aus bma 12/04

von Klaus Herder

Suzuki GSX-R 600Ehemalige Arbeitskollegen oder Urlaubsbekanntschaften zufällig wieder zu treffen, hat oft etwas ziemlich Frustrierendes. Auf den gut gemeinten Einstieg „Mensch, wie lange ist das wohl her, daß wir uns zuletzt getroffen haben – zwei Jahre?” bekommt man womöglich ein etwas pikiertes „Nö, das ist schon sieben Jahre her, du wolltest dich doch melden.” zurück. In solchen Situationen fühle ich mich in zwei Erkenntnissen bestätigt. Erstens: Zeit ist nichts Lineares. Zweitens: Ich muß mir wirklich alles aufschreiben.
Ähnlich erging es mir, als im Rahmen der bma-Themenfindung über die Suzuki GSX-R 600 stolperte: „Muß so um die zwei, drei Jahre her sein, daß wir was gemacht haben.” Nicht ganz. Im Oktober 1997 war’s. Suzuki hatte als letzter japanischer Anbieter ein Arbeitsgerät für die Supersport-Klasse vorgestellt. Die kleine GSX-R war praktisch ein Nebenprodukt der GSX-R 750-Entwicklung. Mein Fahrbericht endete damals mit den Worten „Die Suzuki ist im Reigen der 600er-Sportler die mit Abstand gewöhnungsbedürftigste Maschine, ein absolut kompromissloses Brenneisen.” Das ist nun über sieben Jahre her, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich die GSX-R 600 in der Zwischenzeit völlig aus den Augen verloren hatte.

 

Zu meiner Ehrenrettung sei aber auch gesagt, daß das auch ganz anderen Leuten und vor allem den potentiellen Kunden genauso ging. Und dafür gab es Gründe: Die 97er-GSX-R 600 war ein ziemlicher Flop, im mittleren Drehzahlbereich zu schwachbrüstig und mit ihrer nur schwer berechenbaren Leistungsabgabe auch ziemlich nervig, dazu noch einigermaßen unhandlich. Der zumindest motormäßig erstarkte 1998er-Jahrgang ging dann wenigstens auf der Rennstrecke spürbar besser, war für den Alltagsbetrieb aber immer noch nicht so richtig prall. 2001 überarbeitete Suzuki die GSX-R 600 komplett: neuer Motor mit Einspritzanlage, neuer Rahmen, neue Verkleidung, elf Kilogramm leichter. Wer das optimale 600er-Feuerzeug haben wollte, griff zur Kawasaki ZX-6R; wer den Allrounder suchte, wurde mit der Yamaha YZF-R6 glücklich; und wenn denn unbedingt Honda am Tank stehen sollte, hatte man die angenehme Qual der Wahl zwischen CBR 600 F und CBR 600 RR. Und Suzuki? Wuselte irgendwo im Supersport-Niemandsland herum. Aber da man in Hamamatsu zwischen alter und neuer GSX-R 1000 anscheinend noch etwas Entwicklungskapazität hatte, gab es für 2004 die vierte Auflage der GSX-R 600 – und immerhin die zweite, die im bma stattfindet. In sieben Jahren ist die 600er sechs Kilogramm leichter und 14 PS stärker geworden. Im direkten Vergleich zum Vorgängermodell lauten die Erfolgswerte: zwei Kilogramm und vier PS. Das klingt vielleicht nicht sehr beeindruckend, zeigt aber recht deutlich, wie extrem dünn die Luft in der Supersport-Klasse geworden ist. Während der normale Suzuki-Fahrer gerade mal ein verlängertes Wochenende mit etwas mehr Bewegung und etwas weniger Bier benötigt, um läppische zwei Kilo abzuspecken, mußten die Suzuki-Techniker ganz tief in die Trickkiste greifen, um einen Diät-Erfolg vermelden zu können.
