aus bma 9/99

von G. Feldkamp

Es ist Freitag morgen und noch sehr früh. Dennoch fällt es mir leicht, mich aus dem Bett zu schwingen. Die Aussicht aus dem Küchenfenster ist eher ernüchternd, aber noch hat die Natur über neun Stunden Zeit, es sich anders zu überlegen. Und tatsächlich, pünktlich zum Dienstschluß läßt sich die Sonne – wenn auch verhalten – durch die Wolken erahnen. Nichts wie nach Hause; die anderen warten bestimmt schon. Es soll für drei Tage ins Sauerland gehen. Da fallen einem Schlagworte wie Möhnetalsperre oder Edertalsperre ein. Natürlich ist auch das Gespenst der Streckensperrung mit von der Partie, aber das wird erstmal verdrängt. Mal sehen, was die Sauerländer so zu bieten haben!
Endlich setzt sich unsere spontan gegründete Männer-Motorrad-Selbsthilfegruppe in Bewegung – vier „lonesome rider” und ihre fahrbaren Untersätze, als da wären die NTV 650, eine XBR 500, eine XJ 750 und meine XJ 900 S; nach unseren Verpackungskünsten à la Christo sehen sie eher nach Packesel aus als nach „Kurven-Räubern”.
Die Tour soll ihren Anfang an der Möhnetalsperre nehmen. Das sind erst einmal 85 Kilometer Anfahrt durch das Lippetal und an Soest vorbei. Die Landschaft wechselt abrupt in ein Auf und Ab. Kleine, sich schlängelnde Straßen führen uns an die nördliche Seite der Möhnetalsperre. Zur Zeit ist anscheinend Ebbe. Ein Großteil des Ufers hebt sich braun und steinig aus dem Wasser – der Sommer hat seinen Tribut gezollt. Das tut den Touristenscharen mit ihren angehängten fahrbaren Häusern aber anscheinend keinen Abbruch, die Straßen zu bevölkern. Hier lernen wir zum ersten Mal den Begriff „Wohnwagen wegklatschen”. Das hört sich dramatisch an, ist aber in Anbetracht der Steigungen nicht sonderlich schwierig; nur aufpassen muss man halt.

 

Schnell schlagen wir uns südlich in die Büsche und steuern Hirschberg an. Unvermittelt empfängt uns ein dunkelgrüner Tunnel aus dicht beieinanderstehenden Tannen und Kiefern. Harziger Geruch bahnt sich seinen Weg durch den Helm Richtung Nase. Die Sonne blinzelt durch das Nadeldach. Einem hinter mir auftauchenden Scheinwerfer eines einheimischen Motorradfahrers mache ich respektvoll Platz, da die Beladung der Maschine keine Sperenzchen zulässt.
Über kurz oder lang ist der Ausflug in die ländliche Gegend beendet, denn vor uns taucht das Ortsschild von Warstein auf. Nun müssen wir uns wieder mit dem Stadtverkehr abplagen. Wie richtig vermutet, verbindet sich der Name der Stadt mit dem Urgebräu der Alemannen. Die typische goldene Kennung der Marke ist im Stadtkern überall anzutreffen. Wenn wir nicht so ein volles Programm hätten, könnte die schöne Innenstadt im Fachwerkstil durchaus zum Verweilen einladen. Aber schnell den Gedanken an ein kühles Blondes verdrängt und ab durch die Mitte. Die nächsten Kilometer werden auf einer Bundesstraße abgerissen, aber so eintönig wie das klingt, ist es gar nicht. In langen, eleganten Kurven geht es an dem Flüsschen Möhne entlang. Natürlich gibt es hier kein Stakkato von Rechts -Links – Kombinationen, aber ein ab und zu riskierter Blick in Richtung Landschaft kann auch entschädigen.
Das nächste Ziel ist fix ausgemacht. In nicht allzu weiter Entfernung liegt die Aa-bachtalsperre. Man hat auf der Staumauer stehend einen schönen Ausblick auf blaugrünes Wasser. Wälder säumen das umliegende Ufer. Nur ein Schönheitsfehler ragt recht imposant aus dem Wasser: Der von uns getaufte „Stöpsel”. Er ist ein kegelförmiges Gebilde und wird als Überlauf in besseren Regenzeiten dienen.
