aus Kradblatt 1/14
von Egon Milbrod

Aber mich beschäftigt etwas ganz anderes: Paul ist weg! Einfach so an der wartenden Gruppe vorbeigefahren. An mehreren möglichen Abzweigen steht er nicht! Dazu kommt, dass er nicht in der Lage ist, die kyrillischen Ortsschilder zu lesen und so den Abzweig nach Palech verpasst hat. Er hat zwar ein Roadbook, aber wer weiß, ob er sich daran halten wird. Mitten in den Smalltalk beim Imbiss platzt die Nachricht, dass er im Ort gesichtet wurde. Jürgen versucht noch, ihn einzuholen, aber bis er Motorradjacke, Helm und Handschuhe angezogen hat, ist Paul schon wieder über alle Berge. Nach vielen vergeblichen Versuchen können wir ihn über das Handy erreichen. Wir fordern ihn auf, allein die 250 km Landstraße nach Nishni Nowgorod zu fahren, um uns dort im Hotel zu treffen. Nun verstehen auch die anderen Teilnehmer der Reise, dass nicht nur die Sprache, die Landkarte, die Versicherung oder die Ersatzteile ein Problem bei einer Gruppenreise in Russland sein können. Das allerwichtigste ist ein Telefon mit den Nummern der Teilnehmer, insbesondere die der Organisatoren und eine volle Handybatterie! Wenigstens diesen Ratschlag hatte Paul befolgt. Also können wir unser Programm „abspulen“ und erhalten durch den Werkdirektor nicht nur eine „Spezialführung“, sondern auch Antworten auf eigentlich jede Frage. Etwa 250 Mitarbeiter, überwiegend Frauen, fertigen hier im Akkord Ikonen für den immensen Bedarf der orthodoxen Kirchen in Russland und in den Nachbarländern. Jede Malerin führt nur bestimmte Arbeiten aus. So ist gewährleistet, dass die hohe Kunst dieser Technik auf gleichbleibendem Niveau gehalten wird. Regelmäßige Schulungen anhand alter Abbildungen und Kataloge der Museen sorgen dafür, dass der Stil der Ikonen erhalten bleibt, denn Ausdruck und Haltung sowie Farben jedes Heiligen sind seit Jahrhunderten festgelegt und dürfen nicht verändert werden. Zum Abschied bekommen wir noch frisches Brot geschenkt, eine sehr große Ehre in Russland, damit wir den weiteren langen Weg zum Baikalsee gut bewältigen.


Acht Mal bin ich mittlerweile in Russland, zum wiederholten Male mit meinem Freund Jürgen. Mit seinem Unternehmen MOTTOUREN ist er der Spezialist für Motorradreisen in den Osten. Auf dieser Reise bin ich das „Mädchen für alles“ und fahre das Begleitfahrzeug. Ich genieße damit den Vorzug, trocken zu sitzen und habe den Nachteil hinterher zu fahren. Aber da ich die Gepflogenheiten in Russland gut kenne, dauert es bei allen Begegnungen und Treffen, oft auch unmittelbar am Wegesrand, nur wenige Minuten bis auch ich Teil des Geschehens bin.

Ab Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, fahren wir wieder gemeinsam weiter. In Ishewsk, Hauptstadt der benachbarten Republik Udmurtien, empfängt uns am Stadtrand Dimitri mit seinen Freunden vom örtlichen Motorradclub. Er ist in Parchim bei Schwerin geboren, spricht aber kein Deutsch. Wir hatten ihn bereits vor einem Jahr auf unserer letzten Reise nach Sibirien kennengelernt. Unser Aufenthalt in dieser Industriestadt reicht für den Besuch des neuen Kalaschnikow-Museums und für eine ausführliche Stadtführung am nächsten Morgen. Hier, im Nord-Ural, befand sich im 2. Weltkrieg das Zentrum des Handfeuerwaffenbaus. Auf der Weiterfahrt lernen wir die andere Seite der Stalin-Zeit kennen: das Straflager „Perm 36″. Als letzter aktiver GuLag war es noch bis unter Gorbatschow aktiv und wird nun auf Initiative der ehemaligen Insassen als Museum bewahrt.

