bma 10/03

von Klaus Herder

Suzuki GSX-R 1000Es geht hier um ein frei verkäufliches und zulassungsfähiges Motorrad, das für den Sprint von 0 auf 200 km/h nur etwas mehr als sieben Sekunden benötigt, das in unter neun Sekunden von 50 bis 180 km/h durchzieht, ohne dass der Schalthebel berührt werden muss, und das jenseits der 250 km/h immer noch kraftvoll beschleunigt und erst bei 290 km/h Feierabend macht. Es geht um die 2003er-Auflage der Suzuki GSX-R 1000, und falls Sie nicht gerade zur Hardcore-Fraktion der Gebückten gehören, schütteln Sie jetzt vielleicht etwas befremdet mit dem Kopf. Sie haben Recht. Niemand braucht ein solches Motorrad wirklich – zumindest nicht jenseits der Rennstrecke.
Aber kommen wir doch kurz auf etwas völlig anderes zu sprechen: zum Beispiel auf Ihren neuen Heimcomputer. Auf dessen Rechnerleistung wäre die NASA noch vor wenigen Jahren mächtig stolz gewesen. Das Ding hätte vermutlich locker dafür gereicht, eine Apollo-Reisegruppe sicher zum Mond und wieder zurück zu leiten. Und was machen Sie mit dem PC? Steuererklärungen und Geburtstagseinladungen schreiben und etwas im Internet surfen. Die Waschmaschine Ihrer Frau (okay, fünf Euro in die Chauvi-Kasse) arbeitet übrigens mit einer Programmsteuerung, mit der vor gar nicht so langer Zeit Formel-1-Siege möglich gewesen wären. Und wie wird sie (die Waschmaschine natürlich) genutzt? Wie immer: 30 und 60 Grad im Normalprogramm. Einen habe ich noch: Ihr aktuelles Handy kann schätzungsweise 4800 Adressen verwalten, kennt 150 Sprachen und hat eine Schnittstelle, die Sie in 3,5 Sekunden mit der US-Küstenwache in Verbindung bringen kann. Sie telefonieren aber nur mit Mutti und Schatzi, haben maximal zehn Freunde, deren Adressen Sie sowieso auswendig kennen und halten Bluetooth für eine Zahnpasta.

 

Suzuki GSX-R 1000Worauf ich hinaus will: Technik um ihrer selbst willen fasziniert die Menschen seit je her. Das Gefühl, das leistungsfähigste Gerät zu besitzen, ist ungemein befriedigend und überhaupt nicht unanständig. Ob man das Potenzial dann auch tatsächlich nutzt, ist eigentlich völlig zweitrangig. Natürlich taugen ein PC, eine Waschmaschine oder ein Handy nur sehr bedingt dafür, sich oder andere gepflegt umzubringen, doch glauben Sie mir: Ein vom Sozialneid zerfressener Dauerstudent auf einer innerorts engagiert bewegten und technisch gut abgehangenen SR 500 ist für alle Beteiligten weitaus gefährlicher als ein 40-jähriger Genießer, der sich am Sonntagmorgen auf der Landstraße den GSX-R-Kick gönnt. So, Sie dürfen das Kopfschütteln nun einstellen, den mahnenden Zeigefinger waagerecht stellen und lesen, was es mit der neuen GSX-R so auf sich hat.
Neue GSX-R, wieso denn das? Die seit 2001 angebotene und in Deutschland 6000-mal verkaufte Ur-Kilogixxer (Was für ein dämlicher Kosename!) war doch schon der Überflieger in der Erwachsenen-Klasse: schneller als eine Honda-Fireblade, berechenbarer als die Yamaha R1 und deutlich günstiger als die großen Ducatis. Doch zwei modellpflegefreie Jahre sind im Supersportler-Oberhaus eine Ewigkeit. So ganz perfekt war die erste GSX-R 1000 dann ja auch nicht. Kein Katalysator, nur durchschnittliche Bremsen, keine optimale Sitzposition und Nachholbedarf in Sachen Handling. Zu viel Leistung und zu wenig Gewicht kann ein Supersportler ohnehin nicht haben. Kurz gesagt: Eine komplette Überarbeitung war absolut überfällig.
