aus Kradblatt 08/22 von Oliver Erdmann

Ein magischer Anziehungspunkt

Ankunft - faszinierend sind die weißen Klippen
Ankunft – faszinierend sind die weißen Klippen

Bei einer Reise geht es nicht zuletzt darum, ein Ziel zu haben. Meins heißt diesmal „Land’s End“, allein der Name ist für mich schon ein Sehnsuchtsort. Der westlichste Zipfel Englands, danach nur noch das unendliche Blau des Atlantiks – da möchte ich hin. Mit dem Motorrad natürlich, denn den Winter haben wir längst hinter uns gelassen, die meisten Einschränkungen der Corona Pandemie zum Glück auch. Die Freiheit wieder in vollen Zügen genießen, den Fahrtwind spüren und die Gedanken fliegen lassen.

Ladungssicherung auf der Fähre
Ladungssicherung auf der Fähre

Meine Anreise nach Dünkirchen (Dunkerque) in Frankreich, von dort geht nämlich meine Fähre rüber auf die Insel, 750 km Autobahn von Hamburg durch die Niederlande und Belgien, ist wenig spektakulär. Eine Übernachtung in einem kleinen Hotel an der Promenade und ein Spaziergang zum Strand, dort wo im Zweiten Weltkrieg die Schlacht von Dünkirchen tobte und es den Alliierten gelang, durch die Operation Dynamo einen Großteil der in die Stadt geflüchteten britischen Truppen vor den Angriffen der deutschen Wehrmacht zu retten und nach England zu evakuieren. Dünkirchen wurde dabei fast komplett zerstört, viel Sehenswertes gibt es daher nicht.

Der nächste Morgen: Meine BMW R 1150 R steht fest verzurrt auf der Fähre von DFDS Seaways, ich stehe auf dem Oberdeck, in der Hand einen Kaffee und fühle die Morgensonne auf meinem Gesicht. Außer mir sind nur noch ein weiterer Motorradfahrer aus Tschechien und ein paar Radfahrreisende mit an Bord, natürlich auch die üblichen LKW und eine Handvoll Autos. Die Hauptsaison beginnt erst in ein paar Wochen.

Die weltberühmten weißen Kreidefelsen von Dover sind schon einige Seemeilen vor dem Anlegemanöver auszumachen und das erste, was ich von England sehe. Ein wunderschönes Panorama, besonders bei diesem Traumwetter, strahlender Sonnenschein und knapp 20 Grad.

Motorradtour Südengland

Daran, dass man in Großbritannien bekanntlich ja links fährt, habe ich mich schnell gewöhnt, für die Schilder mit den Geschwindigkeitsbegrenzungen und die unzähligen Kreisverkehre brauche ich allerdings etwas Konzentration. Wie war das noch mal mit der Umrechnung von Meilen in Kilometern? Ach ja, 1 zu 1,6. Ehrlicherweise musste ich das bei meinem ersten Tankstopp googeln. 

Das Navigieren ist dagegen denkbar einfach, es geht nämlich zunächst immer nur die Südküste Englands entlang Richtung Westen. Ich möchte einen Eindruck der bekannten Seebäder gewinnen. Ab und zu werfe ich einen Blick auf die Karte vor mir, kann aber gar nicht vom Kurs abkommen, solange das blaue Wasser über meiner linken Schulter schimmert. Anstatt mit Handy oder Navi arbeite ich gern mit Landkarten aus Papier. So bin ich gezwungen, mich mit den Ortsnamen und Gegebenheiten der realen Welt auseinanderzusetzen und weiß immer, wo ich gerade bin – und nicht nur, wo das Display mich hinlotsen möchte.

Südengland - Eine Landschaft wie im Film
Eine Landschaft wie im Film

Eine Weile lasse ich mich durch die wunderschöne, flache, sehr grüne Landschaft und die leichten Kurven treiben. Mehr geht nicht. Oder doch?

Brighton. Das bekannteste der englischen Seebäder erreiche ich nach ungefähr 150 Kilometern und drei gemütlichen Fahrstunden. Aber anstelle eines mondänen Badeortes mit typisch britischem Understatement erwartet mich am Palace Pier eine Mischung aus übervoller Partymeile und Jahrmarkt. Menschenmassen schieben sich hinaus auf die lange Seebrücke mit ihren vielen Fahrgeschäften und Buden. Kein Wunder, es ist Samstagnachmittag bei herrlichstem Wetter. Eine Weile versuche ich noch irgendwo ein Plätzchen für meine BMW zu ergattern, leider erfolglos. Kurzerhand entschließe ich mich, umgehend weiterzufahren. Dies ist ohnehin nicht das England, das ich entdecken wollte. 

