aus bma 12/99

von Klaus Herder

Kurze, schmächtige Menschen sind in Sachen Motorradfahren meist ziemlich gekniffen. Wo beim Pkw Servolenkung und Sitzverstellung fast jedes Auto für nahezu jeden Körperbau tauglich machen, gilt beim Motorrad seit jeher der Grundsatz „je kräftiger der Mensch, desto kräftiger die Maschine”. Ausnahmen bestätigen die Regel – im Normalfall sitzen auf 1200ern jedenfalls nur selten Fahrer unter einsachtzig und 90 Kilo Kampfgewicht.
Das kann sich in Zukunft jedoch ändern, denn im Bestreben um das Auffinden jeder noch so kleinen Marktlücke hat Suzuki mit der GSX 1200 das „Big Bike light” erschaffen. Und das war gar nicht mal so schwer, denn die meisten Bauteile lagen bereits in Hamamatsu im Regal. So zum Beispiel der luft-/ölgekühlte Vierzylinder-Reihenmotor, denn der wurde ursprünglich für die GSX-R 1100 konstruiert und machte später auch in der 1200er Bandit Karriere. Die Veränderungen am Bandit-Motor halten sich in engen Grenzen: 32er- statt 36er-Vergaser, eine andere Auspuffanlage – das ist es eigentlich schon, was den Vierventiler GSX-tauglich macht und für mehr Drehmoment und besseren Durchzug bei niedrigeren Drehzahlen sorgen soll.
Da die Bandit vielen Fans unverkleideter Motorräder immer noch zu modern aussieht, musste die Form GSX deutlich konservativer geraten, um neue Kunden zu gewinnen. Stereodämpfer statt Zentralfederbein, kleine Seitendeckel anstelle einer durchgehenden Seitenverschalung, Entenbürzel statt Stummelheck, dickes Benzinfass statt Stromlinien-Behälter, großes Vorderradschutzblech anstelle einer Mini-Radab- deckung – die GSX unterscheidet sich in nahezu allen formbestimmenden Details von ihrer Hubraum-Schwester. Und dennoch sind die Anbauteile alles andere als neu, denn die kleine Schwester GSX 750 sieht doch verdächtig ähnlich aus.

 

