aus bma 08/98

von Klaus Herder

Wer Appetit auf Eisbein mit Sauerkraut hat, wird in einem Salatteller kaum eine akzeptable Alternative sehen. Und die Fahrer der Mercedes S-Klasse träumen ganz sicher nicht vom viel wendigeren und praktischeren Fiat Cinquecento. Womit klar sein dürfte, daß sich nachfolgend irgendwelche lästerlichen Worte über die Suzuki VL 1500 von selbst verbieten. Wer Fett will, bekommt Fett. Jedem das seine. Auch wenn es vollgetankt 315 Kilogramm wiegt.
Suzuki hatte schon immer ein Händchen dafür, Masse äußerst lecker zu verpacken. Die seit immerhin zwölf Jahren im Choppergeschäft tätige VS 1400 Intruder ist ein gutes Beispiel dafür. Doch Masse ist relativ. Die immer noch im Suzuki-Programm zu findende Trude wiegt immerhin über einen Zentner weniger als ihre jüngere Schwester VL 1500. Und das, obwohl die Herzen der beiden nahezu identisch sind. Jawohl, der Zweizylinder der VL 1500 ist eigentlich ein alter Bekannter: etwas mehr Bohrung (96 statt 94 Millimeter) und ein Tick mehr Hub (101 statt 98 Millimeter) machen unterm Strich 1462 anstelle von 1360 ccm Hubraum. Die japanische Ingenieursehre verlangte allerdings nach ein paar weiteren Eingriffen in die Zweizylinder-Herrlichkeit. Und so drehten die Techniker einfach den hinteren Zylinderkopf um 180 Grad. Die beiden Gleichdruckvergaser finden nun gemeinsam im 45 Grad-Zylinderwinkel Platz, und die Verlegung der beiden Sidepipes klappte stilsicher auf einer Seite. Die VL 1500 ist Rechtsträger, die VS 1400 hat im Gegensatz dazu auf jeder Seite ein Rohr.

 