Wir bleiben zwei Tage, erleben ein authentisches Russland, ohne fließendes Wasser und ohne Kneipe oder anderen Annehmlichkeiten der „Zivilisation“. Gegensätzlicher könnte der nächste Aufenthalt nicht sein: Tjumen, das Zentrum der Erdgasindustrie, ist nicht nur als modern, sondern schon beinahe als pompös zu bezeichnen. Die vielen Datschas in der Umgebung, die futuristischen Neubauten in der Stadt und zahlreiche hochpreisige Automarken zeugen vom Reichtum der Region, basiernd auf der Erdölförderung.
Die folgende Etappe nach Omsk führt unweit der kasachischen Grenze vorbei. Genau wie wir benutzen viele Kraftfahrer diese Route. Güter werden auch hier „just in time“ auf der Straße transportiert. Obwohl der Straßenbau in Russland Hochkonjunktur hat, sind noch viele Haupt- und Nebenstrecken in einem bedauernswerten Zustand. Über jede Baustelle freue ich mich, denn man weiß bei einem schlechten Streckenabschnitt nicht, ob er 100 m oder 100 km lang ist.
Die folgende Etappe nach Omsk führt unweit der kasachischen Grenze vorbei. Genau wie wir benutzen viele Kraftfahrer diese Route. Güter werden auch hier „just in time“ auf der Straße transportiert. Obwohl der Straßenbau in Russland Hochkonjunktur hat, sind noch viele Haupt- und Nebenstrecken in einem bedauernswerten Zustand. Über jede Baustelle freue ich mich, denn man weiß bei einem schlechten Streckenabschnitt nicht, ob er 100 m oder 100 km lang ist.

In Novosibirsk gelingt es Dimitri, unserem lokalen Schrauber, nicht, die immer wieder überkochende Ducati dauerhaft zu reparieren. Mit BMW kennt er sich besser doch aus. Auch hier sind die Veränderungen ersichtlich: Dimitri hat inzwischen Familie und arbeitet deshalb nicht mehr am Sonntag. Inzwischen ist seine Auftragslage so gut, dass er einen Angestellten hat. Währenddessen werden wir von den „Weißen Wölfen“ betreut. Wir können Kfz-Werkstätten besichtigen, in denen soziale Projekte mit benachteiligten Jugendlichen durchgeführt werden. Bei den zahlreichen Motorsportveranstaltungen in der Region wurden in vielen Kategorien Auszeichnungen und Preise errungen. Völlig ungewohnt für viele Teilnehmer der Tour ist der Besuch des Ehrenhains für die Gefallenen des 2. Weltkrieges. Dieses mehrere Hektar große Gelände ist übersät mit Gedenktafeln, Monumenten und Waffen des Krieges. Die Verehrung der Gefallenen des zweiten Weltkrieges hat in Russland Züge einer „Schein-Religion“, um von vielen gesellschaftlichen Problemen abzulenken.
Auf der Weiterfahrt nach Kemerowo ist es nicht mehr zu verheimlichen: die Taiga brennt! Bereits in Novosibirsk konnten wir nur schwer Fotos machen, die Luft ist ausgesprochen diesig. Jetzt lechzen wir nach Regenschauern, die für kurze Zeit die Luft reinigen. In diesen Sumpfgebieten ist es schwierig, eigentlich unmöglich, die zahlreichen Brände zu löschen. Bis man in Moskau auf das Problem aufmerksam wurde, stand hier ein Gebiet von der Größe Westeuropas in Flammen. Auch in den Bergen um Krasnojarsk ist es nicht besser. Von den Kohle- und Erzlagerstätten im Kusbas-Gebiet sehen wir entlang der Straße nur wenig. Umso überraschender die Begegnungen in Taischet, einem ehemaligen Verwaltungs-Zentrum für die zahlreichen russischen, deutschen und japanischen Zwangsarbeiter und einem der wichtigsten Knotenpunkte der Transsibirischen Eisenbahn. Hier wohnt Igor, ein Deutschlehrer, der inzwischen als Verkäufer für Waschmaschinen arbeitet, um seine Familie ernähren zu können. Igor zeigt uns seine Stadt, aber auch ein ethnografisches Museum „in der Nähe“ – 100 km entfernt – das über die letzten hier lebenden halbnomadischen Ureinwohner berichtet.

