aus bma 10/99

von Marcus Lacroix

Die Markteinführung der Suzuki GSX 1300 R, mit bürgerlichem Namen Hayabusa, gehörte in diesem Jahr sicherlich zu einem der Highlights in der Motorradwelt. Zeitungen, Zeitschriften – auch die, die Motorräder sonst in keiner Weise beachten -, berichteten über sie; ja sogar die Boulevard-Magazine im Privatfernsehen stürzten sich in bekannt unseriöser Weise auf das Motorrad. Und warum die ganze Hysterie? Klar, jeder weiß es, die Hayabusa hat die 300 km/h Schallmauer für Serienmaschinen geknackt.
Ist die Hayabusa aber denn nun wirklich ein so aufregendes Motorrad, dass sich das Pressetrara gelohnt hätte? Oder ist Suzukis Topmodell und der 300 km/h-Rummel völlig überbewertet worden? Ein Suzuki-Vertragshändler stellte uns eine GSX 1300 R vertrauensvoll für mehrere Tage zur Verfügung, damit wir der Sache auf den Grund gehen konnten.
Zugegeben, ich konnte mich einer gewissen Anspannung nicht erwehren, als ich die Maschine übernahm. Noch niemals zuvor hatte ich ein Motorrad mit schier unglaublichen 175 Pferdestärken bewegt. Bei der Schlüsselübergabe kam die unvermeidliche Frage: „Und, willst Du die 300 versuchen? Denk dran, für echte 300 müssen rund 340 auf dem Tacho stehen. Geh’ abends auf die A28, die ist meistens frei genug dafür.”. Im Inneren wusste ich, dass ich es versuchen würde, vertrauensbildend war die Vorstellung dennoch nicht. 300 Kilometer in einer Stunde sind fünf Kilometer je Minute und 83,3 Meter je Sekunde – eine ganze Menge Holz.

 

Der erste Kontakt mit der Hayabusa fiel dann eher unspektakulär, ja fast enttäuschend aus. Das Design ist Geschmackssache, aber wie an jeden neuen Golf wird man sich auch daran gewöhnen. Der Auftritt der Maschine erinnert an einen Sporttourer vom Schlag einer Kawasaki ZZR 1100 oder der Honda Doppel-X, die Sitzposition fällt jedoch sportlicher aus. Die flache Sitzbank ermöglicht es dem Fahrer weit nach hinten zu rutschen und das Kinn auf den Tank zu legen. Wozu das nötig ist, wird jedem beim Anblick der Tachoskala klar sein. Sitzt man auf der Hayabusa so aufrecht wie möglich, werden die oberen Kontollleuchten und die Oberkante der Instrumente von der Verkleidungsscheibe verdeckt. Ansonsten liegen die Be- dienelemente und Anzeigen gut im Blickfeld. Lediglich die Digitalanzeigen hätten etwas größer ausfallen können.
Nach einem kurzen Druck auf den Starterknopf nimmt der 1300er Motor seine Arbeit auf. Der Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor wird über eine Einspritzanlage befeuert, die theoretisch einen geregelten Katalysator ermöglichen würde. Suzuki beließ es allerdings bei einem ungeregelten Kat plus Sekundärluftsystem.
Die hydraulische Kupplung lässt sich leicht betätigen, und im ersten der sechs Gänge rolle ich langsam vom Hof. Vor den Fahrspaß haben die Städtebauer leider die Stadt gesetzt, und so quäle ich mich zunächst durch die von Baustellen blockierten Ausfall- straßen. Die Sitzposition wird ermüdend, die Handgelenke flehen um Entlastung und der Motor pustet mir die warme Abluft gegen die Stiefel. Das Klima in deren Inneren beschreibe ich lieber nicht näher.