An vielen bewährten Prinzipien hielten die Japaner aber eisern fest. So hat die Typenbezeichnung der Neuen zwar den Zusatz LC, doch das steht nicht für „Liquid Cooled” (=wassergekühlt), sondern für „Legendary Classic”. Für die thermische Gesundheit sorgt wie bei der VS 1400 eine kombinierte Luft-/Ölkühlung. Der vordere Zylinder gibt die Wärme an den Fahrtwind ab, dem hinteren Topf entzieht ein Ölkreislauf die Hitze. Der dazugehörige Ölkühler steckt vorn zwischen den Rahmenunterzügen. Drei Ventile pro Zylinder, hydraulischer und damit wartungsfreier Ventilspielausgleich – alles bekannt, alles bewährt. Das gilt auch für den genial einfachen Kunstgriff mit dem Hubzapfenversatz. Der Motor sieht zwar nach einem 45 Grad-V-Twin aus, arbeitet aber wie ein 90 Grad-Motor. Statt eines Hubzapfens für beide Pleuel (wie z.B. bei Harley), hat der VL 1500-Motor zwei zueinander um 45 Grad versetzte Hubzapfen. Das bringt einen gelungenen Massenausgleich (nur „gesunde” Vibrationen) und zumindest theoretisch einen kernigen Sound (Zündfolge wie bei Ducati).
In der Praxis ist es mit dem Sound nicht ganz so weit her. Die VL 1500 grummelt nach dem völlig problemlosen Kaltstart (Choke und Zündschloß befinden sich links unten – wir regen uns nicht mehr darüber auf) etwas dezent vor sich hin. Das belastet den Fahrer allerdings nur wenig, denn er lümmelt sich lustvoll auf dem ultrafetten Sitzkissen und freut sich darüber, daß er Gardemaß hat. Die VL 1500 ist nämlich nichts für Kurze. 700 Millimeter Sitzhöhe sind zwar durchaus zwergentauglich, doch die extrem breite Lenkstange ist soweit entfernt, daß Kurzarmige beim Rangieren Schwierigkeiten bekommen können. Die recht weit vorn angebrachten Trittbretter verlangen ebenfalls nach einer Körper-Gesamtlänge von nicht weniger als 1,70 Meter. Kurze Finger sind dagegen nicht weiter hinderlich, denn der Handbremshebel und der Hebel der hydraulisch betätigten Kupplung lassen sich einstellen.
Die Schaltwippe liegt goldrichtig: nicht zu hoch, nicht zu weit – paßt. Ein beherzter Tritt, Kupplung langsam kommen lassen und schon zieht das Gummiband gnadenlos ab. Nun sind 68 PS aus anderthalb Litern Hubraum nicht gerade weltbewegend, äußerst Cruiser-bewegend sind sie aber allemal. Die Höchstleistung liegt bereits bei 4.800 U/min an, das maximale Drehmoment von gigantischen 114 Newtonmetern stemmt der Twin schon bei 2.300 U/min (Harley-Davidson Fat Boy: 96 Nm bei 2.400 U/min – noch Fragen?). Das alles verbunden mit kernigen Good Vibrations, und des Cruisers Herz geht auf. Beseeltes Dauergrinsen stellt sich ein.
Die für Dickschiffe vom Schlage einer VL 1500 so gern beanspruchte „Kraft aus dem Keller” muß allerdings etwas relativiert werden. Objektiv betrachtet läßt sich jeder 1200er-Vierzylinder schaltfauler fahren. Wer auf der VL 1500 im fünfen und letzten Gang unter 60 km/h unterwegs ist, wird mit Rütteln und Schütteln und einer unwilligen Gasannahme bestraft. Über 60 km/h fährt es sich gut in der letzten Schaltstufe. Bei etwa 170 km/h ist Feierabend. Ein eher theoretischer Wert, denn so masochistisch kann niemand veranlagt sein, um mit weit ausgebreiteten Armen und aufrechten Hauptes mehr als 130 km/h dauerhaft zu ertragen.
Der VL 1500-Treiber hält sich freiwillig an alle Geschwindigkeitsbeschränkungen. Und das sogar auf Landstraßen, denn so stur die Fuhre geradeaus läuft – bei rekordverdächtigen 1700 Millimeter Radstand und 138 Millimeter Nachlauf kein Wunder -, so abenteuerlich werden auch etwas zu schnell angegangene Kurven. Wer nämlich der Meinung ist, Überschußgeschwindigkeit mit zusätzlicher Schräglage kompensieren zu können, wird von der VL eines besseren belehrt. Die Schräglagenfreiheit geht gegen Null, und dabei sind die früh aufsetzenden Trittbretter gar nicht mal so schlimm, weil klappbar. Doch danach kommen – immer noch viel zu früh – die Trittbrett-Halter. Und die sind starr mit dem Rahmen verschraubt. Wer allerdings vor Biegungen jeglicher Art früh vom Gas geht, braucht noch nicht einmal die für Cruiserverhältnisse ordentlichen Bremsen (je eine Scheibe vorne und hinten) übermäßig zu quälen. Die Bremswirkung des Twins reicht meist völlig aus, um aufrechten Hauptes ums Eck zu biegen. Bei etwas engeren Kehren ist allerdings körperlicher Einsatz am Lenker gefragt. Das fette 150er Gummi auf der 16-Zoll-Vorderradfelge möchte nachdrücklich zur Kursänderung gezwungen werden. Hinten sind es übrigens ebenfalls beachtliche 180 Millimeter Breite auf einem 15-Zoll-Rad.
Je glatter der Fahrbahnbelag ist, desto mehr Spaß macht die VL 1500. Für das kursstabile Gleiten über gut ausgebaute Landstraßen sind die Telegabel und das Zentralfederbein ordentlich abgestimmt. Über Fahrbahnflicken am Stück und fiese Absätze geht’s dafür nicht ganz so gemütlich. Das Suzi-Fahrwerk ist eher zu straff als zu weich, was immerhin den Vorteil hat, daß auf ihr niemand Angst vor Seekrankheit haben muß. Der Kardan ist bei Lastwechseln durchaus zu spüren, bringt aber keine Unruhe ins Gebälk.
Wer mit der VL 1500 gemütlich über Land bummelt, verfeuert nicht mehr als fünf Liter Normalbenzin auf 100 Kilometern. Autobahnrichtgeschwindigkeit muß mit sechs bis sechseinhalb Litern Verbrauch bezahlt werden. Der Sprit wird übrigens nicht dort gebunkert, wo ihn Motorradfahrer gemeinhin vermuten. Die 15,5 Liter sind unter dem Fahrersitz untergebracht, und unter dem von einem einsamen Tachometer gekrönten Behältnis in Tankform steckt nur der Luftfilter. Da ein Luftfilter völlig reicht, bleibt das rechtsseitig neben den Zylindern montierte Gehäuse leer – das Ding ist auch nur eine Attrappe. An anderer Stelle ist die VL 1500 dafür umso ehrlicher. Was nach Metall aussieht, ist in der Mehrzahl der Fälle auch Metall.
Ein Sozius ist auf der Suzuki durchaus kommod untergebracht, das gute Licht macht Sommernachtsträume nicht zum Blindflug, und der Preis geht mit 19.490 DM in Ordnung.
Eigentlich müßte es die VL 1500 auf Krankenschein geben, denn ihre Besitzer brauchen nie wieder Glückspillen, Beruhigungsmittel oder gar einen Therapeuten. Wer sie leiden mag, wird mit ihr garantiert auch glücklich. Da ist es doch müßig, über Sinn oder Unsinn von 315 Kilogramm Einspurfahrzeug zu streiten.