aus bma 10/02

von Bernhard Hübner

Die Qual der Wahl – 2002 ist das Wahljahr. Alles wird anders, sagen die einen, oder auch nicht, behaupten die anderen, je nach Standpunkt. Naja, auf das Wahlergebnis wollen wir an dieser Stelle nicht eingehen, und auf die Wahlversprechen schon gar nicht. Zur Wahl stehen aber auch ganz andere Dinge, und das nicht nur 2002.

Die Qual der Wahl...

Da ist zum Beispiel der neue Suzuki-Roller Burgman 650. Die Burgman-Baureihe wurde kontinuierlich nach oben ausgebaut. Einige Jahre sah es so aus, als seien 250 Kubik die Obergrenze für Motorroller. Als erster Hersteller setzte Suzuki sich über das selbst gewählte Limit hinweg und brachte den Burgman 400. Natürlich ließ die Antwort aus Fernost und Europa nicht lange auf sich warten. Roller mit kraftvollen 500 und 600 ccm-Ein- oder Zweizylindern gehören seit 2001 zum Programm von Aprilia, Piaggio, Honda und Yamaha. Suzuki hat nun noch einen draufgesetzt und bringt den Burgman 650.

 

 

Dieser Roller setzt in jeder Hinsicht neue Maßstäbe. 238 Kilogramm Trockengewicht kannte man bisher nur von ausgewachsenen Tourenmotorrädern (Kawasaki ZZ-R 1200: 236 kg), und auch die Abmessungen sind recht üppig ausgefallen. Mancher Kleinwagen kann sich beinahe hinter dem Burgman 650 verstecken.
Burgman 650Vorbildlich sind die mit integrierten Blinkern versehenen Rückspiegel. Sie befinden sich unterhalb des Lenkers und bieten daher eine fast hundertprozentige Sichtfläche. Das Betrachten der eigenen Ärmel fällt beim Burgman aus, nur im obereren Bereich sind die Fingerspitzen sichtbar. Und ein Extralob gibt es dafür, dass die Spiegel einklappbar sind, was beim Einparken in der Garage jede Menge Platz spart und wohl auch manchen Kratzer verhindert.
Die Besatzung findet ein üppiges Sitzpolster vor, und für den Fahrer gibt es eine kleine, per Arretierung verstellbare Rückenlehne. Kritik müssen sich die die Sozius-Trittbretter gefallen lassen, denn die hätten gerne etwas mehr Aufstellflächeläche haben können. Reichlich Informationen bietet die LCD-Kommandozentrale. Tacho und Drehzahlmesser, Zeituhr und zwei Tripmaster sowie eine Ganganzeige für manuelle Schaltvorgänge, wie man sie sich auch bei Motorrädern wünscht, und selbstverständlich auch Benzinuhr und Temperaturanzeige informieren den Fahrer über alles, was er wissen muss. Die hohe Verkleidungsscheibe ist übrigens nicht verstellbar, obwohl die Art der Halterung optisch einen solchen Eindruck vermittelt. Auch sonst kann sich die Ausstattung sehen lassen. Neben dem großen Staufach unter der Sitzbank (mit Beleuchtung!) besitzt der Burgman 650 ein großes, abschließbares, aber leider ziemlich zerklüftetes Fach, sowie zwei nicht abschließbare Handschuhfächer und eine Bordsteckdose. Das Zündschloss kann mit einer Spezial-Mechanik verschlossen werden, die verhindert, dass unfreundliche Mitmenschen sich daran zu schaffen machen.
