aus bma 09/06

von Klaus Herder

Suzuki M 1800 R Mod. 2006 Das Bild ist herrlich symbolträchtig: Das Wrack des 1994 vor Fuerteventura gestrandeten Ex-Luxusliners „American Star” im Hintergrund, im Vordergrund die jüngste Speerspitze des fernöstlichen Cruiserbaus, die Suzuki Intruder M 1800 R. Amerika geschlagen im Abseits, Japan strahlend und auf der Siegerseite. Ein faszinierendes Bild – nur leider ein völlig falsches. Der Markt der Chopper und Cruiser ist in Deutschland seit Jahren auf dem absteigenden Ast. Zu besten Langgabler-Zeiten gehörte nahezu jede dritte Neumaschine zur Easy Rider-Fraktion, mittlerweile können sich nur noch knapp zehn Prozent der Neukäufer für rollendes Barock erwärmen. Als einzige Marke beschickte in der jüngeren Vergangenheit nur Harley-Davidson in diesem Segment wirklich etwas. Die japanischen Kopien waren einfach zu bemüht, zu glatt oder zu peinlich – oder gleich alles zusammen.
Wo „Charakter” und Markenimage nicht reichen, sollen es zumindest Hubraum und Masse schaffen. Die Kawasaki VN 2000 und auch die Yamaha XV 1900 Midnight Star versuchen es weiterhin auf diese Tour. Und auch Suzuki probiert es so mit den Intruder C-Modellen, wobei C für „Classic” steht. Das Kürzel M meint bei Suzuki dagegen „Muscle”.

 

Mächtig muskulös und vor allem erfrischend anders ist das, was dort in der Sonne auf dem Ständer lümmelt, tatsächlich. Der Betrachter ist hin und her gerissen. Einerseits blankes Entsetzen ob der schwülstigen Verpackung („Mein Gott, ist die häßlich!”), andererseits durchaus Begeisterung („Sieht irgendwie schrill aus. Hat durchaus was!”). Wie auch immer: Was da so polarisiert ist richtig viel Motorrad, nämlich mit 19,5 Litern vollgetankt satte 348 Kilogramm schwer. Dafür, daß die einigermaßen flott in Wallung kommen, soll ein flüssigkeitsgekühlter V-Zweizylinder sorgen. Je zwei obenliegende, kettengetriebene Nockenwellen und vier Ventile, Tassenstößel, Ausgleichswelle, Einspritzung, Doppelzündung – alles mächtig modern und mit exakt 1783 ccm Hubraum auch wahrlich nicht unterdimensioniert. Was dem technisch interessierten Leser aber womöglich noch mehr beeindrucken könnte, ist das Kolbenformat. Die beiden fleißigen Kerlchen messen im Durchmesser jeweils 112 mm. Einhundertzwölf! Der nicht gerade winzige Kaffeebecher, der gerade neben meiner Computertastatur steht, mißt – Moment, ich greife zum Lineal – knapp 80 mm. Der Intruder-Prospekt bringt es denn auch auf den Punkt: „Die dicksten Kolben, die jemals ein Motorrad und sogar ein Auto angetrieben haben.” Okay, der Zusatz „serienmäßiges” hätte nicht geschadet, aber beeindruckend ist das auch so.
Suzuki M 1800 R Mod. 2006 Nun bevorzugen Dicke bekanntlich die kurzen Wege, der Intruder geht es nicht anders. Gerade mal 90,5 mm beträgt der Arbeitsweg der dicksten aller Dinger. Ein Kurzhuber also, der flotten Drehzahlen nicht abgeneigt ist. Während die großvolumige Zweizylinder-Konkurrenz irgendwo unterhalb von 5000 U/min ihre Höchstleistung abgibt, darf der Suzi-Twin muntere 6200 U/min drehen um 125 PS zu mobilisieren. Dazu das passende Prospekt-Zitat: „Der stärkste V-Twin-Cruiser, der je gebaut wurde.” Geht doch. Drehmoment? Vorhanden! 160 Nm bei 3200 U/min – das müßte eigentlich reichen.
Die Suzuki-Verantwortlichen betonten bei der Präsentation, daß sich einige der Entwicklungsingenieure sehr ausführlich und fast ausschließlich mit der Konstruktion des Seitenständers beschäftigt hätten. Klingt albern? Ist es aber nicht, denn das zugegebenermaßen ziemlich elegant geformte Teil funktioniert prächtig. Oder anders gesagt: Mir ist noch nie zuvor ein dermaßen praxis-tauglicher Seitenständer untergekommen. Das Ding läßt sich spielend leicht und ohne irgendeine Füßelei aus- und einklappen (Manche Harley-Fahrer wissen, daß das auch ganz anders geht…), bietet allerbeste Standsicherheit (Wir erinnern uns: 348 Kilogramm vollgetankt!) und macht durch seine clevere Anlenkung das Aufrichten des Kolosses zum Kinderspiel. So beindruckend die Abmessungen der 1800er sind, so überraschend leicht ist der Umgang mit ihr, noch bevor der Motor überhaupt läuft. Der gefühlte Schwerpunkt liegt ein paar Zentimeter unterm Asphalt, und 700 mm Sitzhöhe befinden sich auch nicht sehr weit darüber. Das zusammen erleichtert das Rangieren ungemein und sorgt auf Anhieb für viel Vertrauen.