Suzuki GSX-R 600Wie das bei Japanern so üblich ist, blieb mal wieder kein Stein auf dem anderen, die Leichtbau-Manie trieb manchmal seltsame Blüten. Beispiele gefällig? Die Zylinderkopfschrauben des aktuellen Modells sind im Vergleich zum 2001er-Jahrgang jeweils 3,5 Gramm leichter – macht sensationelle 35 Gramm Gesamtersparnis. Bei den Kolben konnten pro Stück üppige 18 Gramm gespart werden – das sind zusammen 72 Gramm. Bei den Ventilen wechselte Suzuki von Stahl auf Titan – unterm Strich 44,8 Gramm weniger auf der Einlass- und 35,2 Gramm weniger auf der Auslass-Seite. Die beiden Nockenwellen sind jetzt immerhin 45 bzw. 35 Gramm leichter als zuvor. Klingt alles etwas albern? Mag sein, aber gerade bei den rotierenden Teilen zählt jedes Gramm weniger nicht nur doppelt, sondern x-fach. Heraus kam nämlich eine um immerhin 1350 Umdrehungen höher als zuvor angesiedelte Maximal-Drehzahl. Der rote Bereich des Drehzahlmessers beginnt jetzt erst bei 15.500 U/min, die Nennleistung von 120 PS liegt bei klassenüblichen 13.000 Touren an. „Alles klar, die Kiste ist eine noch schlimmere Luftpumpe als zuvor. Unten herum geht gar nichts, oben alles!”, so vielleicht die erste Reaktion des mit Halbwissen geschlagenen Stamm-tischtechnikers. Denkste! Doch der Reihe nach: Bereits die erste Sitzprobe ist eine angenehme Überraschung. Der um 1,5 cm kürzere und drei centimeter schmalere Tank schafft völlig neue Freiräume. Der Fahrer rückt etwas näher Richtung Lenker, die Sitzposition ist dabei immer noch recht kompakt, aber viel entspannter als zuvor. Die ausgeprägte Tank-Taille erlaubt einen nahezu perfekten Knieschluß und ermöglicht problemloses Kurventurnen, bei den Vorgängermodellen mußten sich die Fahrer immer etwas zu lang machen und etwas zu breitbeinig sitzen. Menschen bis 1,90 Meter Gesamtlänge sind auf der Suzuki erstaunlich bequem untergebracht, 825 Millimeter Sitzhöhe passen für alle über 1,65 Meter. Die neue Freiheit wurde mit nur noch 17 statt bislang 18 Litern Tankinhalt erkauft – es ist die Sache wert. Der Blick fällt aufs komplett neue Cockpit. Der analog anzeigende Drehzahlmesser ist nun schwarz statt weiß unterlegt, die Kontroll-Lampen sind neuerdings ins Instrument integriert. Der digital anzeigende Tacho wanderte etwas nach oben und ist nun besser zu erkennen. Einen für echte Heizer unglaublich wichtigen Schaltblitz hat nun auch die GSX-R 600 serienmäßig.
Suzuki GSX-R 600Angelassen wird ohne Choke-Fummelei, eine Startautomatik machts möglich. Warmlaufphase? Nicht zu spüren, der flüssigkeitsgekühlte Vierzylindermotor nimmt ab dem ersten Moment sehr sauber Gas an. Das kernige Grollen, das im unteren und mittleren Drehzahlbereich der ebenfalls neuen Vier-in-eins-Anlage (Alu-Hülle mit Titan-Innereien) entweicht, hört sich nach deutlich mehr als 600 Kubik an. Bereits ab 3.000 U/min schiebt die vollgetankt 193 Kilogramm leichte GSX-R überraschend flott voran, von Schwachbrüstigkeit im Drehzahlkeller keine Spur. Dafür verantwortlich dürfte die von einem neuen, schnelleren Rechner (32 statt 16 Bit) gesteuerte Einspritzanlage sein. Zusammen mit dem bei Suzuki bewährten Doppel-Drosselklappensystem (eine vom Fahrer, die andere vom Rechner gesteuert) und neuen Einspritzdüsen ist so stets eine optimale Kraftstoffversorgung sicher gestellt. Unglaublich weich geht die GSX-R ans Gas, da nerven keine Lastwechselreaktionen, selbst ganz enge Kehren lassen sich mit ihr ohne Gasgriff- und Kupplungszauberei locker bewältigen. Die Kupplung ist ohnehin sehr gut zu dosieren und mit nur wenig Kraftaufwand zu bedienen. Etwas knackiger geht es beim Getriebe zu, doch wer konzentriert arbeitet, kann schnell und exakt durch die sechs Gänge steppen.
Wer es unbedingt wissen will, ist mit der Suzuki aus dem Stand in 3,2 Sekunden auf Tempo 100. Das können alle anderen Supersport-600er eigentlich auch. Was sie allerdings nicht ganz so gut wie die Suzuki können, fällt unter die Rubrik Durchzug. Egal, ob von 60 auf 100 oder von 140 auf 180 km/h – immer hat die GSX-R 600 die Nase vorn, der kürzeren Übersetzung und dem Punch im mittleren Drehzahlbereich sei Dank.
