aus Kradblatt 8/24 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Wer hat den Fehler gemacht?

Es kommt immer wieder zu Verkehrsunfällen beim Überholen von Fahrzeugen, die in ein Grundstück abbiegen. Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein hat mit Urteil vom 6.2.2024 (Aktenzeichen: 7 U 94/23) über den Fall eines Fahrers entschieden, der beim Rechtsabbiegen in ein Grundstück zuvor noch nach links ausholte.

Der Kläger fuhr mit seinem Pkw hinter dem Pkw des Beklagten. Letzterer wollte nach rechts in sein Grundstück abbiegen und verringerte dafür seine Geschwindigkeit, blinkte rechts und lenkte sein Fahrzeug zunächst etwas nach links zur Fahrbahnmitte hin. Der Kläger wollte den Pkw des Beklagten links überholen. Als sich die beiden Fahrzeuge etwa auf gleicher Höhe befanden, vollzog der zu Überholende mit seinem Fahrzeug einen weiteren sogenannten Linksschwenk – es kam zur Kollision. Streitig waren dabei die Geschwindigkeit des Pkw des Klägers und sein Seitenabstand zum Beklagtenfahrzeug. 

Der Kläger machte das Ausholen nach links als Ursache des Unfalls aus, der Beklagte erklärte, der Kläger habe bei unklarer Verkehrslage überholt. 

Das Landgericht Kiel hatte der Klage auf Grundlage einer Haftungsquote des Beklagten von 60 Prozent teilweise stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hin, kehrte das Oberlandesgericht diese Haftungsverteilung um: 60 Prozent zu Lasten des Klägers, 40 Prozent zu Lasten des Beklagten. Der Beklagte hatte gegen § 9 Absatz 5 Straßenverkehrsordnung (STVO) verstoßen, weil er sich beim Abbiegen in ein Grundstück nicht so verhalten hatte, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war, zudem wurde ein Verstoß gegen § 9 Absatz 1 Satz 2 STVO bejaht, da er sich nicht möglichst weit rechts eingeordnet hatte. 

Dem Kläger wurde demgegenüber vorgeworfen, dass er entgegen § 5 Absatz 4 a STVO sein Überholen nicht durch Blinken angekündigt und sich entgegen § 1 Absatz 2 STVO nicht so verhalten hatte, dass kein anderer geschädigt oder gefährdet wird. Der Kläger hatte zudem bei unklarer Verkehrslage überholt und damit auch gegen § 5 Absatz 3 Nummer 1 STVO verstoßen. Das Überholen war für ihn in der konkreten Situation unzulässig. 

Eine „unklare Verkehrslage“ liegt dann vor, wenn nach den Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht gerechnet werden darf. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ungewiss ist, wie sich der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer verhalten wird. Der Kläger hatte zuvor erkannt, dass besondere Vorsicht angezeigt war. Er hatte gesehen, dass der Beklagte sich schon zuvor nach links eingeordnet hatte. Der Kläger musste mit einem noch weiteren Ausholen nach links rechnen. Er konnte aufgrund der zuvor wahrgenommenen Unsicherheiten in der Fahrweise des Beklagten nicht von einem gefahrlosen Überholen ausgehen. Aufgrund des fehlerhaften Einordnens des Beklagten nach links war außerdem ungewiss, wie sich dieser weiter verhalten würde. Für den Kläger war danach eine unklare Verkehrslage gegeben, in der er nicht hätte überholen dürfen. Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein kam bei seiner erforderlichen Gewichtung der Verursachungsbeiträge zu einer überwiegenden Haftung des Klägers in Höhe von 60 Prozent und einer Mithaftung des Beklagten zu 40 Prozent. 

Beim Überholen eines Fahrzeugs, das in ein Grundstück abbiegt, ist daher große Vorsicht geboten. Man sollte stets genau schauen, wie sich der Abbiegewillige verhält und im Zweifel erst mal lieber nicht überholen. Dies mag für uns Motorradfahrer zunächst weniger ins Gewicht fallen, weil wir mit unserer Maschine in aller Regel weniger breit sind als ein Pkw und gegebenenfalls noch nach links ausweichen können. Wenn es bei einem solchen Überholen aber zur Kollision kommt, sind wir häufig auch gleich körperlich betroffen. Wenn uns dann noch die Hauptverantwortung trifft, sind wir quasi doppelt geschädigt. Daher: Lieber einmal abwarten als die Folgen eines etwas zu ungeduldigen Überholens tragen zu müssen.