aus bma 05/08

von Michael Schories

SyltDu hast zwei Stunden Zeit für Sylt? Okay Freund, dann folge mir… Selbst wenn Du einen Cruiser mit maximal 20 Grad Schräglage und höchstens 34 PS fährst, wirst Du nie und nimmer mehr als 120 Minuten brauchen, um alle Straßen auf Deutschlands berühmtester Insel einmal abgefahren zu haben…
Nein, nein… nicht, daß das jetzt falsch rüberkommt: Ich liebe Sylt! Und wenn die Anreise nicht so zeitaufwendig und teuer wäre, würde ich wahrscheinlich wöchentlich oder zumindest monatlich in Kampen, List und Westerland zumindest für ein Krabbenbrötchen bei „Gosch” auftauchen. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe DORT gelebt, DORT wo Naddel Interviews für SAT 1 gibt und der Surfworldcup stattfindet, DORT wo am Strand von Kampen-Nord Foto-shootings des Playboy stattfanden und Motorradtreffen mit 50 Teilnehmern und zusammen 150.000 Kilometern Jahresleistung veranstaltet werden.
Beginnen wir mit der Tour: Wir starten in List, dem absolut nördlichsten Ort Deutschlands (das kann nicht mal Kap Arkona auf Rügen bestreiten). Standesgemäß reisen wir per beidseitig befahrbarer Fähre aus Richtung Dänemark an und kaufen unterwegs diverse Lakritzprodukte, die je nach regionalem Geschmack zwischen „absolut eklig” und „absolut geil” eingestuft werden. Angekommen in List halten wir natürlich am Hafen und genießen Krabbenbrötchen „Nummer eins” sowie das Hinweisschild des örtlichen Busbetreibers, daß neben Schmutz, Dreck und Graffiti auch Krabbenbrötchen als unzumutbar für eine Mitfahrt einstuft. Juhu, so versnobt ist nur Sylt! Und so witzig!
Nur drei Kilometer Richtung Süden (Alle anderen Richtungen bedeuten hier sowieso nur Richtung Dänemark oder offene See) durch Dünenlandschaft begegne ich ersten Anzeichen meiner Sylter Vergangenheit: Vogelkoje! Erst das Restaurant gleichen Namens an geschichtsträchtigem Ort, dann das Kinderheim, ebenfall als „Vogelkoje” benannt, in dem ich 3,5 Jahre arbeitete. An den schmalsten Stellen der Insel sieht man links das Wattenmeer und rechts die offene Nordsee. Wow, diesen Ausblick über bewachsene Dünen hatte ich von meiner Dienstwohnung mal umsonst. Aber wenn man etwas täglich hat, kann man es offensichtlich nicht so genießen wie bei einem Besuch Jahre später.

 

SyltIch bleibe ein Weilchen an meinem Lieblingsstrand und gehe auch noch die paar Meter durch tiefen Strandsand bis zu Deutschlands vermutlich berühmtestem Imbiß, Buhne 16! Inzwischen erstaunt mich der Anblick Hamburger oder Düsseldorfer Möchtegernwohlhabender mit dem obligatorischen Glas Champagner in der Hand nicht mehr wirklich. Es gehört halt zur „Inszenierung Sylt”, Sehen und Gesehen werden ist entscheidend.
Das exotische Auto wird werbewirksam platziert und am Strand vor Deutschlands reichstem Dorf, Kampen, muß die Show der Reichen und Schönen fortgeführt werden. Schade, daß dabei oft der Blick auf das „rote Kliff”, eine spektakuläre Steilküste, die regelmäßig Land an die Nordsee verliert, vergessen wird. Daß meine Voxan anhand der Verkaufszahlen in Deutschland (es gibt momentan 87 Stück auf deutschen Straßen!) viel exklusiver als ein Ferrari ist, verrate ich natürlich den streßgeplagten Millionären nicht.
Okay, hier leiste ich mir kein Fischbrötchen, sondern genieße nur kurzzeitig den Fußweg durch das „Tal der Könige”, wohlwissend, daß dieser Weg durch die Dünen nur von einigen Einheimischen in Anlehnung an ähnlich karge Landschaften in Ägypten so genannt wird.
Ich brauche wieder ein wenig Straße! Da der direkte Weg von Kampen nach Westerland weniger als zehn Kilometer beträgt, und das auch quasi nur geradeaus, nehme ich die Ausfallroute über die östliche Spitze Sylts. Hier sieht man in Tinnum sogar natürliche Friesenhäuser, die noch nicht zu Wellness-Hotels umfunktioniert wurden, und mit etwas Gespür kann man sogar eine Kirche entdecken, die jahrelang von einer Wanderdüne bedeckt war und inzwischen von der Natur wieder freigegeben wurde. Dies und die Grabstätten einiger Sylter Walfänger und Seeleute sagt mehr über den Charakter der Insel aus als die Filialen von „Boss” und „Joop”…
Nach Westerland muß ich trotzdem auch. Es ist nach wie vor kein Problem ein Motorrad ohne Strafzettel-androhung irgendwo in der Fußgängerzone zu parken. Und hier kann ich endlich Krabbenbrötchen Nummer Zwei essen, natürlich wieder von „Gosch”, dem „Paten” wenn es um Fischbrötchen auf Sylt geht (und inzwischen auch in Berlin, Hamburg usw. angesiedelt). Die Preise sind hoch, die Qualität stimmte bei den Testexemplaren aber.
Ein paar Sylter Straßen habe ich aber heute mit der Voxi-Lady noch ausgelassen. Also starte ich noch einmal Richtung Rantum an der Südspitze mit Blick auf andere friesische Inseln, wohlwissend, daß es in diese Richtung nun wirklich nur noch geradeaus geht. Ein Minimum Schräglage hole ich mir bei geschwungenen Überholmanövern, die Erfüllung ist das aber nicht. Irgendwie ist es zwar entspannend durch schottisch anmutende Heidelandschaft zu cruisen, gleichzeitig unfreiwillig dem „Jahrmarkt der Eitelkeiten” beizuwohnen macht dagegen keinen Spaß.
Gegen Abend treffe ich bei Freunden ein und ich frage, ob das legendäre „Tommys”, Sylts einzige unprominente Rockdisco, noch existiert… Es wird ein langer Abend und erst der nächste Vormittag auf der Fähre nach Dänemark holt mich vom „Trip” runter, ich fahre wieder in die reale Welt.
Schade nur, daß der zweiter Gang meiner Voxan bis 120 km/h reicht, ich also eigentlich vier Gänge auf der Insel der Reichen und Schönen ungenutzt lassen mußte…