Das Auge fährt bekanntlich mit, und so ist es für die Designer bei jeder Modellpflege eine unglaubliche Gratwanderung, das neue Modell auch wirklich neu aussehen zu lassen, ohne dass die Vorjahreskunden allzu sauer reagieren. Die Suzuki-Verantwortlichen bewiesen ein recht glückliches Designer-Händchen: Die 2003er-Auflage ist unverkennbar eine große GSX-R und sieht trotzdem neu aus. Der schwarze Rahmen, das Dioden-Rücklicht und vor allem der nun vertikal montierte Doppelscheinwerfer machen auf den ersten Blick den Unterschied. Stichwort Scheinwerfer: Der neue Strahlemann samt Verkleidungsnase macht schwer auf Hayabusa, ist dann aber glücklicherweise nicht ganz so rüsselartig ausgefallen. Da die Lichtausbeute der Vorjahres-GSX-R ohnehin nicht so prall war, fällt’s der neue Lichtquelle leicht, sichtbar besser zu sein.
Suzuki GSX-R 1000 CockpitEs überrascht vermutlich wenig, dass unter der Kunststoffschale immer noch ein quer eingebauter und flüssigkeitsgekühlter Vierzylinder-Reihenmotor steckt. Bohrung und Hub (73/59 mm) sowie die Verdichtung (12,0:1) blieben unverändert, und auch der Ventiltrieb mit den beiden kettengetriebenen Nockenwellen und den Tassenstößeln ist immer noch der gleiche. Dass aus ursprünglich 160 PS nun 164 wurden, ist kleinster Kleinarbeit zu verdanken. So liegen die Ram-Air-Einlässe nun enger zusammen (dem Scheinwerfer sei Dank) und bekommen damit etwas mehr Druck. Im Kurbelgehäuse gibt’s nun zwischen den Zylindern Durchbrüche, die besonders bei sehr hohen Drehzahlen dafür sorgen, dass Pump- und damit Leistungsverluste verringert werden. Die Einspritzanlage bekam ein neues Steuerteil und Vier- statt Einloch-Einspritzdüsen spendiert. Die Nockenwellen mussten sich ebenfalls Änderungen gefallen lassen und das Kolbenlaufspiel fällt nun geringer aus. Die Nennleistung liegt wie bisher bei 10.800 U/min an, in Sachen maximales Drehmoment gab es eine leichte Steigerung von 110 auf 113 Nm bei 8400 U/min. Die ultraleichte Auspuffanlage besteht nun auch am Sammler aus Titan, bietet mehr Volumen und wiegt 300 Gramm weniger als bisher (komplett nur 6,3 Kilogramm). Und was noch besser ist: Endlich steckt ein Katalysator drin. Der ist zwar ungeregelt, aber zusammen mit dem auch schon bislang verbauten Sekundärluftsystem reicht es für zeitgemäße Abgaswerte. Und schließlich muss ja auch noch für die nächste Modellpflege Ziele haben.
Von Gewichtsersparnis war schon die Rede. Suzuki setzte wirklich alle Baugruppen auf Diät. Der besagte Scheinwerfer wurde leichter, die Motor-Innereien und der Auspuff ebenfalls. Sogar der Bremsanlage ging es an den Speck, doch der Kampf ums Gramm war dabei nicht das vorrangige Ziel. Die bislang von Sechskolben-Zangen in die Mangel genommenen 320-Millimeter-Scheiben wichen Vierkolben-Sätteln und 300-Millimeter-Scheiben. Die zierlichen Bremssättel sind nun radial, also nicht mehr parallel zur Radachse verschraubt, was zum einen unglaublich wichtig aussieht und „hip” ist, zum anderen aber die Verbindung zur Gabel steifer werden lässt. Im Rennsport macht man das seit geraumer Zeit auch so, also muss ja was dran sein. Das Rahmenheck geriet übrigens auch leichter. Alles zusammen macht zwei Kilo Gewichtsersparnis aus. Ein paar Gramm kamen wieder oben drauf (u.a. durch Querstreben in den Hauptrahmen-Profilen und durch den Kat), macht unterm Strich ein Kilo weniger. Aus vollgetankt 201 Kilogramm wurden 200 – vor gar nicht so langer Zeit wogen supersportliche 600er auch nicht weniger.
