegenseitig über die Klippe!“

Le Mont St. MichelDer Rest der Tour ist schnell erzählt und zählt doch viele Kilometer: Über den „Pont de Normandie“, die gigantische Brücke über die Seinemündung, ging es ostwärts Richtung ehemalige Reichsgrenze im Länderdreieck Belgien, Luxemburg, Deutschland mit Stopp im geschichtsträchtigen Wald von Compiégne, wo in dem berühmten Eisenbahnwagen zwei folgenreiche Waffenstillstände unterzeichnet wurde. Der Hauch der Geschichte blieb auf unseren Fersen bis zum dunklen Boi de Jacques bei Bastogne und zum noch dunkleren Hürtgenwald südlich Aachen. In letzterem war das Grauen in Gestalt der längsten Schlacht des Zweiten Weltkriegs zuhause, die von den Amerikanern mehr Opfer forderte als der gesamte Vietnamkrieg! Uns bewegten zwei Denkmäler, die wie Lichter der Menschlichkeit in das Todesdunkel scheinen: „A Time for Healing“ auf der Kallbrücke, einer Todesfalle, die unzählige Male die Seiten wechselte und das von den Amerikanern für den deutschen Leutnant Lengfeld gestiftete Ehrenmal in Hürtgen. Lengfeld konnte die Schreie eines im Minenfeld schwer verwundeten Amerikaners nicht mehr ertragen und schleppte ihn ohne Kenntnis der Minenlage aus dem Feld heraus. Am Ende trat er selbst auf eine Mine und verstarb zwei Tage später an den Folgen. Der Amerikaner indes überlebte. „Mehr Liebe kann keiner zeigen, als der sein Leben gibt für seine Feinde.“ steht als Bibelzitat auf dem Gedenkstein geschrieben.

Nach fast 4000 Kilometern endete unsere Reise wieder in Bremen, wo sie zwei Wochen zuvor, am 30. Mai, begonnen hatte. Noch immer sind wir von der Freundlichkeit der Menschen, die unseren Vätern Feinde waren, sehr bewegt. Unsere Tour stieß immer auf großes Interesse und gab Anlass zu sehr persönlichen, am Ende oft freundschaftlichen Gesprächen. So gesehen mehr, als wir erwartet hatten: eine Friedenstour im Gedenken derer, die unsere Freiheit unter großen Opfern erkämpften und die uns mahnen, Frieden, Freiheit und Menschenwürde auch deshalb immer hoch zu achten. Anne Frank hat diese Befreiung damals leider nur um ein paar Tage verpasst. Unzähligen aber hat sie auch das Leben gerettet.