Schließlich erreiche ich die freie Landstraße und steigere das Tempo der Hayabusa. Auch hier gibt sich die Maschine völlig unspektakulär. Trotz ihres breiten 190er Hinterradreifens lässt sie sich leicht und zielgenau durch die norddeutschen Kurven steuern. Die Schräglagenfreiheit wird dabei nicht durch aufsetzende Fahrzeugkomponenten gestört, und der Fahrer kann die Landstraßenfahrt trotz des recht hohen Fahrzeuggewichts von rund 250 Kilogramm genießen. Die Federelemente sind sportlich, aber nicht unkomfortabel abgestimmt und der Oberkörper wird durch den Winddruck angenehm entlastet. Für letzteren Punkt ist die flache Verklei- dungsscheibe verantwortlich, die den Fahrer bei aufrechter Haltung nur wenig schützt. Bei einer Körpergröße von 176 Zentimetern liegt der Helm voll im Fahrtwind. Die Belästigung durch Turbolenzen ist entsprechend gering.
Die anfängliche Befürchtung, eine 175 PS-Rakete ließe sich nur unter ständiger hoher Konzentration bewegen, wurde glücklicherweise nicht bestätigt. Die Leistungsabgabe der Hayabusa geschieht gleichmässig und im Landstraßenbetrieb – hier ist es schon wieder, dieses Wort – unspektakulär. Erst wenn man zügiger am Quirl dreht, bekommt man einen vagen Eindruck von den schlummernden Kräften. Eine Beschleunigungsmessung von null auf 100 km/h könnte man im ersten Gang absolvieren, denn der reicht locker bis 120. Otto-Normalfahrer wird die zur Verfügung stehende Motorleistung aber kaum auf den Asphalt bekommen und eher mit aufsteigendem Vorderrad oder durchdrehendem Hinterrad kämpfen. Inte- ressanter, zumindest im tourensportlichem Einsatz, ist da schon der gute Drehmomentverlauf der GSX. Die Hayabusa lässt sich ausgesprochen schaltfaul fahren. Die 30 Kilometer, die ich jeden Tag zur Redaktion fahre, ließen sich fast vollständig im sechsten Gang fahren, eine 30 km/h-Zone eingeschlossen. Praxisgerecht ist der Versuch zugegebenermaßen allerdings nicht, dazu macht das Wechseln der Gänge im leicht schaltbaren Getriebe einfach zu viel Spaß, und echter Punch steht einem bei 30 im sechsten natürlich auch nicht zur Verfügung.
Positives lässt sich auch über die Bremsanlage berichten. Zwei Sechskolben-Zangen vorne und eine Zweikolben-Zange im Hinterrad bringen die Hayabusa jederzeit sicher zum Stehen. Spötter werden jetzt anmerken „ja, solange noch Platz zum Anhalten da ist”.
Mit dieser eleganten Überleitung komme ich zu dem, was den ganzen Alarm um die Suzuki überhaupt erst ausgelöst hat – die 300 km/h. Den Lästereien und Befürchtungen der Redaktionskollegen und Freunden zum Trotz wollte ich es wissen. Wie fühlen sich 300 km/h an und sind sie ein Kaufargument für die Hayabusa?
Die Stunde der Wahrheit begann an einem lauen Sommerabend gegen 21 Uhr. Ziel war die in der Nähe liegende Versuchsstrecke – auch bekannt als A29. An einer Ampel gesellte sich ein ZZR 1100 – Fahrer zu mir. Wir nickten uns zu und ich wusste, er würde mich begleiten. Irgendwie kam ich mir vor wie der Heizer Eugen Wendmann, dessen Buch „Am Limit” ich vor gar nicht langer Zeit erst gnadenlos verrissen habe. Auf der A29, ab Ahlhorner Dreieck, begann der Tanz. Die Bahn war relativ frei und so ließen wir die Maschinen laufen. Der erste Adrenalinschub kam bei Tempo 250, als uns ein kleiner Raubvogel nur knapp verfehlte. Lange Zeit, um über die potentielle Gefahr nachzudenken, hat man nicht – zum Reagieren noch viel weniger. Ich schalte in den sechsten Gang. Bei 270 nach Tacho gerate ich in einer Linkskurve, die man sonst kaum wahrnimmt, auf den Mittelstreifen. Die Maschine schwänzelt ganz leicht, die Nackenhaare kräuseln sich bis zu den Wurzeln, sonst passiert nichts. Auf der langen Geraden versenke ich meinen Kopf vollständig hinter der knappen Scheibe und gebe Vollgas. Der ZZR – Fahrer bleibt aufrecht sitzen und wird alsbald im Spiegel kleiner. 