Nachdem jeder seine Fotos im Kasten hat, geht es weiter Richtung Arolsen. Allmählich senkt sich die Sonne und taucht den von uns angefahrenen Aussichtspunkt des Twiste-Stausees in ein leuchtend-warmes Orange-Rot. So verwunschen wie unsere anfängliche Begegnung mit dem ersten Stausee ist dieser Ort allerdings nicht. Die Nähe der Stadt macht sich bemerkbar.
Über äusserst reizvolle, einsame Straßen schlängeln wir gen Korbach; wir halten uns nordwestlich und gelangen über Adorf nach Heringshausen am Diemelsee. Laut Karte befindet sich im Ort am Rande des Diemelsees ein Campingplatz. Dass es zwei Plätze gibt, erfahren wir erst später. Mit den letzten Strahlen der Sonne rollen wir auf das Gelände der Anlage. Ein Blick um die Häuserfront zeigt, dass wir nicht die einzigen Moppedfahrer sind, die hier Unterschlupf suchen.
Nach über 240 Landstraßenkilometern und sieben Stunden im Sattel verlangt es uns nun nach einer deftigen Mahlzeit und einem kühlen Pils, aber da ist hier in der campingplatzeigenen Pinte und der daneben liegenden Pommes-Bude Fehlanzeige. Die Küche bleibt nach 21.30 Uhr kalt. Nicht mal eine Frikadelle ist aufzutreiben. Wir erhalten jedoch den Tip, es bei dem Gasthof im Ort zu versuchen. Zum Glück kann die Wirtin unseren vier leidenden Dackelblicken nichts abschlagen, und so können wir uns eine Stunde später müde und satt Richtung Zeltplatz schleppen und verschwinden unter den Daunen der Schlafsäcke.
Am nächsten Morgen läßt mich die allgemeine Geschäftigkeit der Camper früh wach werden. Die „Waschstation” lädt nicht gerade zu einer ausführlichen Morgentoilette ein. Zum Erreichen der Waschgelegenheiten muss erst der übersichtlich angeordnete „Zwölfzylinder” (zwei Rei- hen à sechs Klos) passiert werden, ein entsprechendes Aroma liegt in der Luft. Bei der Rückkehr zu unseren Zelten sind schon erste Lebenszeichen in denselben auszumachen. Ein bisschen mit Instant-Kaffee und „Lecker-Lecker” gelockt, dann geben auch die Hartnäckigsten auf, aber lichtscheu sind sie doch noch ein bisschen. Nach dem Frühstück schlendern wir ein wenig am Rande des Diemelstausees entlang. Die enorme Wasserfläche erstreckt sich weit in die umliegende Landschaft. Ein paar Ruder- und Motorboote schippern gemächlich durch die zur Zeit eher unappetitliche, braune Wasserwelt. Rechts und links versuchen Angler ihr Glück. Am gegenüber liegenden Ufer schimmern Zeltdachplanen und Wohnwagendächer durch die Anpflanzungen. Wahrscheinlich ist das der neuere Campingplatz, der uns gestern abend noch verborgen blieb. Gegen 11 Uhr starten wir Richtung Willingen über Usseln nach Winterberg und steuern dann Richtung Olsberg, natürlich alles unter Mitnahme der, laut Karte, als landschaftlich schön ausgezeichneten Strecken. Unterhalb von Olsberg befindet sich der Freizeitpark Fort Fun. Ein kurzer Abstecher den Berg hoch, und schon finden wir uns auf einem großen Parkplatz mit Panorama-Bussen und vielen Großfamilien wieder. Schnell machen wir uns auf den Weg, die Stätte der Volksbelustigung zu verlassen.
In Form einer Schleife nähern wir uns dem unterhalb von Meschede gelegenem Henne-See und legen eine kurze Rast ein. Unterhaltung finden wir durch die verstärkt auftretenden Motorradfahrer-Rudel, die den Samstagmittag zur Ausfahrt nutzen.