Angetrieben wird der Burgman von einen 638 ccm großen, liegenden Reihenzweizylinder-Vierventilmotor mit zwei obenliegenden Nockenwellen und elektronischer Benzineinspritzung, der seine Höchstleistung von 41 kW (55 PS) bei 7000 U/min produziert. Zur Zeit ist das der Bestwert unter den Motorrollern, doch angesichts der zu bewegenden Fahrzeugmasse ist der Burgman damit auf keinen Fall übermotorisiert. Die Höchstgeschwindigkeit gibt Suzuki mit 160 km/h an. Für die Abgasreinigung ist ein geregelter Dreiwege-Katalysator in Verbindung mit einen Sekundär-Luftsystem zuständig, das die Nachverbrennung der Abgase regelt. Die Verbindung zum Hinterrad wird völlig wartungsfrei über Zahnräder hergestellt. Regelmäßige Wartungsintervalle sind alle 6000 Kilometer vorgeschrieben, und die Ventilspielkontrolle ist erst nach 24.000 Kilometern fällig.
CockpitEin absolutes Novum im Rollerbau ist das SECVT (Suzuki Electronically Controlled Continuously Variable Transmission)-Getriebe, das dem Fahrer die Wahl lässt zwischen manueller Schaltung per Knopfdruck und Automatikgetriebe. Derartige Getriebe fanden bisher nur im Automobilbau Verwendung. Dafür steht dem Fahrer am linken Lenkerende eine beachtliche und manchmal verwirrende Knopf-Vielfalt zur Verfügung. Neben den herkömmlichen Knöpfen für Hupe, Lichthupe, Abblend- und Fernlicht sowie Blinker sind dort der Wahlschalter für Automatik- und Schaltgetriebe untergebracht. Dazu kommen die beiden Schaltknöpfe fürs Hoch- und Runterschalten der fünf Gänge sowie die Power-Taste. Dieser Modus funktioniert nur im Automatik-Betrieb und setzt zusätzliche Kräfte frei, indem die Schaltdrehzahl angehoben wird. Einsparungen wurden hingegen auf der rechten Seite vorgenommen. Dort befinden sich nur Anlasser, Warnblinker und Not-Aus-Schalter. Einen Ein- und Ausschalter fürs Licht gibt es nicht.
Während sich dem Flachland-Bewohner die Vorteile einer manuellen Schaltung nicht auf Anhieb erschließen (es sei denn, er legt Wert auf maximale Beschleunigung), so wird doch spätestens bei Fahrten durch hügelige Landschaften klar, dass die Konstrukteure nicht nur dem Spieltrieb der Kundschaft Rechnung tragen wollen, sondern dass die freie Gangwahl bei Bergauf- und -abfahrten sehr vorteilhaft sein kann. Schaltet man bei höherem Tempo, sagen wir mal 130 km/h, von Automatik auf manuell, so erhöht sich die Drehzahl gleich um etwa 500 U/min im fünften Gang. Das bedeutet: Automatik = Energiesparmodus. Manch durchgeknallter Zeitgenosse wird aber sicher die Burn Out-Tauglichkeit der Daumenschaltung zu schätzen wissen.
Das Mischpult.Gestartet wird wie bei jedem Motorroller mit einer angezogenen Bremse. Das „D” im Display signalisiert dem Fahrer, dass sich das Fahrzeug im Automatik-Modus befindet. Auffällig ist, dass der Burgman 650 im Gegensatz zu anderen Großrollern weniger Selbstdisziplin vom Fahrer fordert, denn während sich bei stufenlosen Automatikgetrieben in der Beschleunigungsphase alles in einem bestimmten Drehzahlbereich abspielt, finden beim neuen Suzuki-Großroller akustisch und per Drehzahlmesser auch optisch wahrnehmbahre Schaltvorgänge statt. Dadurch schießt man nicht so leicht ungewollt übers staatlich verordnete Tempolimit hinaus. Da Suzuki dem Motor zwei Ausgleichswellen eingepflanzt hat, geht es ganz ohne Vibrationen zügig vorwärts. Zweifel am Motor kommen dem Fahrer nur vor der Ampel, wenn er glaubt, einen LKW im Nacken zu haben. Denn im Stand klingt das Triebwerk eindeutig nach einem Dieselaggregat.
