aus Kradblatt 11/18
von Rechtsanwalt Jan Schweers, Bremen
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Eigentlich hat der Auffahrende Schuld…

Da das Verkehrsaufkommen auf unseren Straßen immer weiter steigt, werden wir uns wohl daran gewöhnen müssen, vermehrt Zeit im Stau zu verbringen. Das lässt sich kaum umgehen.Kommt es im Stau noch zu einem Verkehrsunfall, müssen wir noch mehr Zeit mitbringen. 

Grundsätzlich haftet, auch im Falle eines Staus und des sogenannten Stop-and-go-Verkehrs, derjenige, der einem anderen hinten auffährt. Einen ganz besonderen Fall hatte indes das Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 03.05.2018, Geschäftsnummer 4 RBs 117/18 zu entscheiden. 

Auf der Autobahn herrschte Stau und auf der rechten Fahrspur befand sich ein LKW. Von rechts, dem Beschleunigungsstreifen, kam ein Fahrzeug, das sich natürlich auf den rechten Fahrstreifen einordnen wollte. Der Fahrer scherte vor dem Lkw ein. Aufgrund des Staus konnte er jedoch den Wechselvorgang nicht vollständig abschließen, sodass sein Fahrzeug teilweise auf dem Beschleunigungsstreifen und teilweise auf der rechten Fahrspur stand. Als der Verkehr dann wieder anrollte, fuhr natürlich auch der LKW-Fahrer an und stieß dabei mit dem teilweise auf seiner und teilweise auf dem Beschleunigungsstreifen haltenden Fahrzeug zusammen.

Ich werdet sicherlich sagen: „Warum hat er denn nicht seine Augen aufgemacht, dann hätte er doch das vor ihm haltende Fahrzeuge sehen müssen und es wäre nicht zur Kollision gekommen.“ Einfacher gesagt als getan. Schließlich bestehen aus einem LKW heraus nach unten ganz andere Sichtverhältnisse, als von einem Motorrad oder aus einem PKW heraus. 

Das Oberlandesgericht Hamm legte das Wort „Vorfahrt“ dahingehend aus, dass man nur Vorfahrt haben kann, wenn man in Bewegung ist. Ansonsten kann man nicht von einer Fahrt sprechen. Steht hingegen der Verkehr auf einer durchgehenden Fahrspur, gibt es keine Vorfahrt mehr. 

D.h. jedoch noch nicht, dass man grundsätzlich, wenn man kurz zum Halten kommt und jemand anderes dann auf die eigene Fahrspur fährt, keine Vorfahrt mehr hat. Erst wenn nicht damit zu rechnen ist, dass in kürzester Frist die Fahrt fortgeführt wird, kann man, so das Oberlandesgericht Hamm, sein Vorfahrtsrecht gemäß § 18 Abs. 3 Straßenverkehrsordnung nicht mehr geltend machen. 

In § 18 Abs. 3 der Straßenverkehrsordnung heißt es: Der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hat Vorfahrt. Folglich muss man, wenn man bei einem Stau auf seiner Fahrspur zum Stehen kommt, schon nach rechts oder links gucken und andere Fahrzeuge, die eventuell auf die Fahrspur wechseln wollen, beachten. Ansonsten kommt eine Mithaftung in Betracht und man bekommt nicht seinen gesamten Schaden erstattet.

Natürlich muss der Fahrzeugführer, der in einer solchen Situationen auf die Fahrbahn einer Autobahn auffahren will, das sogenannte Rücksichtnahmegebot des §§ 1 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung beachten. Hierin heißt es: Jeder Verkehrs­teilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. D.h., wenn man vom Beschleunigungsstreifen auch bei einem Stau auf die Autobahn auffahren will, muss man gucken, dass niemand anderes gefährdet wird. Man sollte daher mit dem Fahrer des anderen Fahrzeugs, der einen eventuell vorlässt, Sichtkontakt aufnehmen. Ist das nicht der Fall, sollte man nicht einfach bei einem Stau links rüberfahren. Eventuell hat der andere Fahrer einen aufgrund des sogenannten toten Winkels nicht wahrnehmen können. 

Im vorliegenden Fall verwies das Oberlandesgericht Hamm den Rechtsstreit an das Amtsgericht zurück. Dieses sollte aufklären, ob sich der LKW eventuell zum Zeitpunkt des Fahrspurwechsels noch in Bewegung befunden hat und ob eventuell das andere Fahrzeug, das auf seine Fahrspur auffahren wollte, so dicht vor dem Sattelzug auf den rechten Fahrstreifen aufgefahren ist, dass der LKW-Fahrer ihn gar nicht hätte sehen können. 

Insgesamt ein sehr interessantes Urteil, das uns auch aufzeigen soll, dass wir das erhöhte Verkehrsaufkommen nur bei ständiger gegenseitiger Rücksichtnahme bewerkstelligen können. Wer dazu nicht in der Lage ist, sollte lieber von der Teilnahme am Straßenverkehr Abstand nehmen.