Nach Abschluß der Zwischenmahlzeit geht es weiter Richtung Finnen-trop und Plettenberg. Ein Abstecher kurz vor Plettenberg über eine – laut Karte – geschwungene Landstraße in Richtung Allendorf entpuppt sich als eine wahrlich gute Motorradstrecke. Anspruchsvolle Kurven, die sich anfangs recht übersichtlich nacheinander an den Berg anlegen, werden unterbrochen durch ein kurzes Waldstück. Im unteren Bereich müssen wir der Begutachtung mehrerer Duc-Piloten standhalten. Anscheinend hat hier jede Kurve eine eigene Markenvertretung, denn in der nächsten erwartet uns schon eine japanische Delega- tion.
Oberhalb von Allendorf beginnt die Sorpe-Talsperre. Wieder ist es eine geschwungene Straße, die uns am Uferrand unter Einhaltung der Geschwindigkeitsvorgaben entlangführt. Auch hier macht sich leider der Touristenrummel und Ausflugsverkehr bemerkbar.
Der nächste Abschnitt birgt die krassesten Gegensätze in sich, die während der Tour auftraten. Der Weg führt uns durch eine äusserst beschauliche Landschaft mit sehr engen Straßen auf Neuenrade und Werdohl zu. Noch sind wir in der unmittelbaren Natur auf Hohlwegen und Schotterpisten gefangen, doch plötzlich weicht das Grün und die Konturen einer eng bebauten, grauen und tristen Industriestadt zeichnen sich ab. Schnell breitet sich Ernüchterung aus. Doch eigentlich kommt diese Vergleichsmöglichkeit der Empfindungen rechtzeitig, denn inzwischen hatte man sich an den Landschafts-panoramen schon beinahe sattgesehen. So bringen wir den Abschnitt hinter uns mit der Gewissheit, dass auch hier die nächste „Wasserstelle” nicht weit ist. Diese liegt unterhalb von Werdohl und nennt sich Verse-Talsperre, eine der kleineren, aber immerhin im Grünen.
Von dort aus schwenken wir Richtung Kirchhunden unter Einbeziehung des recht imposanten Biggesees. Hier war eigentlich die nächste Übernachtung eingeplant, aber schnell zeigt sich, dass das Wochenende so seine Tücken für Motorrad-Nomaden mit sich bringt. An drei verschiedenen Zeltplätzen werden wir wegen Überfüllung abgewiesen. Mit dem Hinweis, in der Nähe von Attendorn könnten eventuell noch Plätze frei sein, verlassen wir die vorgegebene Route und machen uns schnurstracks auf den Weg. Zum Glück sind wir rechtzeitig vor Ort und können uns neben unseren Motorrädern übernachtungsmäßig einrichten.
Uns gegenüber steht ein großer Mercedes-Transporter mit nicht zählbaren Individuen, sämtlich mit langer Haarpracht, Cowboy-Stiefel, Lederklamotten und Kutte ausgestattet. Äusseres Aussehen: gefährlich; innere Werte: äusserst nett und lustig. Das stellt sich auch beim anschließenden Grillabend unter Beweis. Als die Grundbedürfnise bei dem einen ausreichend und bei dem anderen überdurchschnittlich befriedigt sind, kriechen wir in unsere Schlafsäcke und gleiten, unter unfreiwilliger Teilnahme eines spontanen Mini-Hardrock – Openair der Nachbarn, in das Land der Träume hinab.
Der nächste Morgen schaut eher trist und neblig – fast genauso wie einige Camper – aus der Wäsche. Für heute stehen verschiedene herausragende Anfahrtspunkte auf dem Programm: zum einen ist da die „Erfahrung” des Kahlen Asten und zum anderen ein Besuch am Eder Stausee vorgesehen.
Aber der Reihe nach: zuerst stellen wir von Attendorn aus über Helden und Jäckelchen die Verbindung mit der B 55 her. Der folgende Abschnitt über Schmellenberg bekommt nach ein paar Kilometern mehr und mehr den Charakter eines Wanderweges. Letztendlich landen wir in einem Waldstück mit umliegenden Häusern, die den passenden Ortsnamen Einsiedelei tragen. Ab hier ist eine Ausschilderung nicht mehr zu entdecken, und so folgen wir etwas skeptisch dem mittlerweile unbefestigten Waldweg. Aber nicht verzagen und dem Spürsinn des Tour-Guide folgen, der uns schließlich und tatsächlich wieder auf eine geteerte Straße führt. Eine Abfahrt zwischen Buchenwäldern bringt uns der angesteuerten Bundesstraße 517 näher. Dort schwenken die Motorräder gen Kirchhundem.