Trotz des hohen Fahrzeuggewichts geht es mit dem Burgman flink ums Eck. Rasante Schräglagen mit schnellen Wechseln steckt er dank seines tiefen Schwerpunkts locker weg, ohne dass ein rollertypisch kippeliges Fahrverhalten auftritt. Der stabile Gitterrohrrahmen und die Federelemente mit der 41 mm starken Telegabel vorne sowie den zwei fünffach verstellbaren Federbeinen hinten haben alles sicher im Griff. Das gilt auch für die Bremsen. Vorne ist der Großroller mit zwei 260mm-Bremsscheiben ausgerüstet, die von einer 250mm-Scheibe hinten wirkungsvoll unterstützt werden. Wirkungsvoll deshalb, weil die Hinterradbremse bei Motorrollern einen erheblich größeren Anteil an der Verzögerung hat als bei Motorrädern. Die Federwege mit 105 Millimetern vorn und 100 Millimetern hinten liegen im Sportlerbereich. Unebener Fahrbahnbelag lässt sich damit nicht einfach glattbügeln, doch wird der Burgman-Fahrer auch nicht ernsthaft mit irgendwelchen Oberklasse-Supertourern konkurrieren wollen. Der Windschutz hinter der breiten Rollerfront und der fast bis zur Nasenspitze reichenden Verkleidungsscheibe ist ausgezeichnet, doch hätten wir uns während der hochsommerlichen August-Temperaturen ruhig etwas mehr Frischluftzufuhr ge- wünscht.
Der Motor.Die beiden Bremshebel sind selbstverständlich einstellbar, und das gleich sechsfach. Dass es sich beim Burgman um einen Roller und nicht um ein Motorrad handelt, wird im Hochgeschwindigkeitsbereich ab etwa 150 km/h deutlich. Leichtes, aber nicht Besorgnis erregendes Pendeln gibt dem Fahrer in langen Autobahnkurven zu verstehen, dass er auf relativ kleinen Rädern (vorne 120/70 R 15, hinten 160/60 R 14) unterwegs ist.
Wenn die Kraftstoffanzeige nach etwa 220 Kilometern baldige Ebbe im 15 Liter-Tank signalisiert, sitzt der Fahrer immer noch bequem in seinem Polster. Laut Fahrerhandbuch fängt das Tanksymbol bei 1,5 Litern Restmenge an zu blinken. Bei unserem Exemplar, das uns der Scheeßeler Suzuki-Vertragshändler Leo’s Suzi-Shop freundlicherweise bei schönstem Wetter für diesem Fahrbericht zur Verfügung gestellt hat, passten bei vorschriftsmäßiger Betankung exakt 11,16 Liter hinein. Das macht einen Verbrauch von 5 1/4 Litern Normalbenzin. Also wäre noch Reserve für weitere 60 Kilometer vorhanden gewesen. Ausreizen sollte man das Tankvolumen lieber nicht, denn bedingt durch das Wechselgetriebe lässt sich der Burgman 650 nur mit äußerster Mühe schieben (hier drängt sich wieder der Vergleich zum Kleinwagen auf). Betankt wird der Burgman über eine Tankklappe im Fahrzeugheck. Das ist auf jeden Fall mehr praxisorientiert als die oftmals im Fußraum untergebrachten Tankeinfüllstutzen, deren Befüllung nicht immer ganz sauber abgeht.
Recht einfach macht es der Hersteller den Kunden bei der Wahl der Farben, denn es gibt nur zwei. Rot, Grün, Schwarz oder Gelb haben ihre Chance bereits an anderer Stelle gehabt. Der Suzuki Burgman 650 ist dagegen entweder in Dunkelblau oder in Silber für einen Listenpreis von 8790 Euro inklusive Nebenkosten zu haben. Das ist eine Menge Holz, aber dafür werden auch eine Menge Pluspunkte geboten. In Sachen Fahrspaß, Komfort und Ausstattung stehen Großroller, und unter diesen insbesondere der Burgman, den Motorrädern in nichts nach.
Weiß eigentlich jemand, warum keine Automatik-Motorräder mehr gebaut werden?