Suzuki GSX-R 1000 gestripptDen Unterschied zur Mittelklasse bemerkten GSX-R 1000-Treiber bislang bereits bei der ersten Sitzprobe. Das 2001er-Modell machte seinem Fahrer sehr schnell klar, dass 1,75 Meter Körperlänge das Mindestmaß für GSX-R-Nutzer waren. Kürzere Piloten mussten sich mächtig strecken und spürten nach verschärftem Einsatz Muskelpartien, deren Existenz ihnen bislang völlig unbekannt war. Die mit Körpereinsatz zu fahrende Ur-GSX-R 1000 verlangte halt den ganzen Fahrer. Das aktuelle Modell bunkert unverändert 18 Liter Superbenzin, doch der Tank fällt im Schenkelbereich deutlich schmaler aus und ist auch noch einen Tick kürzer. Die Sitzposition wurde dadurch spürbar menschenfreundlicher, die Fuhre lässt sich jetzt mit viel weniger Kraftaufwand ums Eck schwenken. Einen gehörigen Anteil daran haben sicher auch die Fahrwerksmodifikationen. 66,5 statt 66 Grad Lenkkopfwinkel und 91 statt 96 mm Nachlauf machen die vormals etwas sture GSX-R deutlich handlicher. Okay, ein hypersensibles Handlingwunder ist die Suzuki immer noch nicht, aber das ist bei gefühlten 160 PS am Hinterrad auch ganz gut so. Die GSX-R lässt sich wunderbar neutral und absolut zielgenau dirigieren und verzeiht dabei auch kleine fahrerische Unsauberkeiten. Lenkerschlagen ist der GSX-R dank serienmäßigem Lenkungsdämpfer völlig fremd. Die mit neuer Kohlenstoffbeschichtung noch besser ansprechende Upside-down-Gabel arbeitet perfekt. Das noch etwas straffer abgestimmte Zentralfederbein bietet unglaubliche Reserven und macht Zubehöranbieter arbeitslos. Was das Kayaba-Teil nicht schluckt, bleibt im weichen Sitzpolster hängen.
Die Tokico-Bremsanlage bietet den Nachrüstern dafür echte Chancen, denn die vier Einzelbeläge sind im Hinblick auf gute Alltagstauglichkeit eher defensiv abgestimmt und verdauen auch ungeplante Schreckbremsungen ohne Probleme. Wer aber als ausgewiesener Spätbremser brutal zupackende Beläge haben will, muss umrüsten. Bremsen-Referenz ist und bleibt die Honda Fireblade.
In Sachen Vortrieb blieb praktisch alles unverändert – unverändert mächtig. Ein Dreiganggetriebe würde eigentlich völlig reichen, dermaßen bärig zieht der Vierer durch. Wer nicht immer auf der letzten Rille unterwegs sein muss, kann den sechsten Gang im Dauereingriff lassen. Zwischen 3000 und 11.000 U/min geht alles im Letzten. Der kernig ansaugende und dezent-bärig auspuffende Vierzylinder ist in der Einliterklasse immer noch das Maß aller Dinge und eine perfekte Kombination aus unbändiger Kraft und bester Alltagstauglichkeit. Perfektes Startverhalten (neuerdings ohne Choke), sahnemäßige Gasannahme, überwältigender Durchzug, relative Sparsamkeit (deutlich unter sechs Liter auf der Landstraße) und das alles gepaart mit einer tollen Kultiviertheit und praktisch ohne lästige Vibrationen – der GSX-R-Motor ist einfach ein Gedicht.
Es war ganz sicher nicht einfach, aber die Suzuki-Techniker haben es geschafft: Die ohnehin schon sehr gute GSX-R 1000 ist noch besser geworden. Sie wurde sauberer, stärker, leichter, handlicher – und kostet mit 12.510 Euro trotzdem keinen Cent mehr als das Vorgängermodell. Wer sich das gute Stück gönnt, bekommt kein potenzielles Selbstmordgerät, sondern ein voll alltagstaugliches Stück Maschinenbau-Kunst, das unglaublich gelassen macht – und das nicht nur am Stammtisch, sondern auch auf der Straße. Bei diesem Motorrad gibt es keine zwei Meinungen darüber, dass die Grenzen der Fahrer und nicht das Gerät setzt. Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung dafür, nicht ständig Gefahr zu laufen, sich die Ohren abzufahren.