aus Kradblatt 4/25 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Mitschuld trotz Vorfahrt …

Man kann lange darüber philosophieren, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Im Ergebnis ist das auch völlig egal. Anders ist es bei der sogenannten halben Vorfahrt. Ist nämlich die Vorfahrt einer Kreuzung nicht besonders geregelt, so gilt für jeden, der sich dieser Kreuzung als Verkehrsteilnehmer nähert, dass er zwar gegenüber dem von links kommenden Verkehr vorfahrtsberechtigt, jedoch gegenüber dem von rechts kommenden Verkehrsteilnehmer wartepflichtig ist. Er muss hierfür mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich darauf einstellen, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, dies geht aus § 8 Abs. 2 S. 1 der Straßenverkehrsordnung hervor. Überschreitet der Vorfahrtsberechtigte zwar nicht die zulässige Höchstgeschwindigkeit, jedoch die im Rahmen der örtlichen Verhältnisse gebotene Annäherungsgeschwindigkeit, kann ihn also eine Mithaftung treffen. 

Über einen solchen Fall hatte das Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 12.10.2022, Az. 1 6U194/21 zu entscheiden. Die Klägerin befuhr beim streitgegenständlichen Fall mit ihrem Pkw eine Straße innerorts mit einer Tempobeschränkung auf 30 km/h. Sie fuhr auf eine ungeregelte unübersichtliche Kreuzung zu. Aus ihrer Sicht von links kam ein weiterer Pkw. Die beiden kollidierten im Bereich der Kreuzung. Die Klägerin verlangte vom Beklagten den vollen Schadensersatz, sie hielt den Unfall für ein für sie unabwendbares Ereignis („Idealfahrerin“). Der Beklagte vertrat die Ansicht, aufgrund der sogenannten halben Vorfahrt habe die Klägerin teilweise für seinen Schaden einzustehen. Er behauptet, die Klägerin habe den Unfall aufgrund deutlich überhöhter Geschwindigkeit mitverursacht. Sie sei schließlich zu schnell in die Kreuzung eingefahren. 

Das zuständige Landgericht hat ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten eingeholt. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Kollisionsgeschwindigkeit zwischen 23 und 35 km/h gelegen habe, die Klägerin jedoch auf keinen Fall die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h überschritten hätte. Er kam aber auch zu dem Ergebnis, dass sie es bei einer Geschwindigkeit von 16 km/h mit einer normalen Bremsung geschafft hätte, auf ein ggf. von rechts kommendes Fahrzeug, dem sie hätte Vorfahrt gewähren müssen, zu reagieren. Bei einer Geschwindigkeit von 8 km/h hätte die Klägerin die Straße sogar vollständig einsehen und noch vor der Kreuzungsmitte mühelos anhalten können. Das Landgericht verurteilte den Beklagten, der die rechts vor links Vorfahrt gewähren musste, zu vollem Schadensersatz. Die Klägerin hatte folglich die erste Instanz gewonnen.

Der Beklagte war damit nicht einverstanden und ging in Berufung. Das Oberlandesgericht Köln entschied, dass die Klägerin bei der von ihr eingehaltenen Geschwindigkeit von 21–24 km/h, ihr Fahrzeug bei einem von rechts nähernden Verkehrsteilnehmer nur mit einer Vollbremsung hätte zum Stillstand bringen können. Bei einer Geschwindigkeit von 16 km/h hätte es die Klägerin hingegen geschafft, mit einer normalen Bremsung bis zur Kreuzungsmitte anzuhalten und auf ein von rechts kommendes Fahrzeug zu reagieren. Bei einer Geschwindigkeit von 8 km/h hätte die Klägerin die Straße vollständig einsehen und noch vor der Kreuzung mühelos anhalten können. 

Das Oberlandesgericht befand zwar, dass die Klägerin nicht nur 8 km/h hätte fahren dürfen, da somit ihre Sorgfaltsanforderung überspannt würde. Es kam jedoch zur dem Ergebnis, dass die Klägerin eine Annäherungsgeschwindigkeit von 16 km/h aufgrund der halben Vorfahrt nicht hätte überschreiten dürfen. Die Klägerin hatte sich folglich nicht wie eine Idealfahrerin verhalten. Letztendlich kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Klägerin an dem Unfall einen Verursachungsbeitrag von 25% hat. Die Klägerin bekam aufgrund der halben Vorfahrt nur 75% ihres Schadens ersetzt. 

Achtet im Straßenverkehr mal darauf, wie ihr euch selbst, speziell an euch bekannten Kreuzungen, verhaltet. Bei einer Kreuzung mit Rechts-vor-Linksregelung verlangt man nämlich von euch, dass ihr – unabhängig von der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit – so langsam auf die Kreuzung zufahrt, dass ihr einer dritten Person, die von euch aus gesehen von rechts kommt, Vorfahrt gewähren könnt, ohne dass ihr sie gefährdet.