Sitzhöhe? Deutlich erwähnenswerter ist bei der M 1800 R die Sitzbreite. Wer sich immer schon gefragt hat, warum Reiter(innen!) häufig einen so unglaublich dicken Hintern haben, bekommt auf der Suzuki die Erklärung geliefert: Es liegt am Sattel. So ein Teil ist figurformend, man kann gar nicht anders, als sich bequem breit zu machen. Die Intruder-Sitzgelegenheit ist so ein echter Sattel, satteliger geht es eigentlich gar nicht. Womit klar sein dürfte, daß M 1800 R-Fahrer zukünftig als die „Breitärsche” der Szene durchgehen dürften.
Die Suzuki-Ingenieure haben nicht nur in Sachen Seitenständer und Sattel viel Hirnschmalz investiert. Auch bei der übrigen Gestaltung des Arbeitsplatzes hatten sie ein sehr glückliches Ingenieurs-Händchen. Der massige Lenker ist nur wenig gekröpft, angenehm weit vorn und vor allem nicht zu hoch montiert. Der Fahrer sitzt ganz leicht vornübergebeugt, mächtig breitbeinig und mit seinen Füßen dort, wo andere Motorräder gemeinhin das Vorderrad haben. Das ist auch auf Dauer erstaunlich bequem, und die perfekte Rücksicht in den Spiegeln macht’s noch sympathischer. Etwas unglücklich ist neben der handwerklichen Ausführung von Bremspedal und Fußrastenhalter (Ging es eigentlich noch gröber?) allerdings das Thema Soziusbetrieb gelöst. Wer zu zweit unterwegs sein möchte, darf erst einmal die Heckabdeckung gegen das glücklicherweise serienmäßig mitgelieferte Soziuskissen tauschen. Spontane Zweisamkeit wird damit wirksam unterbunden. Zumindest dann, wenn man mit der deutlich hübscheren Abdeckung auf Tour gegangen ist. Die Sozius-Fußrasten passen übrigens prima dazu: Sie klemmen nicht übermäßig unter den Armen.
Suzuki M 1800 R Mod. 2006 Die M 1800 R ist also ganz klar ein Gerät für Einzeltäter. Und für dessen Unterhaltung ist prima gesorgt. Das Mäusekino überm Lenker informiert im Breitbandformat und mächtig digital über die gerade anstehende Drehzahl und dekoriert die Sache mit ein paar LED-Kontrolllampen. Der rote Bereich beginnt übrigens bei 7500 U/min – nicht vergessen, es handelt sich hier um einen 1800er-Cruiser, doch dazu später mehr. Unter dem Lenker und stilecht unübersichtlich auf dem Tank sitzt der Rest des Info-Angebots: Analoger Tacho, Kilometerzähler, zwei Tripmaster, Tank-anzeige, Uhr. Beim Anlassen läßt sich der Twin nicht lange bitten. Das Starten klappt problemlos auf den ersten zarten Knopfdruck. Tja, und was dann sehr bassig aus dem verchromten Doppelrohr-Edelstahlauspuff wum-mert, macht die Ingenieure anderer Fabrikate womöglich sehr neidisch. Wie nur haben es die Suzuki-Leute geschafft, in Moldawien einen stocktauben Sachverständigen aufzutreiben, der ihnen die Geräusch-Homologation zurechtlügt? Es ist einfach unglaublich, wie so etwas serienmäßig möglich ist. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Suzuki tönt nicht krawallig oder unangenehm laut. Eher sehr, sehr kernig und damit äußerst angenehm. Respekt!
Beim Griff zur Kupplung und beim Rühren im Fünfganggetriebe macht die dicke Trude klar, daß hier kein Kindergeburtstag gefeiert wird. Klavierspielerhände und Tanzschuhfüßchen haben hier nichts verloren, es darf (und muß) ordentlich zugelangt und zugetreten werden. Die akustische Rückmeldung ist Ehrensache, so hört man wenigstens, ob der Gang auch drin ist, noch bevor man es merkt. Die Gasannahme ist tadellos, dem bereits in den Suzuki-Sportlern zum Einsatz kommenden Doppel-Drosselklappensystem SDTV („Suzuki Dual Throttle Valve”) sei Dank. Die Doppelzündung zündet je nach Last gleichzeitig oder zeitversetzt, im Auspuff sorgt eine elektronisch gesteuertes Ventilklappe („SET – Suzuki Exhaust Tuning”) für mehr Druck im Drehzahlkeller. Ausgleichswellenberuhigt legt der Motor ohne irgendwelche störenden Vibrationen los. Was bis zum Fahrer durchkommt, ist nur ein wohliges Stampfen und Bollern.