Lustige, kleine Randnotiz: Statt wie in Deutschland üblich mit erhobener Hand, grüßen sich entgegenkommende Motorradfahrer hier durch ein seitwärts geneigtes Nicken mit dem behelmten Kopf. Sieht die ersten Male nicht nur etwas seltsam aus, ich brauche auch ein paar Anläufe, um es genauso zackig hinzubekommen, wie meine englischen Bikerfreunde. 

British Breakfast - das reicht eine ganze Weile
British Breakfast – das reicht eine ganze Weile

Nachdem ich Brighton hinter mir gelassen habe, steuere ich schon mein Bed & Breakfast in Portsmouth an. Ein winziges Zimmer unter dem Dach, die Maschine muss ich notgedrungen auf dem schmalen Bürgersteig vor dem Haus abstellen, was mir gar nicht gefällt. Jeder Fußgänger muss sich daran vorbeidrängeln. An der weitaus ruhigeren Pier von Portsmouth hole ich mir als Abendessen an einem Stand die erste Portion Fish  ’n’ Chips meiner Reise, ein großes Stück frittiertes Fischfilet in einem Backteig mit einer Portion Pommes, eine Art Nationalgericht in England. Es wird nicht die letzte Mahlzeit dieser Art gewesen sein, kulinarisch gibt es sicherlich verlockendere Reiseziele.

Der nächste Tag startet mit Dauerregen, zum Glück steht wenigstens die BMW noch unversehrt vor der Tür. An der kleinen Autofähre zwischen Bournemouth/Poole und der Isle of Purbeck schüttet es schließlich wie aus Kübeln. Also, schnell rein ins kleine Fährcafé, erst mal einen Kaffee und ein „cornish Pasty“ bestellt. Die mit allerlei herzhaften Zutaten, wie zum Beispiel Rindfleisch, Kartoffeln und Steckrüben, gefüllte Pastete ist eine Spezialität im südenglischen Cornwall, sollte früher den Minenarbeitern Kraft für die anstrengende Arbeit im Untertagebau geben und wird traditionell mit der Hand gegessen. Dann Regenpelle übergezogen und weiter geht’s. Allein die Überfahrt mit der Kabelfähre auf der schmalen Shell Bay ist ein kleines Abenteuer für sich. Starker Wellengang zwingt mich permanent dazu, das Schaukeln auf dem Motorrad sitzend auszugleichen. Trotz der ständigen Dusche von oben stellt sich keine schlechte Laune ein. Die schöne Hügellandschaft auf der anderen Seite und die sanft geschwungenen Kurven durch Dorset entschädigen mich für den nassen Hintern.

Pittoreske Ortschaften in Südengland
Pittoreske Ortschaften in Südengland

Allerdings heißt es heute auch, ganz besonders aufzupassen, denn durch den Regen sind die ohnehin nicht im besten Zustand befindlichen Straßen – der Asphalt ist manchmal doch grob und brüchig-tückisch und die Sicht bei dem Wetter natürlich auch nicht die beste. Aber jetzt weiß ich wenigstens, warum es hier so schön grün ist, man darf eben in England kein trockenes Wüstenklima erwarten. Obwohl es tatsächlich stimmt, durch den warmen Golfstrom herrschen an der Küste Südenglands erstaunlich milde Temperaturen und überall findet man exotische Pflanzen in den Vorgärten.

Die sich anschließende schroffe Felsenküste, die „Jurassic Coast“, eröffnet atemberaubende Perspektiven auf beeindruckende Küstenformationen, jetzt reißt sogar der Himmel wieder auf. 

Seit 1924 gibt es die bekannten roten Telefonzellen.
Seit 1924 gibt es die bekannten roten Telefonzellen.

Von Exeter geht es weiter quer über das wilde und mystische Dartmoor, bekannt aus Sir Arthur Conan Doyles „Der Hund von Baskerville“, eine überaus spannende Szenerie mit Wildpferden, Schafen und frei herumlaufenden Galloways. Hier ranken sich so manche düstere Legenden und Schauergeschichten um Geisterhunde, Dämonen und verschwundene Wanderer. Die Maschine schnurrt über die schmalen Asphaltwege, meine Augen können sich nicht sattsehen an den Weiten dieses sensationellen Hochlandes. Es ist Fahrspaß pur.

Durch das schmucke Örtchen Princetown führt mich dann der Weg wieder runter an die Küste nach Plymouth.

Als ich am nächsten Morgen gerade meine Tasche auf die BMW schnalle, regnet es wie auf Kommando schon wieder Bindfäden. Egal, Ruhe bewahren und los. Das Regenzeug hatte ich vorausschauend ja schon mal rausgelegt.