285 km/h zeigte sein Tacho zu diesem Zeitpunkt, wie er mir später verriet, die Nadel der Hayabusa etwa zehn weniger. Recht schnell klettert sie bis auf 320 km/h. Der Winddruck presst mir das Kinnteil meines Helmes bis an den Mund, obwohl ich auf dem Tank liege, und die Windgeräusche sind ohrenbetäubend. Bei am Horizont auftauchenden LKW’s bleibt nur der Wunsch, sie mögen doch bitte nicht ausscheren. Die Turbolenzen beim Passieren bringen erneut Unruhe ins sonst stabile Fahrwerk. Das gleiche passiert bei Bitumenstreifen, die längs der Fahrbahn aufgebracht sind. Der nicht unerhebliche Schlupf am Hinterrad, den man sonst nicht bemerkt, wird nun spürbar. Schnell wird einem bewusst, dass man der Maschine und der Umwelt ausgeliefert ist. Ein Grund die Geschwindigkeit zu drosseln – getreu dem Motto „mir passiert schon nichts” – ist es allerdings nicht. Die 340 km/h nach Tacho erreiche ich nicht mehr. Leid tut es mir nicht, denn so viel imposanter können die letzten 20 km/h auch nicht mehr sein.
An der Autobahnraste Huntetal treffe ich mich mit dem ZZR – Fahrer und wir unterhalten uns lange über Suzukis neuen Knaller, der leise vor Hitze tickernd neben uns steht. Auf der Lauffläche des Hinterradreifens haben sich eine Menge Gummiwürste gesammelt, die von der ungeheuren Belastung des 190ers zeugen. Der Verschleiß wird im wahrsten Sinne des Wortes spürbar. Die Endgeschwindigkeit, da sind wir uns einig, kann als Kaufargument ausgeschlossen werden. Die echten 300 km/h haben eher theoretische Bedeutung, denn alles jenseits der 250 km/h kann auf deutschen Autobahnen nur selten gefahren werden und ist außerordentlich anstrengend. Bewußtes Motorradfahren – mit Körper und Geist – ist jenseits dieser Geschwindigkeit kaum möglich. Allerdings hat das Gefühl, der Geschwindigkeit gnadenlos ausgeliefert zu sein, auch einen gewissen Reiz. In unserer Redaktion konnte und wollte diese Sinnesanwandlung allerdings niemand mit mir teilen. Unvorhersehbare Einflüsse – man stelle sich eine reissende Antriebskette oder einen platzenden Hinterradreifen vor – würden zu schnell das Ende von Ross und Reiter besiegeln. Wesentlich beeindruckender und als Kaufargument plausibler ist die Kraft, die dem Fahrer vom Motor in jeder Lage zur Verfügung gestellt wird. Wahrscheinlich ist es mit der Hayabusa so wie mit einem schnellen Sportwagen. Man könnte ja richtig schnell fahren, wenn man wollte – aber man will nicht. Unter diesem Aspekt werden die Käufer der rund 21.500 DM kostenden Suzuki GSX 1300 R Hayabusa sicherlich auch glücklich mit ihrer Maschine werden.
In meinen Augen wäre sie ein schöner Sporttourer vom Schlag der schon eingangs erwähnten Kawasaki ZZR 1100 und Honda Doppel-X, wenn Suzuki ihr nur eine andere Verkleidungsscheibe und einen höheren Lenker verpasst hätte. Der Zubehörhandel wird wahrscheinlich schnell reagieren und wenn die Hayabusa dann aufrecht sitzend keine 300 mehr läuft – was soll’s?! Schnell genug ist sie allemal und im nächsten Jahr will Kawasaki ja eh einen Hayabusa-Killer bringen. Wer sich auf das Wettrüsten einlässt, ist selbst schuld. Dass es am Ende nichts bringt, haben die Russen und die Amis ja schon bewiesen.