Suzuki M 1800 R Mod. 2006 Wer allerdings die ganz große Kraft-aus-dem-Keller-Keule erwartet, wird womöglich etwas enttäuscht sein. Bitte nicht vergessen: Die Suzuki ist ein Kurzhuber. Und der braucht Drehzahlen, so 3000 U/min sollten es schon sein, der große Hebel wird 500 Umdrehungen später umgelegt. Dann aber richtig, denn aus dem gemütlich trödelnden Dickerchen wird urplötzlich ein mächtig agiler Sprinter. Die nächsten 4000 Umdrehungen schaltet der Big Twin auf herrlichen Durchzug, der Sound legt qualitätsmäßig nochmals zu, jeder Zug an der Kordel sorgt für ein wunderbar cooles Fauchen. Noch besser klingt das Grollen beim Gaswegnehmen. In rund 17 Sekunden passieren sieben Zentner Motorrad plus Fahrer aus dem Stand die 200-km/h-Schallmauer, erst bei 215 km/h (laut Fahrzeugpapieren) ist wirklich Feierabend. Das ist für Cruiser-Verhältnisse schon ziemlich amtlich. Bitte beachten Sie bei solchen Übungen aber, daß es möglichst lange geradeaus geht. Satte 1710 mm Radstand (das entspricht exakt dem Wert der Harley V-Rod) bevorzugen eine übersichtliche Streckenführung. Der fette, in einer Aluschwinge steckende 240er-Hinterradreifen ist ebenfalls ein Freund langer Geraden, in Kurven sorgt er besonders beim Bremsen mit einer ausgeprägten Aufstellneigung für ein gewisses Eigenleben. Die ganze Fuhre schiebt bei flotter Gangart auch ohne irgendeine Bremseinwirkung kräftig übers 130er- Vorderrad Richtung Kurvenaußenseite. Das Untersteuern läßt sich prima mit ausgeprägten Lastwechselreaktionen kombinieren, wenn etwas zu hektisch am Quirl gedreht wird und der Kardan fahrstuhlmäßig ins Geschehen eingreift. Das alles wirkt anfangs arg ungewohnt, doch das Vertrauen, das die Suzuki bereits beim Rangieren ausstrahlte, vermittelt sie ihrem Fahrer auch in Fahrt. Sie wird nie link und unberechenbar, sie ist einfach nur ein dickes, sehr kräftiges Mädchen, das etwas an die Hand genommen (besser: Bei den Hörner gepackt) werden möchte. Man gewöhnt sich sehr schnell daran, daß die klappbaren Fußrasten bereits bei moderater Schräglage über den Asphalt schraddeln und freut sich darüber, daß Suzuki keine zum Aushebeln neigenden Trittbretter an den Stahlrohr-Doppelschleifenrahmen gehängt hat.
Das, was ein (Power-)Cruiser nach landläufiger Meinung bieten muß, gibt es auf der Suzuki im Überfluß: Jede Menge Lässigkeit, fetten Sound, entspannende und anregende V-Twin-Massage, Druck in fast jeder Lebenslage und die ganz große Show an der Ampel. Und wer sich beim Schaulaufen mal etwas verschätzt hat und kräftig den Anker werfen muß, bekommt auf der Power-Trude auch etwas geboten: Die Bremsen der GSX-R 1000 mit ihren radial verschraubten Tokico-Vierkolbenzangen und üppig dimensionierten 310 mm-Scheiben. Deren Abstimmung geriet allerdings cruisertauglich, es darf/ muß also kräftig zugelangt werden, dann passiert auch etwas. Die Upside-down-Gabel könnte übrigens auch direkt aus einem Suzuki-Supersportler stammen, doch die fehlende Einstellmöglichkeit macht deutlich, daß das einigermaßen komfortabel abgestimmte Teil hier einen anderen Job zu erledigen hat. Das über ein Hebelsystem angelenkte Zentralfederbein läßt sich immerhin in der Federbasis siebenfach verstellen, was an seiner grundsätzlichen Härte aber praktisch nichts ändert – irgendwie muß die mächtige Masse ja am Boden gehalten werden, 348 munter schwingende Kilo wären nicht wirklich eine Alternative.
Die recht ordentlich verarbeitete Suzuki Intruder M 1800 R ist in Schwarz und Silber lieferbar. Sie kostet 12990 Euro (plus Nebenkosten), was für Powercruiser-Verhältnisse eher günstig ist. Wer kein Problem mit verchromtem Plastik und barocken Formen hat, bekommt mit ihr einen Hingucker, der jede Menge Superlative zu bieten hat, nicht nur im Stand mächtig Spaß macht und sich erfrischend vom übrigen Cruiser-Einerlei unterscheidet. Wer 125 Euro weniger ausgeben möchte und auf den Zusatz „Power” verzichten kann, bekommt einen American Star. Kein Wrack, sondern den bestverkauften Big Twin im Harley-Programm: Die Street Bob. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.