aus bma 01/99

von Klaus Herder

Der Mensch hat im Normalfall zwei Arme, zwei Augen und zwei Ohren. Das reicht. Warum also soll ein Motorrad mehr als zwei Zylinder benötigen, um flott voran zu kommen? Der Twin des Lebens liegt für einige Motorradfahrer nun mal in der Beschränkung. Die Vierzylinder-Fraktion kann da x-mal mit Laufruhe, Leistungsausbeute und Haltbarkeit kommen – einen echten Zweizylinder-Fan kratzt das nicht. Die Hardliner unter ihnen verlangen auch noch nach einer ganz besonderen Zylinderanordnung: V-Form muß der Zweier haben, genau 90 Grad Zylinderwinkel müssen es sein. Wenn dann noch das Stichwort Sport ins Spiel kommt, stand beim Objekt der Begierde bis 1997 fast zwangsläufig Ducati, bestenfalls noch Moto Guzzi auf dem Tank.
Doch dann präsentierte Suzuki die TL 1000 S. Ein Angebot für alle, denen die italienische Küche zu teuer oder zu unberechenbar erschien. Der mit vielen Vorschußlorbeeren bedachte Sportler aus Japan legte aber einen astreinen Fehlstart hin. Der Ruf des halbverschalten Twins war schneller ruiniert als Suzuki auf Kinderkrankheiten reagieren konnte. Extrem hoher Verbrauch, Fahrwerksschwächen, Ölverdünnung, Kupplungsprobleme, absterbende Motoren – die Liste der Macken wurde lang und länger. Mittlerweile sind die Startschwierigkeiten überwunden, Rückrufaktionen und eine durch den Importeur bis zur wirtschaftlichen Schmerzgrenze gewährte Kulanz machten aus dem Fehl- einen Durchstarter.

 

