aus Kradblatt 6/21 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
Telefon 0421-696 44 880 – www.janschweers.de

Freiwillig baut man doch keinen Unfall, oder?!

Wir alle haben eine gewisse Vorstellung davon, was ein Unfall ist. Aber kann von einem „Unfall“ gesprochen werden, wenn der schädigende Vorfall durch den Verunfallten selbst freiwillig verursacht worden ist? Das Oberlandesgericht (OLG) Dresden hatte mit Urteil vom 10.11.2020 (Aktenzeichen 4 U 1106/20) über diese Frage zu entscheiden.

Der Geschädigte hatte einen Pkw erworben und für diesen eine Kaskoversicherung abgeschlossen. Im Juli 2018 beschleunigte er beim Anfahren sein Fahrzeug stark und prallte frontal gegen einen Straßenbaum. Das Kraftfahrzeug erlitt einen Totalschaden, der Fahrer machte den Schadensbetrag bei seiner Kaskoversicherung geltend. Diese lehnte jedoch die Regulierung des Schadens ab, weil der Geschädigte den Unfall vorsätzlich in Selbsttötungsabsicht herbeigeführt hätte. Es handele sich daher nicht um einen „Unfall“ im Sinne der dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung. Der Betroffene erhob Klage. Das Landgericht (LG) wies die Klage ab, obwohl dem Fahrer keine Suizidabsicht nachgewiesen werden konnte. Das Gericht nahm zwar keinen Vorsatz, jedoch grobe Fahrlässigkeit an. Es wertete das Versäumnis, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, als so schwerwiegend, dass eine Leistungskürzung auf Null gerechtfertigt sei.

Das OLG Dresden sah dies jedoch anders. Es erklärte das Schadensereignis zu einem „Unfall“ im Sinne der Versicherungsbedingungen. Dabei ist es egal, ob die Kollision mit dem Straßenbaum vorsätzlich herbeigeführt wurde. Für einen Unfall ist es vielmehr entscheidend, dass der Schaden durch eine von außen plötzlich einwirkende mechanische Kraft herbeigeführt wird, wie es hier durch den Zusammenprall mit dem Baum gegeben war. 

Es gehört nicht zum Unfallbegriff im Sinne der Kraftfahrtversicherungsbedingungen, dass das Schadensereignis unfreiwillig eingetreten ist. Der Versicherer, der die Unfreiwilligkeit bestreitet, behauptet danach in Wirklichkeit eine vorsätzliche Herbeiführung eines Unfallschadens, wofür er dann aber auch die Beweislast trägt, d.h. die Versicherung müsste beweisen, dass der Vorsatz eines Unfallereignisses bestanden hätte. Dies ist im Fall des OLG Dresden nicht gelungen. Ein Anscheinsbeweis, bei dem das äußere Bild für einen typischen Hergang des Geschehens spräche, konnte der Versicherung nicht zugute kommen. Ein Suizid hängt zumeist so sehr von besonderen Lebensumständen, der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen und seiner augenblicklichen Gemütslage ab, die wiederum von irrationalen Momenten beeinflusst sein kann, dass von einem typischen Geschehensablauf niemals gesprochen werden kann. Die Versicherung war nicht in der Lage, einen Indizienbeweis für ein vorsätzliches Handeln zu erbringen. Das OLG Dresden konnte ebenso wie die Vorinstanz keine tragfähigen Anhaltspunkte für einen in Selbsttötungsabsicht verursachten Zusammenstoß mit dem Baum feststellen. Die vom LG herangezogene grob fahrlässige Herbeiführung des Unfalls kommt jedoch nach den eindeutigen Vereinbarungen im streitgegenständlichen Versicherungsfall nicht in Betracht, weil es in den Bedingungen der Kraftfahrtversicherung ausdrücklich hieß: „Wir verzichten in der Fahrzeugversicherung auf den Einwand der grob fahrlässigen Herbeiführung des Schadens“. Dem (freiwilligen) Unfallfahrer wurde daher ein Anspruch auf die begehrte Versicherungsleistung in voller Höhe zugesprochen.

Dass eine freiwillige Herbeiführung nicht maßgeblich für den Begriff des Unfalls ist, weil eine Beschädigung am Fahrzeug durch eine Gewalteinwirkung von außen genügt, ist mittlerweile in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt (so etwa OLG Karlsruhe, Urteil vom 24.06.2015, Aktenzeichen 12 U 421/14).

Eine Versicherung, die eine vorsätzliche Unfallverursachung vorträgt, muss diese danach auch nachweisen, z. B. durch Beweise für eine Suizidabsicht. Gelingt ihr dies nicht, hat sie für den Unfallschaden zu haften.

Es mag für manchen seltsam erscheinen, dass auch bei Freiwilligkeit eines Schadenseintritts von einem „Unfall“ ausgegangen werden kann, weil dies dem gängigen Vorstellungsbild widerspricht. Dies soll auch auf keinen Fall eine Aufforderung zur freiwilligen Verunfallung darstellen. Es zeigt sich aber, dass Gerichte, zumindest im Versicherungsrecht manches anders bewerten als der gemeine Bürger.