Motorradtour Südengland - Der Hafen von Plymouth
Der Hafen von Plymouth

Zunächst geht es erneut mit einer kleinen Fähre von Plymouth rüber nach Torpoint. Fast fünf Pfund kostet der kurze Spaß diesmal, ziemlich happig, aber immer wieder eine schöne Abwechslung. 

Als ich in die Grafschaft Cornwall fahre, hat der Himmel Einsehen mit uns Mopedfahrern und dreht die Dusche ab. Die Landschaft ist unglaublich grün und hügelig, die Straßen noch schmaler, als ohnehin in Südengland, sodass ich ein paar Mal befürchte, vom Weg abgekommen zu sein und sicherheitshalber bei den Einheimischen nachfrage. Murphys Gesetz folgend begegnen mir die entgegenkommenden Autos, Lieferwagen und sogar Doppeldecker-Busse häufig am Scheitelpunkt der engsten Kurven.

Endlich. Land’s End, der westlichste Zipfel des englischen Festlandes und irgendwie ja auch das Ziel meiner Reise, kündigt sich durch die ersten Hinweisschilder an. Die Regenklamotten trocknen inzwischen hinten auf der Maschine, stattdessen habe ich den Helm hochgeklappt und mir eine Sonnenbrille auf die Nase gesetzt. Ich ziehe am Gashahn, lasse die Kuh durch die Kurven fliegen und werfe ab und zu einen Blick auf die schöne Felsküste, das tiefe Blau des Meeres und das satte Grün der Wiesen. Ich könnte ewig so weiterfahren, Cornwall, das Rosamunde Pilcher Land, hat mich gepackt.

Die letzten Kilometer, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, hatte mir vor der Reise extra nur wenig Bilder im Internet angeschaut, um mich nicht selbst zu spoilern. Als ich an der Zufahrt die zwei Pfund Parkgebühr aus meinem Brustbeutel pule und meine Augen kurz über die vielen abgestellten Autos wandern, platzt eine kleine Illusion. Vor mir ein „Welcome Center“, dahinter gleich ein Souvenirshop und die üblichen Cafés, sogar ein kleines 4D Kino gibt es hier. Land’s End ist eine Touristenattraktion. 

Lands End - nicht ganz wie erwartet aber trotzdem schön
Lands End – nicht ganz wie erwartet aber trotzdem schön

Aus meiner naiven Vorstellung, ein Foto, wie ich auf meinem Motorrad vor dem bekannten Wegweiser sitze, wird wohl nichts. Stattdessen kann man sich dort für zehn Pfund von einem professionellen Fotografen ablichten lassen – das Schild ist doch tatsächlich genau dafür abgezäunt. Naja, ein schnelles Selfie aus der Distanz ist dann doch noch drin. 

Aber davon einmal abgesehen ist der Blick auf die tosenden Wellen schon ein echtes Erlebnis. Hinter den Isles of Scilly, deutlich auszumachen am Horizont, verschwimmen das Blau von Meer und Himmel zu einer unendlichen Weite. Den Höhepunkt meiner Reise habe ich nun erreicht, ca. 1500 km, die Hälfte davon in Südengland, liegen bereits hinter mir. Ein etwas in die Jahre gekommenes Strandhotel in Newquay wird mein heutiges Nachtquartier.

Von dort fahre ich am nächsten Tag zunächst weiter die Westküste Cornwalls rauf, drehe dann aber langsam wieder Richtung Nordosten ein. In Glastonbury übernachte ich in dem gemütlichsten Bed & Breakfast meiner Reise, mitten in den Cotswolds, dem „Herzen Englands“, um mir das kleine, hübsche Dorf Castle Combe anzusehen, bekannt für seine wunderhübschen, pittoresken Häuser.

Dann starte ich durch, um noch schnell meiner Tochter, die seit einigen Monaten in London lebt, einen kurzen Besuch abzustatten, bevor ich von Dover aus schon wieder die Heimreise antrete.

Das Fazit? Südengland, insbesondere der äußerste Westen mit den Grafschaften Devon und Cornwall, sind ein tolles Reiseziel für Motorradfahrer. Schmale Asphaltstraßen, oft umsäumt von hohen Hecken, lockere Kurven und zwischendurch immer wieder phantastische Ausblicke auf schroffe Felsküsten, mystische Moorlandschaften und grüne Wiesen. Allerdings solltet ihr euer Regenzeug nicht zu Hause vergessen. Auf eurer Motorradreise erwarten euch auch noch viele typisch englische Pubs mit lokalen Biersorten und einfachem, aber oftmals auch ganz leckerem, Essen. Ansonsten gibt’s eben Fish ’n’ Chips – verhungern werdet ihr also schon mal nicht.