Die erste Sitzprobe auf der großen GSX lässt alle Sorgen verschwinden, dass eine 1200er vielleicht doch eine Nummer zu groß sein könnte. Nur 78 Zentimeter Sitzhöhe und eine weiche, an den Kanten stark abgerundete Sitzbank sorgen dafür, dass auch kurzbeinige Menschen sicheren Stand finden. Der 18 Liter-Tank erlaubt einen engen Knieschluss, und der gut gekröpfte Lenker ist nah genug montiert, um auch von kurzen Armen und kleinen Händen sicher erreicht zu werden. Wer nicht mit Riesenpranken gesegnet ist, freut sich auch über den sechsfach verstellbaren Handbremshebel. Der Verstellbereich der Spiegel wurde ebenfalls so gewählt, dass kleine wie große Menschen gleich gut zurückblicken können. Die Fahrerfußrasten sind relativ weit hinten angebracht, was in Verbindung mit der niedrigen Sitzhöhe zu einer leicht sportlichen, aber nicht unbequemen Beinhaltung führt. Platz für einen Sozius gibt’s auf der Bank genug. Ein stabiler Haltebügel macht einen allzu engen Kontakt zum Fahrer entbehrlich und leistet auch beim Rangieren gute Dienste. Die Soziusrasten sind allerdings konstruktionsbedingt (irgendwo muss der Edelstahl-Auspuff ja bleiben) zu hoch montiert und (dafür gibt’s keine Entschuldigung) viel zu klein geraten.
Der Chokehebel ist lenkerfest angebracht, und die GSX braucht beim Kaltstart auch etwas Gasunterstützung. Die Gasannahme ist bereits auf den ersten Metern sehr spontan. Ist der Vierzylinder auf Betriebstemperatur gebracht, darf er beim Sprint zeigen, was in ihm steckt. Und das ist dann der Moment, in dem einem unvermittelt klar wird, dass man eben doch auf einem Big Bike mit deutlich über einem Liter Hubraum sitzt. In Zahlen: von 0 auf 100 km/h in exakt drei Sekunden. Probiert es mal trocken aus: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig – 100! Nun ist diese Übung innerorts ja eher selten gefragt, und auch außerorts nur von theoretischer Bedeutung. Interessanter sind da schon die Durchzugswerte. Doch auch die stimmen. Das sieht dann in etwa so aus: Wir passieren das Ortsschild mit Tempo 60, zählen von 21 bis 24, und ab jetzt ist zumindest auf der Landstraße alles streng illegal.
Auf dem Papier leistet der Reihenvierer 98 PS bei 8500 U/min, im wahren Leben sind aber garantiert noch mehr Pferdestärken vorhanden. Die 98 Nm maximales Drehmoment sollen bei 4500 U/min anliegen. Ab 3000 U/min und bis 8000 U/min können es aber nur unwesentlich weniger sein. Die GSX bläst im Kreis der Hubraumriesen also ziemlich kräftig mit, aber noch eindrucksvoller als die reinen Messwerte ist die Art und Weise, mit der die GSX voranstürmt. Der Motor läuft turbinenartig – keine ausgeprägte Leistungsspitze, kein Leistungseinbruch, ab 2000 U/min geht es mit unerhörter Lässigkeit, ja fast schon Arroganz einfach nur noch sehr, sehr flott voran.
Im Vergleich zur Bandit gibt’s bei der GSX kaum spürbare Vibrationen, ihre Lebensäußerungen fallen sehr zurückhaltend aus. Wer auf große Show mit Radau, Burnout und Vorderrad in der Luft steht, wird mit der soften Art der GSX wenig anfangen können. Die GSX ist etwas für ruhige Genießer, die den souveränen Auftritt eines Zehnkämpfers dem aufgeblasenen Getue eines Bodybuilders vorziehen.
Zur Belohnung gibt’s neben den tollen Fahrleistungen auch noch Fahrspaß in Bereichen, wo andere Wuchtbrummen oft gar nicht mehr so gut aussehen. Im engen Kurvengeschlängel zum Beispiel.
Die Handlichkeit der vollgetankt nur 233 Kilogramm wiegenden GSX 1200 erinnert nämlich eher an eine leichtfüßige 750er. Ohne Probleme lässt sie sich zügig von einer Kehre in die nächste werfen und bleibt dabei jederzeit gut berechenbar und fahrstabil. Neben der verhältnismäßig geringen Masse und der geglückten Fahrer-Sitzposition hat auch sicher die glücklich – weil nicht zu breit – gewählte Bereifung im Format 120/70 ZR 17 vorn und 170/60 ZR 17 hinten einen gehörigen Anteil am agilen Fahrverhalten.
Die Federelemente der GSX sind komfortabel abgestimmt. Für’s Experimentieren taugen nur die beiden Showa-Federbeine, die Veränderungen bei der Federvorspannung und der Druckstufendämpfung zulassen. An der konventionellen Telegabel lässt sich nicht herumspielen, was zumindest der Normalfahrer nicht als Nachteil empfinden wird. Nur wenn es auf miesem Belag sehr zügig vorangeht, kann unter Umständen eine leichte Unruhe ins Gebälk kommen. Die Federelemente kommen dann mit der Dämpfung nicht mehr nach, das Heck kann sich auf langen Wellen etwas aufschaukeln. In 99 Prozent aller Betriebssituationen geht die Fahrwerksabstimmung aber als geglückt und voll alltagstauglich durch.
Das gilt auch für die Bremsanlage. Die vorderen Brembo-Stopper sind kräftig im Biss und ordentlich zu dosieren. Die hintere Einzelscheibe dürfte ruhig noch etwas zupackender agieren, als gute Unterstützung reicht’s aber allemal.
Mit rund sechs Litern Normalbenzin kommt man im Alltagsbetrieb auf 100 Kilometern gut aus. Wer es richtig fliegen lässt, muss in der Spitze mit acht Litern rechnen. Die serienmäßige Tankuhr zeigt erstaunlich genau an. Wer ihr dennoch nicht traut, kann sich auf die Reserveschaltung des Benzinhahns verlassen.
Die Verarbeitung ist besser als das dazugehörige Suzuki-Image, nur bei der Lackierung hätte es eine etwas widerstandsfähigere Qualität sein dürfen.
Abblend- und Fernlicht scheinen eher trübe, dafür ist beim günstigen Kaufpreis von 15.230 Mark wieder Sonnenschein angesagt. Das ist auch ziemlich exakt der Tarif, der vor dem offiziellen Import für die von freien Importeuren ins Land gebrachte Inazuma (japanisch für „Blitz”) verlangt wurde. Die offiziell importierte GSX darf nicht mehr so heißen, da die Namensrechte hierzulande bereits anderweitig vergeben sind.
Doch egal ob Inazuma oder GSX – diese 1200er ist ein Motorrad, das die Vorteile verschiedener Kategorien vereint: Aussehen, Image und Fahrleistungen einer 1200er, Masse und Handlichkeit einer 750er und Kurzgewachsenen-Tauglichkeit einer 500er.