So ab 8500 U/min gibt es bei der Suzuki noch eine Extra-Portion Dampf. Das Zünden des Nachbrenners geht mit einem Wechsel des Soundprogramms einher. Plötzlich macht die 600er das, was man von einer hochdrehenden 600er erwartet: sie kreischt, und zwar ziemlich bissig. Wer die Kordel bis zum Anschlag zieht und den Drehzahlbegrenzer so irgendwo bei 16.000 U/min zupacken lässt, ist laut Werksangabe mit 255 km/h unterwegs.
Suzuki GSX-R 600Deutlich mehr Spaß macht es mit der Suzi aber natürlich auf gut ausgebauten Landstraßen. Die neue Up-side-down-Gabel von Showa ist ein ziemlich feinfühliges Teil, das Zentralfederbein vom gleichen Hersteller gehört zur etwas kernigeren Fraktion. Beide Federelemente sind komplett einstellbar und decken den Bereich vom Renntraining bis zum gemütlichen Landstraßen-Sonntagsausflug recht ordentlich ab. Dem Rahmen ging es bei der umfangreichen Modellpflege natürlich auch ans Alu-Profil. Dabei war Gewichtsersparnis ausnahmsweise kein Thema. Das Gebälk sollte noch etwas stabiler und auf noch etwas mehr Handlichkeit ausgelegt werden. Ein etwas steilerer Lenkkopfwinkel und ein entsprechend geringerer Nachlauf kamen dabei heraus. Die Schwinge legte sogar noch etwas an Masse zu, denn neuerdings wird sie von einem Oberzug verstärkt. Die Operation war ein voller Erfolg, denn die neue GSX-R 600 ist tatsächlich spürbar handlicher als ihre Vorgängerinnen und läuft dabei doch weiterhin spurstabil und zielgenau. Wird beim herzhaften Gasaufreißen die Front tatsächlich mal etwas zu leicht, erstickt der serienmäßige Lenkungsdämpfer jedes Lenkerschlagen im Keim. Um überschüssige Bewegungsenergie kümmern sich neue Bremszangen, natürlich radial verschraubt, die über eine ebenfalls neue Handpumpe (radial!) betätigt werden. Die beiden vorderen Bremsscheiben messen nun 300 statt 320 Millimeter, sind dafür aber einen halben Millimeter dicker. Bevor wir es vergessen: Das brachte insgesamt 40 Gramm Gewichtsersparnis. Die Stopper packen nicht ganz so brutal wie die einer ZX-6R zu, verzögern aber immer noch in der allerersten Bremsen-Liga und sind abseits der Rennstrecke sogar die bessere Wahl. Beim Reifenformat tat sich ausnahmsweise nichts: 120/70 ZR 17 vorn, 180/55 ZR 17 hinten – Schuhgrößen, die die meisten vergleichbaren Sportler tragen. Die Haftungsgrenzen der montierten Bridgestone BT 014 wird der Straßenfahrer im Normalfall nicht ausreizen können, die Gummis kleben wirklich extrem.
Überhaupt ist die neue GSX-R 600 auch im Alltagsbetrieb eine überaus angenehme Partnerin. Das fängt bei der erstaunlich gut schützenden Verkleidung an, geht beim ordentlichen Licht (zwei Scheinwerfer übereinander statt nebeneinander) weiter und hört beim moderaten Verbrauch von unter fünf Litern auf der Landstraße noch nicht auf. Ungeregelter Kat plus Sekundärluftsystem sind an Bord. Wirklich soziustauglich ist die GSX-R 600 zwar immer noch nicht, doch das interessiert bei dem in schwarz, blau/weiß und gelb lieferbaren Feuerzeug vermutlich ohnehin niemanden. Die Suzuki hat einen Listenpreis von 9690 Euro zzgl. Nebenkosten und liegt damit auf dem Niveau der Konkurrenz. Sie ist im direkten Vergleich mit den Wettbewerbern viel weniger extrem als zu Beginn ihrer Karriere. Vor sieben Jahren war die GSX-R 600 ein ziemlich gewöhnungsbedürftiges Gerät. Heute ist sie nicht weniger sportlich, ganz im Gegenteil, dafür aber viel einfacher zu fahren und so ganz nebenbei auch noch leichter, stärker und handlicher. Das Wiedersehen mit ihr hat mir mächtig viel Spaß gemacht, was man von Treffen mit Ex-Kollegen oder Urlaubsbekanntschaften nicht immer sagen kann.