aus Kradblatt 5/24 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Ein höheres Risiko für Motorradfahrer?
Viele Kollisionen im Straßenverkehr sind völlig eindeutig. Ein Verkehrsteilnehmer ist einem anderen aufgrund Unachtsamkeit, z.B. durch Übersehen, Ablenkung oder Träumen ins Fahrzeug gefahren, ist völlig einsichtig sowie geständig und ein gutes Dutzend Augenzeugen können die Schuld bestätigen. Selbst die hinzugerufene Polizei erkennt das alleinige Verschulden des anderen, wenn auch erst, nachdem der Schuldige die Schuld auch ihnen gegenüber nochmals einräumt. Es wird die Versicherungsnummer übergeben, wenn benötigt kommt ein Abschlepper und alles Weitere regeln die Beteiligten oder besser deren Rechtsanwälte.
Manche Unfälle sind aber nicht so einfach zu bewerten. Bei diesen Kollisionen haben beide Beteiligte ihren Beitrag zum Zusammenstoß geleistet. Hier kommen dann die sogenannten Haftungsquoten ins Spiel. Dabei wird das Verschulden am Unfall prozentual auf die Unfallbeteiligten verteilt. Anhand der so gebildeten Haftungsquoten werden dann die jeweiligen Ansprüche unter den Beteiligten aufgeteilt. Die Höhe der jeweiligen Haftungsquote bemisst sich nach der Unfallsituation, wobei es auf den konkreten Einzelfall ankommt. Es ist grundsätzlich kein Unfall wie der andere. Bestimmte Konstellationen sind aber durchaus vergleichbar. Fleißige Personen haben deshalb eine Vielzahl an Entscheidungen von Gerichten gesammelt und in mehreren Werken nach der jeweiligen Verkehrssituation einsortiert, wodurch für den einzelnen Fall wenigstens ein (grober) Anhaltspunkt gefunden werden kann. Juristen oder allgemein Interessierte können hier wertvolle Orientierung erhalten.
Neben dem bereits angesprochenen Verschulden, welches bedeutet, dass ein im Straßenverkehr fehlerbegehender Fahrer dafür auch die Verantwortung tragen muss, gibt es noch die – hier titelgebende – Betriebsgefahr.
Die Betriebsgefahr ist schuldunabhängig und knüpft an die Gefährdung durch den Betrieb eines Kraftfahrzeugs an. Dem Fahren mit einem motorgetriebenen Gefährt wird ein gewisses Risiko unterstellt, das für den Halter und Fahrer allgemein eine Grundhaftung bildet. Diese ergibt sich aus §7 Absatz 1 Straßenverkehrsgesetz, der besagt, dass der Halter eines Kraftfahrzeugs, bei dessen Betrieb ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt wird, verpflichtet ist, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Diese allgemeine Betriebsgefahr tritt bei einem Unfall nur dann vollständig zurück, wenn es auch bei einem idealen Fahrverhalten zu dem Unfall gekommen wäre. Dies ist zumeist nicht leicht nachzuweisen. Bei Pkw wird die allgemeine Betriebsgefahr in aller Regel mit 20 Prozent angenommen. Bei Motorrädern wird aber häufig eine höhere Betriebsgefahr bejaht, die nicht selten mit 30 bis 40 Prozent beziffert wird. Als Gründe für die erhöhte Betriebsgefahr werden etwa die geringe Stabilität der Maschinen und die damit verbundene Sturzgefahr sowie die schlechtere Sichtbarkeit für andere Verkehrsteilnehmer angeführt.
Der Bundesgerichtshof hat aber mit Urteil vom 01.12.2009 (Aktenzeichen: VI ZR 221/08) klargestellt, dass keine erhöhte Betriebsgefahr gegeben ist, nur weil der Kradfahrer nicht durch eine Karosserie geschützt und deshalb „anfälliger“ für Schäden sei, da die Betriebsgefahr nach Schäden bewertet wird, die Dritten (also einem möglichen Unfallgegner) drohen. Eine Erhöhung der Betriebsgefahr wegen der aus der Instabilität des Motorrades resultierenden Sturzgefahr kommt nur in Frage, wenn und soweit sich dies nachweislich als Unfallursache ausgewirkt hat. Die Betriebsgefahr ist keine feststehende Größe, es kommt wiederum auf den Einzelfall an.
In einem Rechtsstreit, den schließlich das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht entschieden hatte (Urteil vom 08.12.2010, Aktenzeichen: 7 U 58/10), hatte das Landgericht Kiel zum Beispiel aufgrund der Bauart und der Beschleunigungsfähigkeit des Krads eine einfache Betriebsgefahr von 20 Prozent angerechnet, was prinzipiell nicht beanstandet wurde. Allerdings hatte die Vorinstanz nicht beachtet, dass die Gegenseite eine grobe Vorfahrtsverletzung begangen hatte, die zur Kollision führte, während der Motorradfahrer sich völlig korrekt verhielt. Das Oberlandesgericht erklärte, dass in jenem Fall die einfache Betriebsgefahr gegenüber der Verschuldenshaftung des die Vorfahrt nicht Beachtenden vollkommen zurücktritt. Ansonsten würde eine grundsätzliche Mithaftung ausgesprochen, was nicht rechtens sei.
Die allgemeine Betriebsgefahr entfällt völlig, wenn der Unfall für den betroffenen Fahrer unabwendbar gewesen ist. Dies bedeutet, dass die Kollision nicht hätte vermieden werden können.
Nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 28.04.2006 (Aktenzeichen: 12 U 61/05) ist zum Beispiel für einen Motorradfahrer, dem auf seiner Fahrspur ein Pkw aufgrund einer abrupten Lenkbewegung entgegenkommt, ein Zusammenstoß unvermeidbar, wenn für ihn keine Reaktionszeit verbleibt. Dass ein Unfall unabwendbar war, muss allerdings von demjenigen bewiesen werden, der sich darauf beruft. Hierbei kommen oft Sachverständige ins Spiel, die einen Unfall bis ins Kleinste analysieren und auch die Frage der Unvermeidbarkeit beantworten.
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