aus Kradblatt 1/22, von Florian Scherer & Hermann Winner

Wissentschaftlich betrachtet

Auf der Kreisbahn beim ADAC Intensivtraining
Auf der Kreisbahn beim ADAC Intensivtraining

Taucht in einer Kurve plötzlich ein Hindernis auf, vermeiden viele Motorradfahrer stärkere Schräglagen, obwohl sie so der Gefahrensituation entgehen könnten. Folge ist ein Verlassen der Fahrbahn und möglicherweise ein Unfall. Im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt, www.bast.de) wurde deshalb untersucht, welche Schräglagen im normalen Verkehr und in Schrecksituationen gewählt werden. Die Ergebnisse der Untersuchung fließen in die aktive Verkehrssicherheitsarbeit ein.

Aufgabenstellung: Bei plötzlich auftretender Gefahr nutzen viele Motorradfahrer bei Kurvenfahrten die theoretisch mögliche Schräglage nicht aus. In der Wissenschaft existierte bisher die Vermutung, dass in Panik- oder Schrecksituationen eine Schräglagenschwelle von 20 Grad nicht überschritten wird. Dies hätte zur Folge, dass wegen zu hoher Kurvengeschwindigkeiten in gefährlichen Situationen nicht ausgewichen werden kann. Im Auftrag der BASt untersuchte das Fachgebiet Fahrzeugtechnik der Technischen Universität Darmstadt, ob eine solche Schräglagenschwelle existiert. Darüber hinaus sollte das Verhalten von Motorradfahrern bei situationsbedingtem Nichtausnutzen des möglichen Schräglagenpotenzials analysiert werden.

Training mit dem Wingbike bei der Driving Area
Training mit dem Wingbike bei der Driving Area

Untersuchungsmethode: Als Grundlage wurden Methoden zur Ermittlung des Verhaltens der Fahrer in kritischen Situationen entwickelt. Dazu gehörten die Auslegung pseudo-kritischer Manöver zur Untersuchung des Fahrverhaltens im Teststreckenversuch sowie ein Fragebogen zur Ermittlung schräglagenängstlicher Fahrertypen. 

Zur breiteren Erfassung gefahrener Schräglagen von Motorradfahrern im Straßenverkehr wurden 3 verschiedene Messtechnikkonzepte umgesetzt. Das erste basiert auf einem Messmotorrad für Probandenfahrten im Straßenverkehr. Des Weiteren wurde eine Smart­phone-Applikation entwickelt, welche die im Gerät integrierten Sensoren nutzt. Das dritte Konzept zielte auf eine Stationär-Messtechnik, die für einen längeren Zeitraum in Kurvenbereichen aufgestellt werden kann. 

Die Umsetzung der erarbeiteten Konzepte erfolgte in Fahrversuchen auf vordefinierten Streckenabschnitten im Umkreis von Dresden und in der Nähe von Würzburg. Zudem wurde die Umsetzung der pseudokritischen Manöver bei Teststreckenversuchen in Darmstadt dargelegt. 

Ergebnisse: Die Fahrstudien bei Würzburg und Dresden ergaben, dass sich 75 Prozent aller im Alltag gefahrenen Schräglagen unter einem Schwellenwert von 25 Grad befanden. Rollwinkel über 30 Grad konnten trotz ihrer bei trockener Fahrbahn dynamischen Unbedenklichkeit lediglich in 5 bis 10 Prozent der Stichprobe beobachtet werden. 

Fahrer mit einer selbst angegebenen höheren Schräglagenangst wiesen durchschnittlich geringere maximale Rollwinkel und Rollwinkelspektren auf. Beobachtet werden konnte zudem, dass Alter und Fahrleistung offenbar im Zusammenhang mit den gewählten Schräglagen stehen.

Die Fahrversuche auf abgesperrtem Gelände bestätigten eine Eignung der Manöver zur Untersuchung von Schräglagenangst-Phänomenen. Eine allgemeingültige Reaktion auf eine bestimmte Situation konnte nicht nachgewiesen werden. Die Reaktionen sind sehr individuell und hängen vom sonstigen Fahrstil ab. 

Das plötzliche Auftauchen eines Hindernisses in einer nicht einsehbaren Kurve bewirkte bei den meisten Fahrern starke Reaktionen im Fahrverhalten.

Die Hypothese der Existenz einer Schräglagenschwelle kann als bestätigt angesehen werden. Dabei handelt es sich um eine persönliche und individuelle Schwelle, die nicht an einem bestimmten Rollwinkelwert fixiert werden kann. Sie wird weder beim Fahren unter normalen Voraussetzungen noch in Schrecksituationen unterschritten, allerdings auch nicht deutlich überschritten. Besteht in einer Gefahrensituation die Notwendigkeit, eine Schräglage zu wählen, die über der persönlichen Schräglagenschwelle liegt, droht somit ein Verlassen des eigenen Fahrstreifens.

Folgerungen: Die Ergebnisse zum Fahrverhalten von Motorradfahrern bieten eine gute Grundlage für zukünftige Untersuchungen. Es kann weiterhin davon ausgegangen werden, dass Anbieter von Motorrad-Sicherheitstrainings die aufgedeckten Zusammenhänge zwischen als kritisch empfundenen Fahrsituationen und dem zeitlichen Verlauf der Schräglage in ihre Arbeit einfließen lassen.

Das Kradblatt bedankt sich bei Klaus Janßen für die Zusendung des Artikels. Klaus wünscht allen Motorradfahrenden einen guten Start in die Saison 2022 und dass alle immer gut ans Ziel kommen. Dem schließen wir uns mit der Empfehlung an: Bucht Sicherheits- und Kurventrainings – je früher, je besser!