Der Baikal! Für viele Menschen steht nicht die Reise dorthin im Mittelpunkt, sondern der Baikal-See selbst. Aber ist nicht die Reise dorthin der Schlüssel zum Verständnis über die Bedeutung dieses Sees? Erst die bewusste Reise durch die vielfältigen Gebiete und Regionen Russlands macht deutlich, dass nicht die Entfernung in Kilometern den Reiz ausmacht, sondern das Wandeln durch die verschiedenen Kulturen und Landschaften mit ihren nationalen Minderheiten und Eigenarten. Es ist müßig aufzuzählen, was die Größe und die Berühmtheit dieses Sees ausmacht, das kann jeder im Lexikon besser nachlesen. Viel erwähnenswerter ist die Tatsache, dass hier auch der letzte Teilnehmer begriffen hatte, dass wir uns in einer anderen Welt befanden. Widerspruchlos, wenn auch mit einem Zögern, wurden die Motorräder mitsamt Dokumenten einer Spedition anvertraut. Alle kannten die Straßen, die dieser LKW innerhalb von 4 Tagen in Tag- und Nachtfahrt zurückzulegen hatte! Und wir wussten inzwischen, dass unser Rechtsverständnis die Behörden in Russland nur zum Lachen anregt. Alle hatten zum Baikal reisen wollen und stellten nun fest, dass er zu groß ist, um in wenigen Tagen alle Besonderheiten zu erleben.

Wohl dem, der bis hierher mit allen Sinnen die Reise aufgenommen hat: die unendliche Weite des Landes, die scheinbare Rückständigkeit in den ländlichen Gebieten, die langen Transportwege, das extreme Klima und die unterschiedlichen Zustände auf den „Autobahnen“ und Straßen. Wer meint, in Moskau gewesen zu sein und deswegen glaubt, Russland zu kennen, wird nach solch einer Reise eines anderen belehrt.
Nein, Moskau ist nicht Russland! Auch wir haben die Sehenswürdigkeiten dieser 12 Millionen Stadt gesehen, haben den prunkvollen Kreml, die Metro, die Klöster und Kirchen besichtigt. Aber was sagt das über ein Land aus, das 50-mal größer als Deutschland ist und von dem wir nur etwa die Hälfte auf einem schmalen Band durchreist haben? Auch wenn wir mit Borodino, Smolensk und Katyn weitere historisch wichtige Orte Russlands besuchten, so sieht inzwischen mancher Teilnehmer Russland mit anderen Augen. Um mir aber ein Urteil oder eine eigene Meinung über Russland und die dortigen Verhältnisse zu bilden, werde ich sicher noch mehrmals dieses Land bereisen. Wie viele, die wiederholt in diesem eindrucksvollen Land waren, werde auch ich den „Virus Russland“ nicht los. Eventuell trifft man sich ja irgendwo, warum nicht in Russland?!
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Kommentare
2 Kommentare zu “Sibirien – Motorrad-Gruppenreise”
Das kann man sicher sagen. Aber es ist ein unglaublich interessantes Reiseziel – wenn man sich darauf einlassen will und im Vorwege seine Vorurteile über Bord wirft. In diesem Jahr ähnlich wieder.
Zum Einstimmen DER Veranstaltungshinweis dazu:
Mi. 22.01.14 30 Jahre Abenteuer Russland
„Wer Angst vor dem Wolf hat, darf nicht alleine in den Wald gehen“
Live-Audiovision von Jürgen Grieschat (MOTTOUREN / Welt im Dia)
BMW Niederlassung Hamburg, Motorradzentrum, Offakamp, 19 Uhr
Anmeldung unter motorrad.hamburg@bmw.de
besten Gruß
Jürgen
Toller Bericht.
Langweilig, war es euch bestimmt nicht.
Gruß und bis denne.
Bernd