Das Wetter ist sich immer noch nicht ganz klar, was es an diesem Tag anstellen soll und kommt über ein Graublau nicht hinaus.
Wir steuem inzwischen auf Röspe zu und legen an dem Panoramapark Sauerland kurz eine Rast ein. Zum einen ist für die Raucher unter uns der nächste Nikotinhappen fällig, und eine Erweiterung als Pinkelpause ist auch vonnöten.
Ich verschwinde schnell auf der Toilette; allerdings ist an ein schnelles Erledigen der Sache an sich nicht zu denken, denn der Reißverschluß meiner Lederhose haucht plötzlich seinen Geist aus, und ich stehe nun etwas belämmert mit den Überresten in der Hand da. Schei…! Wat nu?! Ich sehe mich schon beim Überqueren des Platzes mit offener Hose in einem Meer von schlagenden Schirmen und Handtaschen ereiferter Mütter gen Boden sinken, aber zum Glück ist da ja noch mein Helm! Dass ich nach der Darstellung meiner misslichen Lage zur Erheiterung meiner Tour-Kollegen herhalten muss, ist wohl jedem klar. Zum Glück kann Ingo sich zeitweise von seiner innig geliebten Schnür-Lederjeans trennen. Eine Distanzbewältigung von über 700 Kilometern nur in Jeanshose erscheint auch ihm nicht als eine akzeptable Alternative.
Schon wenig später kann es weitergehen – Richtung Bad Berleburg und Kahler Asten. Dieses Stück ist landschaftlich wieder ein sehr schönes Eckchen. Man fährt mehr oder weniger im Talbereich der Höhen an dem Flüsschen Odeborn entlang.
Rechts und links schmücken Wälder den Talstreifen und weichen kurz vor Erreichen des Wasserlaufes dem saftigen Grün der Wiesen. Der einzige Schönheitsfehler ist die holprige Verbindungsstraße, die mehr Aufmerksamkeit benötigt, als wir ihr eigentlich einräumen wollen. Eine wahre Teststrecke für Gepäckträgersysteme. Aber bald sind wir in Neuenasten angekommen und kringeln uns auf einer gut ausgebauten Bundesstraße mit einigen anderen Motorradfahrern dem Ausichtsturm des Kahlen Asten entgegen.
Oben empfangen uns die ersten Sonnenstrahlen. Auch hier herrscht reger Ausflugsverkehr. Viel zu sehen ist allerdings nicht; die Gegend trägt Züge einer Heidelandschaft – ringsum sind Blaubeersträucher und Heidepflanzen. Unterbrochen wird das Bild von Kiefer- und Tannenwäldern.
Den Rückweg vom Kahlen Asten treten wir über Mollseifen und Liesen auf der Route nach Medebach an. Dem Anschein nach bewegen wir uns auf einer Hochfläche, denn ab und zu hat man einen weiten und schönen Überblick entlang der Medebacher Bucht. Dies ist, wie der Name zwar vermuten läßt, allerdings keine Badebucht, sondern vielmehr eine weitläufige Aneinanderreihung von Korn- und Weizenfeldern; die über den Feldern flimmernde Luft zaubert eine imaginäre Wasserfläche in den Blickwinkel des Betrachters.
In dem Gewusel der kleinen Dörfer verpassen wir anscheinend eine Abfahrt, denn plötzlich ist die vorgesehene Route nicht mehr auffindbar. Diesem Umstand verdanken wir es, eine weitere herrliche Motorradstrecke zu entdecken. Diese befindet sich östlich von Medebach kurz vor dem Ausläufer des Eder Stausees. Von der Ortschaft Buchenberg geht es in engen und weiten Kombinationen über eine Strecke von vier Kilometern zu Tal. Unten angekommen brauchen wir erst einmal eine Atem- und Begeisterungspause. Nun, da wir alle wieder aus dem Begeisterungszustand erwacht sind, verschwinden auch schnell die Scheuklappen, und der Blick konzentriert sich nicht mehr nur auf die fünf Meter breite Straße, sondern fällt auf den Oberlauf des Flusses Eder, der uns nun zu Füßen liegt und unter einer Brücke träge dahinfließt. Dahinter lässt sich das Panorama einer großen Wasserfläche erahnen. Leider ist auf dem Weg zur Talsperre ein Großteil der Strecke mit Geschwindigkeitsbegrenzun- gen gespickt, aber das große Aufkommen der Motorräder scheint hier solche Maßnahmen zu erfordern.