Anfang 1998 legte Suzuki noch eins drauf: Die supersportliche TL 1000 R soll die Knieschleifer-Träger unter den Zweizylinder-Fans glücklich machen. Um der R etwas mehr Mannschärfe zu verpassen, überarbeiteten die Japaner den flüssigkeitsgekühlten 90°-V-Zweizylinder der TL 1000 S: neue Airbox, höhere Verdichtung, schärfere Steuerzeiten, umfangreicheres Motormanagement, geschmiedete Slipperkolben, stabilere Pleuel, neue Auspuffanlage – heraus kamen muntere 135 PS, die bei flotten 9500 U/min anliegen. Im Hinblick auf ein zukünftiges Motorsport-Engangement genügte auch der brave Gitterrohrrahmen der S nicht mehr den Ansprüchen. Solide Alu-Profile als kürzeste Verbindung von Lenkkopf und Schwingenlagerung mußten her. Da man gerade dabei war, das Fahrwerk komplett neu zu stricken, wurden gleich noch ein paar Parameter verändert: steilerer Lenkkopfwinkel (67° statt 66,3°), kürzerer Nachlauf (90,6 statt 93,5 mm) und kürzerer Radstand (1395 statt 1415 mm) für noch mehr Handlichkeit. Doch bei diesen Werten muß es zumindest im Renneinsatz nicht bleiben. Schwingenlagerung, Lenkkopfwinkel und sogar die Einbaulage des Motors lassen sich dank verschiedener Anlenkpunkte verändern. Um das nutzen zu können, sollte man allerdings im Besitz des 140.000 (in Worten: einhundertvierzigtausend) Mark teuren Rennkits sein. Otto Normalheizer wird sich wohl darauf beschränken, an der Vorder- und Hinterhand fleißig mit der verstellbaren Federvorspannung sowie mit unterschiedlichen Zug- und Druckstufendämpfungen zu spielen.
Auf dem Weg zum Supersportler verloren die Entwickler nur leider einen Punkt etwas aus den Augen: das Gewicht – für einen Sportler nicht ganz unwichtig. Um es kurz zu machen: Die TL 1000 R ist mit fahrfertig 231 Kilogramm Lebendgewicht ein fetter Klops. Die ältere Schwester TL 1000 S wiegt satte 15 Kilo weniger, und sogar die Vierzylinder-Konkurrenz ist deutlich leichter (Yamaha YZF-R1: 203 kg, Honda CBR 900 RR: 210 kg). Zur prallen Masse kommt erschwerenderweise auch noch ein etwas moppeliges Aussehen. Die üppige Vollverschalung macht nicht gerade einen schlanken Fuß. Vorn mimt die TL den Nasenbär, hinten macht sie auf gefüllte Ente. Und alles zusammen sieht so aus, als wenn die Verpackung für das kurz geratene Fahrwerk eine Nummer zu groß wäre. Oder hat sich beim Designen ein Auffahrunfall mit anschließendem Heckaufprall ereignet? Die Räder stehen halt etwas zu nah beieinander. So muß es gewesen sein, und anschließend hat sich die Fuhre überschlagen und dabei wurden die beiden Auspufftöpfe schräg nach innen gebogen.
Genug gelästert, jetzt wird gefahren. Startprobleme sind für die TL ein Fremdwort, das Motormanagement und damit auch die Einspritzanlage wissen immer ganz genau, wann wo wieviel Benzin benötigt wird. Die Kupplung wird zwar hydraulisch betätigt, übermäßig feinfühlig läßt sie sich trotzdem nicht dosieren. Die Fahrerfußrasten sind hoch, die Lenkerstummel dafür recht tief montiert. Zusammen ergibt das eine äußerst kompakte, in Motorradfahrerkreisen gern als „versammelt” bezeichnete Sitzposition. Menschen bis 1,90 Meter müssen sich zwar sportlich falten, aber nicht zwangsläufig über artistische Grundfertigkeiten verfügen -bei aller Sportlichkeit ist man auf der TL noch einigermaßen bequem untergebracht.
Die Federelemente geben sich alle Mühe, den komfortablen Eindruck nicht zu verwässern. Die Upside-down-Gabel wird ähnlich sanft über Asphaltverwerfungen getragen. Dabei arbeiten Federung und Dämpfung zwar eng neben-, aber nicht miteinander. Federung und Dämpfung sind getrennte Bauteile mit je einem eigenen Hebelsystem. Das klingt sehr verspielt, und das ist es auch. Die Variationsmöglichkeiten gehen gegen undendlich, der Drehflügeldämpfer läßt sich sehr fein verstellen. Schade nur, daß er die einmal eingestellte Dämpfung nur über einen sehr begrenzten Zeitraum liefert. Wenn es so etwas wie Dämpfer-Fading gibt – die TL leidet darunter. Mit nachlassender Wirkung kommt immer mehr Unruhe ins Heck. Das ist nicht weiter dramatisch, wenn in gemäßigter Gangart ums Eck gebogen wird. Doch die TL 1000 R soll nun mal ein Supersportler sein, und der muß sich gefallen lassen, heftig von einer Kurve in die nächste geschmissen zu werden. Schnelle Wechselkurven und welliger Belag – das behagt der Suzi ganz und gar nicht, sie schaukelt sich auf, ein sauberer Strich wird erfolgreich vereitelt. Federung und Dämpfung arbeiten aneinander vorbei, zu allem Überfluß geht die Gabel auch noch sehr frühzeitig auf Tauchstation. Das klingt alles sehr dramatisch und ist es auch, wenn man die TL mit den Ansprüchen an Supersportler vom Schlage einer GSX-R oder ZX-9R mißt. Wer aber bereits früher mit der Gummikuh auf Landstraßen die Schlitzifeilen gejagt hat, wird das alles halb so schlimm finden. Etwas indirektes Fahrverhalten auf fiesem Belag – na und? Dann läßt man es halt etwas ruhiger angehen oder überwindet den inneren Schweinehund, denn gefährlich wird’s eigentlich nie. Nur vom versprochenen Supersportler ist die Suzi fahrwerksmäßig meilenweit entfernt.
Wer sich bewußt für die TL 1000 R entscheidet, erwartet ja vielleicht auch nicht einen Meilenstein in Sachen Fahrwerkstechnik. TL-Käufer wollen puren Zweizylinder-Spaß. Und der wird durchaus geboten. Gut gedämpft und trotzdem grummelig-kraftvoll bollert der Twin bereits im Leerlauf. Die Gasannahme ist perfekt, keine Bedenkpause, kein Verschlucken – einfach toll. Im knackig und auf kurzen Wegen zu schaltenden Sechsganggetriebe zu rühren macht Spaß. Übermäßige Fußarbeit ist anfangs aber gar nicht gefragt, denn der erste Gang ist ellenlang übersetzt. Ab 3000 U/min legt der Zweizylinder vehement los, ab 5000 U/min geht es sehr, sehr zügig voran, oberhalb von 7000 Touren powert der Einliter-Twin gnadenlos vorwärts. Dem vibrationsarmen Treiben setzt der Drehzahlbegrenzer bei 10.600 U/min ein Ende. Wer sich zwischenzeitlich hinter der mäßig vor dem Fahrtwind schützenden Scheibe klein gemacht hat, sieht die Tachonadel im Bereich von 280 pendeln, was immerhin echten 260 km/h entspricht. Die Leistungsentfaltung des beruhigend wummernden Motors ist erstaunlich gleichmäßig. Kein besonderes Hoch, kein spürbarer Durchhänger – und trotzdem schwer beeindruckend. So muß es sich anfühlen, wenn ein gigantischer Elektromotor loslegt und gleichzeitig noch armdicke Gummi-seile entspannend tätig werden. Die Beschleunigungswerte fallen trotz des Übergewichts recht ordentlich aus. Bis 100 km/h vergehen rund drei Sekunden, die 200er Marke wird in knapp zehn Sekunden erreicht. Der Motor ist eine Granate, nur leider sitzt er im falschen Fahrwerk.
Zum Trost bremst die Fuhre wenigstens hervorragend. Die Sechskolben-Zangen packen die vorderen Doppelscheiben gut dosierbar, äußerst wirkungsvoll und nahezu fadingfrei. Ziemlich handlich ist der im Fahrbetrieb gar nicht mal so schwer wirkende Brocken dazu auch noch. Der Verbrauch fällt mit maximal sechs Litern für die gebotenen Fahrleistungen recht moderat aus, was den kleinen 17-Liter-Tank gerade noch akzeptabel macht.
Die Verarbeitung ist nicht nur für Suzuki-Verhältnisse erstaunlich gut, und der Listenpreis liegt mit 19.650 Mark noch unter der 20.000er Schmerzgrenze. Dafür gibt’s dann einen faszinierenden Motor, eine gute Ausstattung, tolle Bremsen, aber leider auch eine etwas unausgegorene Fahrwerksabstimmung. Zweizylinder-Fans mit Spaß am Experimentieren (Stichwort Fahrwerksoptimierung) werden ihre Freude an der dicken Suzi haben.