aus Kradblatt 2/25 von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Was darf man wann von Kindern erwarten?

Selbstverständlich will keiner von uns in einen Verkehrsunfall verwickelt werden. Noch weniger möchte man mit minderjährigen Radfahrenden kollidieren. Bei einem solchen Zusammenstoß gibt es Besonderheiten aufgrund des Alters des kindlichen Unfallgegners. Das Oberlandesgericht Celle hat dies mit Urteil vom 11.10.2023 (Aktenzeichen: 14 U 157/22) verdeutlicht.

Der zum Unfallzeitpunkt 12 Jahre alte, durch seine Eltern vertretene Kläger, befuhr am Unfalltag eine Straße. Die beklagte Pkw-Fahrerin fuhr auf derselben Straße. Als der Minderjährige mit seinem Fahrrad ohne anzuhalten die Straße überquerte, kam es zur Kollision, durch die der Kläger weit durch die Luft geworfen und durch den Aufprall lebensgefährlich verletzt wurde. 

Die Krafthaftpflichtversicherung der Autofahrerin lehnte außergerichtlich eine Regulierung der Schäden des Jungen ab. Das in erster Instanz zuständige Landgericht gab in seinem Urteil der Klage zu einem überwiegenden Teil statt und legte eine Haftungsquote in Höhe von 60 Prozent zu Lasten der Beklagten fest.

Das Oberlandesgericht Celle änderte im Berufungsverfahren die Haftungsquote auf 1/3 – also 33,33 Prozent – zu Lasten der Pkw-Fahrerin. Es bestätigte, dass die Beklagte zu haften habe, da sich der Unfall bei dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs ereignet hat. Richtig war ebenso, dass den jungen Radfahrer ein Mitverschulden traf. Das Oberlandesgericht konnte dagegen kein Verschulden der Beklagten feststellen. 

Dem Kind wurde ein Verstoß gegen § 10 Satz 1 Straßenverkehrsordnung angelastet, nach dem derjenige, der von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren oder vom Fahrbahnrand anfahren will, sich dabei so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies gilt nach dem Oberlandesgericht auch für denjenigen, der vom Radweg auf einem Fußgängerüberweg auf die Fahrbahn einfährt. 

Der Zwölfjährige war ohne anzuhalten und sich umzuschauen auf die Fahrbahn gefahren und hatte es dabei versäumt, die Gefährdung des fließenden Verkehrs auszuschließen. Das geringe Alter des Klägers war hierbei von untergeordneter Bedeutung, da sich Jugendliche über zehn Jahre eine Anspruchskürzung gefallen lassen müssen, wenn sie ein Mitverschulden trifft, es sei denn, sie hatten bei der Begehung der schädigenden Handlung noch nicht die erforderliche Einsicht. Der Kläger hatte nach Auffassung des Oberlandesgerichts die erforderliche Einsichtsfähigkeit, die Gefährlichkeit seiner Handlung zu erkennen. Die Regelungen zum Überqueren von Fahrbahnen gehören zu den Verkehrsvorschriften, die ein zwölfjähriges Kind, welches mit seinem Fahrrad am öffentlichen Straßenverkehr teilnimmt, beherrschen sollte. Etwas Abweichendes ergab sich im vorliegenden Fall nicht. 

Die Beklagte konnte sich auf den Vertrauensgrundsatz berufen, der auch gegenüber Kindern gilt. Sie musste nicht damit rechnen, dass ein älteres Kind auf dem Fahrrad einen Fußgängerüberweg ohne vorheriges Anhalten und Umschau überqueren würde. Ein unfallursächliches Verschulden der beklagten Autofahrerin verneinte das Oberlandesgericht Celle, sodass bei ihr allein die Betriebsgefahr ihres Pkw, die gegenüber dem Fahrrad des Klägers höher ist, zu berücksichtigen ist. Unter Einbeziehung des deutlich erhöhten Verantwortungsanteils des Minderjährigen kam das Oberlandesgericht unter Beachtung des Alters des Klägers bei der Haftungsabwägung zu einer Verteilung von 1/3 zu 2/3 aus Sicht der Beklagten.

Das Oberlandesgericht Celle hat klargestellt, dass sich auch einsichtsfähige Kinder ab einem gewissen Alter an die Verkehrsregeln halten müssen, da sie sonst eine wesentliche Mithaftung – hier sogar die überwiegende Haftung – trifft. Das Alter des Minderjährigen führte zu einer Berücksichtigung der Betriebsgefahr des Pkw, die gegenüber einem vergleichbaren Verkehrsverstoß eines Erwachsenen gewiss vollständig zurückgetreten wäre.

Unfälle mit Kindern weisen in der Regulierung einige Besonderheiten auf, sodass wir – neben der grundsätzlichen altersbedingten Rücksichtnahme – auch aus Haftungsgründen noch mehr auf Minderjährige im Straßenverkehr achtgeben sollten!