Wir suchen uns ein Café, von dessen erhöhter Terrasse man einen schönen Blick auf die Wasserfläche zwischen Waldeck mit einer darüber liegenden Burg und Scheid hat. Der aufgestaute See hat eine Länge von 28 Kilometern. An der Staumauer scheint der eigentliche Treffpunkt sämtlicher Ausflügler zu sein, denn die angebotenen Parkplätze und Haltestreifen platzen aus allen Nähten. Die Edertalsperre ist eine der größten europäischen Talsperren – die Staumauer ist 48 m hoch und 400 m lang.
Es geht weiter Richtung Süden über Affoldern nach Mehlen. Kurzzeitig müssen wir mit einer Bundesstraße vorliebnehmen, bevor es meines Erachtens auf das beschaulichste Teilstück der Tour geht. Von der B 485 biegen wir rechts ab, fahren durch das Örtchen Giflitz, folgen dem Wese-Bach bis Gellerhausen und fahren dann quer durch das Wildunger Bergland auf den Ort Bergfreiheit zu. Nach dem starken touristischen Andrang am Eder Stausee kann man hier die völlige Ruhe und Abgeschiedenheit genießen.
Leider ist diese Passage bald durchfahren, und uns macht allmählich die verbleibende Zeit zum Aufsuchen eines Zeltplatzes zu schaffen. Also beschließen wir, die Tour für heute abzukürzen. Als Alternative bietet sich ein Campingplatz in Marburg an. Ohne zu ahnen, welch schönes Stadtbild uns erwartet, machen wir uns auf über Gemünden, Rosen-thal, Ernsthausen und weiter nach Marburg. Der Zeltplatz liegt sehr schön zentral am Stadtkern und direkt am Flüsschen Lahn. Nur die an der Rückseite des Campingplatzes entlang führende Schnellstraße stört ein wenig, aber wir wollen uns ja nicht ewig hier aufhalten, und so wird der Geräuschpegel toleriert.
Nach dem Duschen laufen wir in den Ort und stehen schon bald vor dem Altstadtbereich und der darüber liegenden Burg. Diese wurde zu Beginn des 12. Jahrhunderts auf einem mächtigen Bergsporn errichtet. Unverkennbar ist allerdings, welche Institution der Stadt maßgeblich zu ihrem Flair und ihrer Jugendlichkeit beiträgt: Die Philips-Universität. So ist es nicht weiter verwunderlich, welches Nachtleben uns erwartet. Überall scheint in den altehrwürdigen Gassen mit ihren charakteristischem Kopfsteinpflaster das Leben zu pulsieren. Eine Studentenkneipe jagt die andere.
Am nächsten Morgen weckt uns nicht das ewige Rauschen der Wälder, sondern das der Fernstraße. Bei einem Blick nach draussen bleibt dieser an unserem Zelt gegenüber hängen; die Einstiegsluke ist leicht geöffnet und nur ein Paar Füße sind auszumachen. Eigenartig! Ist Dirk II etwa schon aufgestanden? Erstmal nach den Moppeds gucken! Irgend etwas passt da nicht ins Bild: zwischen den Motorrädern liegt eine unförmige olivfarbene Wurst mit Kaputze. Was soll man dazu sagen?! Der verlorene Sohn hat sich neben sein Gefährt schlafen gelegt, um den Sägegeräuschen seines Zeltmitbewohners zu entgehen! Drastische Einflüsse erfordern drastische Maßnahmen.
