aus Kradblatt 9/20 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Manche Begriffe brauchen eine Erklärung …

Im Verkehrsrecht gibt es viele Begrifflichkeiten und Ausdrücke, die sich dem nicht juristisch Vorgebildeten (aber gewiss auch manchem Juristen) nicht ohne Weiteres erschließen. Es gibt z. B. den Begriff des Fahrens auf „halbe Sicht“. Hierunter könnte man sich zunächst das Bewegen von Fahrzeugen bei Sichtbeschränkung durch Nebel, kräftigen Regen oder Schnee vorstellen. Dies ist aber weit weg von dem, was damit eigentlich gemeint ist. Die Wendung wird vielmehr bei den Geschwindigkeitsregeln der Straßenverkehrsordnung gebraucht und damit bei Vorschriften, die uns durchaus alle angehen.

Gemäß § 3 Absatz 1 Satz 1 Straßenverkehrsordnung gilt als allgemeine Grundregel, dass nur so schnell gefahren werden darf, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Nach Satz 2 ist die Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Satz 3 beschränkt die zulässige Geschwindigkeit bei wetterbedingten Sichtweiten unter 50 Meter auf maximal 50 km/h. Nach Satz 4 darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann. Laut § 3 Absatz 1 Satz 5 Straßenverkehrsordnung – und jetzt kommt das Fahren auf „halbe Sicht“ – muss auf Fahrbahnen, die so schmal sind, dass dort entgegenkommende Fahrzeuge gefährdet werden könnten, so langsam gefahren werden, dass mindestens innerhalb der Hälfte der übersehbaren Strecke gehalten werden kann. Wenn also die Straße recht eng ist (was sich aus Fahrbahnbreite des Gegenverkehrs plus Sicherheitsabstand von 1 m berechnet) und mit Gegenverkehr zu rechnen ist, muss man innerhalb der halben Sichtstrecke stoppen können. Ist z. B. bei Fahren auf einer ausreichend breiten Straße eine Geschwindigkeit von 50 km/h zulässig, weil 40 Meter Sichtweite bestehen, müsste man auf einer „Schmalspur“ das Tempo drosseln, um innerhalb von 20 Metern anhalten zu könnte. Legt man die Faustregel eines Anhaltewegs von 18 Metern bei gefahrenen 30 km/h zugrunde, dürfte auf der schmalen Strecke mit maximal etwa 30–35 km/h gefahren werden.

Auf schmalen Fahrbahnen ist daher das Tempo herabzusetzen, der Seitenabstand zum Gegenverkehr und etwaigen parkenden Fahrzeugen zu beachten und nach Möglichkeit nach rechts auszuweichen. Ist eine Vorbeifahrt trotz reduzierter Geschwindigkeit und Ausweichen nicht möglich, muss derjenige, dem es leichter fällt, bis zu einer Ausweichmöglichkeit (z. B. einer Parklücke) zurücksetzen, wo der andere passieren kann. Wer also gerade an einer denkbaren Ausweichstelle vorbeigefahren ist, müsste dorthin zurück (für Motorräder eher problematisch).

Folgen hat die Nichtbeachtung des Fahrens auf „halbe Sicht“ in erster Linie im Hinblick auf die Haftung bei Unfällen auf schmaler Straße. So kann die von einem Unfallbeteiligten nicht beachtete Geschwindigkeitsreduzierung auf einem Wald- oder Forstweg durchaus zu einer hälftigen Haftungsverteilung führen, auch wenn von dem Fahrzeug des Unfallgegners eine höhere allgemeine Betriebsgefahr ausgeht. 

Das Oberlandesgericht München (Urteil vom 07.07.2016, Aktenzeichen: 10 U 76/14) hat in einem Fall eines Radfahrers, der auf einem öffentlichen ca. 3 Meter breiten Wald- und Forstweg mit einem Traktor verunfallt war, ausgesprochen, dass sein Verstoß gegen das Fahren auf halbe Sicht ein Mitverschulden in Höhe von 50 Prozent rechtfertige. Der Radfahrer war mit einer Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h unterwegs und daher trotz Vollbremsung sowie Sturzes teilweise unter den Trecker geraten. Ihm wurde vorgeworfen, dass er entweder sein Tempo nicht dem Fahren auf „halbe Sicht“ angepasst oder den entgegenkommenden Verkehr nicht genügend beachtet und deshalb zu spät reagiert hätte. Der Verstoß des Radfahrers wurde als gleichwertig gegenüber der Gefährdungseignung des Traktors und einem leichten Versäumnis dessen Fahrers eingestuft. 

In einem hinsichtlich der Folgen ausgesprochen tragischen Fall einer jungen Motorradfahrerin, die auf einer etwas über 3 Meter breiten Straße mit einem (ja, schon wieder!) Traktor zusammengestoßen war, wodurch sie schwerst verletzt wurde, hatte das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (Urteil vom 29.11.2018, Aktenzeichen: 7 U 22/18) eine etwas andere Haftungsverteilung vorgenommen. Hier wurde ein beiderseitiger Verstoß gegen das Gebot des Fahrens auf „halbe Sicht“ festgestellt. Die Bikerin hätte statt etwa 60 km/h maximal 40 km/h fahren dürfen, der Traktorfahrer statt rund 40 km/h höchstens 30 km/h. Das landwirtschaftliche Fahrzeug war aber zusätzlich nicht weit genug und vor allem nicht rechtzeitig rechts gefahren. Es war festgestellt worden, dass der Anhänger des Gespanns erst im Moment der Kollision die Fahrbahn nach rechts verließ. Der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot zusammen mit dem nicht angepassten Tempo und der hohen Betriebsgefahr des Traktorgespanns ergab eine Haftungsverteilung von 70 zu 30 zu Lasten des Treckerfahrers. Die Abwägung der auf beiden Seiten begangenen Fahrfehler ergab die sachgerechte Quote.

Das Fahren auf „halbe Sicht“, also mit angepasster Geschwindigkeit auf (zu) enger Straße scheint auf den ersten Blick Zweiradfahrer nicht zu betreffen, weil diese in aller Regel erheblich schmaler sind als vierrädrige Fahrzeuge. Da manche „Engpässe“ aber auch von derart breiten Vehikeln befahren werden, dass selbst mit einem Motorrad kein problemloses Vorbeikommen möglich ist, sind die Regeln für solche Fälle ebenso für uns zu beachten. Unfälle mit derartigen Fahrzeugen sind selbst mit verhältnismäßig geringer Geschwindigkeit oft mit schweren Folgen für den „Schwächeren“ verbunden. Vorsicht bzw. „halbe Sicht“ kann dies vermeiden helfen.