Ein Rundumblick lässt einen freundlichen und warmen Tag erwarten. Wie in den letzten Tagen rödelt man das Gepäck gemächlich auf. Anschließend setzen wir uns zusammen, um über den weiteren Verlauf des letzten Tourabschnitts zu beraten. Wir kommen überein, zuerst kurz in die Innenstadt von Marburg einzutauchen, um dann Richtung Niederwalgen und Bieber aus dem Dunstkreis der Uni-Stadt zu verschwinden. Zur Zeit kann ich gar nicht mehr wiedergeben, wie wir schließlich in die Nähe von Eschenburg gelangt sind; ich gehe mal davon aus, dass im Grunde nicht der ganze gekennzeichnete Kurs abgefahren wurde. Als Mitfahrer im „Rudel” ist der ständige Blick auf die Karte und das Entziffern der Ortsschilder nicht unbedingt mehr nötig, denn Ingo hat seine Aufgabe als Tour-Guide sehr gut absolviert. So taucht unsere Gruppe schließlich vor der Hainicher Höhe kurz hinter Dietzhölztal auf.
Vom Örtchen Hainnichen führt uns der Weg auf eine Höhe von 638 m (Stiegelburg) an der Lahnquelle vorbei in Richtung Großenbach. Größtenteils durchquert man einen hochstämmigen Nadelwald, dessen Wegbefestigung eher an einen Wanderpfad als an die ausgewiesene Straße erinnert. Rechts abbiegend nehmen wir die direkte Verbindung nach Volkhausen, wo eine der vorhandenen Gaststätten schließlich unsere Zustimmung findet und wir uns zum Mittagessen niederlassen.
Weil das Gros der Aufmerksamkeit mit der Verdauung der recht guten und reichlichen Mahlzeit beschäftigt ist, gondeln wir mit verminderter Geschwindigkeit auf Bad Laasphe zu. Nun wieder auf unserer vorgesehenen Strecke, fahren wir auf leichten Steigungsstrecken nach Sassenhausen und Dotzlar. In Dotzlar schwenken wir rechts. Plötzlich taucht ein alter Bekannter auf. Er hat zwar einiges an Größe eingebüßt, schlängelt sich aber stetig an unserer Trasse entlang. Es ist der Flussoberlauf der Eder, die wir tags zuvor in ihrer ganzen aufgestauten Pracht bewundert hatten. Zwischenzeitlich haben uns die dunklen Wolken eingeholt, die ersten nassen Straßenabschnitte sind zu passieren. Eine Wetterbesserung scheint nicht in Sicht. So ist es ganz gut, dass wir wieder gen Norden schwenken und über die kürzeste Bundesstraßenverbindung endgültig den Heimweg antreten.
Von der eigentlichen Rückfahrt gibt es nicht viel zu berichten. Nur vielleicht, dass wir natürlich in den Berufsverkehr geraten und uns eine weiträumige Umleitung vor Winterberg recht viel Zeit und Nerven kostet. Kurz vor der Autobahnabfahrt Büren beginnt es leicht zu regnen. Aber das kann uns nun nicht mehr schocken, da über die ganze Tour nur überdurchschnittlich gutes Wetter gewesen ist. Außerdem ist der Regenschauer nur von kurzer Dauer, und wir gelangen noch mehr oder weniger trocken nach Hause.
Die Anstrengung ist uns wohl ins Gesicht und auf die Gesäßmuskulatur geschrieben, denn der „Für heute habe ich aber die Schnauze voll”-Ausdruck kommt uns beiden (Ingo und mir) gleichzeitig über die Lippen, als wir uns der Behelmung entledigen. Die allerbeste Sozia bzw. Selbstfahrerin hat anscheinend vor dem Fenster auf Lauer gelegen und taucht schon bald vor dem Haus auf. Die Frage nach dem „Wie war’s?” beantworten wir erst einmal mit einem lakonischen „Gut”, denn die Erinnerungen sind alle noch so frisch, dass zur Zeit noch kein richtiges Resümee abgegeben werden kann.
Einige Tage später sitzten wir draussen bei Dirk II, verzehren Pizza und tauschen die allmählich aufkommenden intensiven Erinnerungen aus. Doch das Wichtigste, was heute Abend einhellig festgehalten wird, ist: „Stimmt es, daß es sein muß, ist für heute wirklich Schluß? Für heute ja, aber wir kommen wieder, keine Frage!”